SEIDENRAUPEN FÜR CAPRI -
VON ANDREAS DONATH
ERSTES KAPITEL
Arnold hatte niemals Lust
aufzuwachen, wenn er geweckt wurde. Egal, wann er ins Bett gefunden hatte, zum
Aufstehen war es immer eine dreiviertel Stunde zu früh. Das erholsamste Stück
des Nachtschlafs hätte noch vor ihm gelegen, aber jetzt wurde er durch ein
beharrliches Pochen an seine Hotelzimmertür daraus vertrieben. Wer wußte
überhaupt, daß er hier war, in der jüngsten Sonderwirtschaftszone Chinas? Von
draußen wurde heftiger gegen die Holztür geklopft. Sein Herz begann zu rasen.
Ein Ausländer in China mußte immer mit dem Schlimmsten rechnen.
"Feldmann!" rief eine
forsche Stimme auf Deutsch, "sind Sie da?"
"Komme!" brüllte er
durch das Zimmer, erleichtert, daß es nicht der Staatssicherheitsdienst war.
Arnold fuhr sich schnell mit den
Fingern durch die Haare. Als er die Tür öffnete, drängte sich ein Mann herein,
den er gestern erst am deutschen Stammtisch des Hotels kennengelernt hatte.
"Schwierigkeiten mit dem Aufstehen?"
grüßte der frühe Gast leutselig.
Sein Besucher war
Ministerialdirektor Wehrmeyer, der aus dem
Zollreferat des Bonner Finanzministeriums nach China entsandt worden war, um
den hiesigen Zoll über moderne Fahndungstechnologie zu unterrichten. Ein
athletischer, kontaktfreudiger Mann, der draufgängerisch und zugleich gewinnend
wirkte. Sein Haar war angegraut, ohne ihn alt aussehen zu lassen.
"Es war spät geworden,
gestern Abend," entschuldigte sich Arnold. Sein Kopf war noch zugeschnürt
von den endlosen Getränkerunden am gestrigen Stammtisch der Deutschen. Das Alter,
das beginnende Alter, forderte seinen Tribut. Die meisten anderen waren jünger
gewesen, Ingenieure auf Montage-Projekten oder leitende Mitarbeiter von
deutsch-chinesischen Joint Ventures. Arnold, der nur
ein paar Tage Zwischenhalt machte, war als Bankbeamter ein willkommener Gast an
ihrem Stammtisch gewesen. Er hatte einige Runden Bier ausgegeben und sich offen
an den Gesprächen des Abends beteiligt, bei denen es um die Wachstums-Chancen
im China-Geschäft ging.
"Sie sind Mitarbeiter des
BMZ, nicht wahr?" wollte der anscheinend gut ausgeschlafene Beamte von
Arnold wissen.
"Nicht direkt. Ich bin bei
der Hausbank des Entwicklungsministeriums."
"Ihre Bank sitzt in Köln,
und Sie fliegen morgen nach Deutschland zurück? Habe ich das richtig mitbekommen?"
"Ja. Warum?"
"Ich habe einen Anschlag auf
Sie vor. Ich bin da einer Sache auf der Spur, zu der ich die Meinung eines
China-Kenners hören möchte."
"Ich weiß nicht," sagte
Arnold überrascht. Daß jemand von sich aus seinen Rat hören wollte, kam fast
niemals vor, obwohl er dafür recht gut bezahlt wurde.
"In einer Viertelstunde am
Frühstücksbüffet?"
Wehrmeyer ging, einen Anflug von guter
Laune hinterlassend. Er war der seltene Typ eines dynamischen Beamten, der es
vielleicht bis zum Staatssekretär oder Minister bringen würde. Es war
beruhigend, daß Deutschland solche Männer hatte.
Arnold zerrte den dunklen
Fenstervorhang zurück. Gleißendes Licht brach in den Raum. Der Meerwind trieb
hoch aufgetürmte Wolkenballen in das Mündungsdelta des Perlflusses. Im siebzehnten
Stock des Hotels befand er sich fast in Anflughöhe der Monsunwolken. Ihr
Aufmarsch wirkte gefährlich, wie die Androhung von Wolkenbrüchen und Überschwemmungen,
Chinas uralter Geißel.
Als Arnold aus dem Lift trat, sah
er Wehrmeyer schon in der Lobby stehen.
"Ich dachte, wir gehen ein
paar Schritte an die Luft," schlug der Beamte vor.
Ein Hoteldiener riß ihnen die Tür
auf. Es gab einen breiten gefliesten Gehweg neben der vierspurigen Autostraße.
"Ist Ihnen schon
aufgefallen," fragte Wehrmeyer, "daß man
hier mehr BMWs der Siebener Klasse sieht als Dreier?"
"Was mir auffällt, ist, daß
die meisten das Lenkrad rechts haben, wie in Japan oder Hongkong, aber China
hat Rechtsverkehr, und da sitzt der Fahrer links, wie bei uns."
"Gut beobachtet. Was
schließen sie daraus?"
"Luxuswagen sind in Hongkong
so teuer, das es kein Geschäft ist, sie nach China zu reexportieren."
"Nicht, wenn man sie bei der
Werksniederlassung kauft. Es gibt Banden in Hongkong, die darauf spezialisiert
sind, Luxuswagen zu stehlen und mit Schnellbooten nach China zu bringen.
Seitdem ich hier neue Nachtsichtgeräte angeschafft habe, gehen uns immer mehr
Schleichhändler ins Netz."
"Was machen Sie mit den
erbeuteten Wagen?"
"Da sitzt des Pudels Kern.
Nach hiesigen Vorstellungen ist Schmuggelware herrenlos. Die Wagen werden auf
einem bewachten Parkplatz gesammelt, und von Zeit zu Zeit an einen begrenzten
Kreis von Parteifreunden versteigert. Die greifen sich einen Siebener-BMW für einen Appel und
ein Ei."
In diesem Augenblick hielt ein
dunkelblauer VW-Schanghai vor ihnen am Straßenrand.
Der Fahrer hupte kurz.
"Das ist mein Dienstwagen.
Er holt mich immer ab, obwohl es nur acht Minuten zu Fuß sind. Würde es Ihnen
etwas ausmachen, mich nachher im Hauptzollamt zu besuchen? Dann setzen wir unser
Gespräch fort. Wissen Sie, wo es ist?"
"Ich denke, ja."
Wehrmeyer öffnete die hintere Wagentür und
zwängte sich auf den Rücksitz. Der Fahrer hupte wieder und stieß in den laufenden
Verkehr hinein, ohne den Blinker zu betätigen.
Arnold faltete seinen Stadtplan
auseinander und suchte nach dem Weg zum Meeresufer, weil er den Seewind im Gesicht
spüren wollte, um sich auszunüchtern. Das Meer war dunstverhangen.
Er fand zwischen verfallenden Bunkeranlagen einen Fußpfad zu einer Felsgruppe,
an der die graubraunen Wellen klatschend aufprallten. Der Gischt roch mehr nach
Moder als nach Salz. Der typische Verwesungsgeruch tropischer und subtropischer
Meere, den kein Fernreiseprospekt beschrieb.
Was für einen Grund hatte die
deutsche Regierung, dem chinesischen Zoll Entwicklungshilfe zu leisten? Einem
autoritären Staat, der sich das Massaker vom Tian Anmen und die Verfolgung religiöser Glaubensgemeinschaften
leistete?
Der Gedanke an sein Frühstück
trieb ihn zurück auf die Hauptstraße. Er fand ein nicht zu überfülltes
Restaurant mit großen Fensterscheiben und hohen Decken, unter denen sich Ventilatoren
drehten. Der Kellner wies Arnold einen Platz an einem großen runden
Fenstertisch zu, an dem schon zwei alte Herren saßen.
Er bestellte eine Kanne Tee und eine
Schüssel Reissuppe mit Hühnerfleisch. Die beiden Alten an seinem Tisch waren
starke Raucher, aber sie bemühten sich, den Qualm nicht in seine Richtung wehen
zu lassen. Er betrachtete ihre Gesichter: verrunzelte Haut, eingeschrumpfte
Lippen, nur noch vereinzelte, nikotingebräunte Zähne, kurzgeschnittenes schütteres
weißes Haar. Er schätzte ihr Alter auf über achtzig. Ihnen wurde das Essen
zuerst serviert, dampfend heiße Tonschüsseln, gefüllt mit grauen Klumpen, dazu
eine Flasche sechzigprozentigen Branntweins mit zwei winzig kleinen
Stielgläsern. Der Alte, der weiter von ihm entfernt saß, drehte den Metallverschluß
der Flasche auf und bemühte sich, trotz seiner ständig zitternden Finger beim
Eingießen keinen Tropfen zu verschütten. Dann führten sie mit ihren Eßstäbchen
die warme Speise an den Mund. Es waren Schweinefüße, die sie genußvoll benagten
und ablutschten.
Hirseschnaps und gedämpfte
Schweinefüße zum Frühstück. Sonst nichts. Wahnsinn, dachte er, sie holen sich
ja den Tod. Und dann sah er mit großer Klarheit, daß diese beiden lebenslustigen
Greise ja nichts anderes mehr vor sich hatten. Ihre Sanduhren waren leergelaufen,
ihre Lebenszeit tief in die roten Zahlen geraten. Nichts konnte sie mehr
hindern, sich endlich das zu leisten, was ihnen wichtig war, nach Jahrzehnten,
angefüllt mit den Risiken des Bürgerkriegs, des Zweiten Weltkriegs, des Großen
Sprungs Vorwärts, der Kulturrevolution und der Wirtschaftsreform. Alles das hatten
sie hinter sich, und vor ihnen standen jetzt der Hirseschnaps, die Schweinsfüße
und nach dem Essen eine Bank am Meeresufer, von der aus man stundenlang den Bewegungen
der Wellen, der Möwen und der Frachtdschunken zuschauen konnte, die es schon
seit Jahrtausenden gab, und die es immer noch geben würde, wenn die Bank eines
Tages leer blieb.
Inzwischen war auch sein Essen
gekommen. Er prostete seinen Tischnachbarn mit dem Teebecher zu, und sie erwiderten
seinen Gruß, als teilten sie mit ihm ein geheimes Einverständnis.
Er bewunderte sie, weil sie in
seinen Augen das Richtige taten. Er war bestimmt eine Generation jünger als
sie. Aber sollte er noch dreißig Jahre warten, um spontan etwas Unvernünftiges
zu tun? Etwas, das die Erfüllung aller seiner uneingestandenen Wünsche sein
könnte? Seinem Leben neuen Sinn gab? Besaß er überhaupt noch einen
Lebens-Traum, abgesehen davon, Business Class zu
fliegen und einen reservierten Firmenparkplatz vorzufinden? Vielleicht war sein
eigentliches Ich schon teilweise abgestorben, wie das Gewebe bei einem Herzinfarkt,
abgeschnürt durch die Rücksichtnahme auf Karriere und Gesellschaft. Aber sein
berufliches Vorwärtskommen war längst zum Stillstand gelangt, und er haßte es,
in einer Firma zu arbeiten, in der über allem der Gestank veruntreuten Geldes
lag, wie Verwesungsgeruch. Er hatte einen jüngeren Kollegen, der ein genialer
Hacker war und sich den Spaß machte, den Lebenslauf von Entwicklungsgeldern von
Konto zu Konto zu verfolgen, bis er vor Wut die Maus an die Wand warf. Ausrichten
konnte er mit seinem Wissen nichts. Der ganze Apparat lebte davon, das Falsche
richtig zu tun. Arnold hatte sich eine Nische geschaffen, in der er sich nicht
die Hände schmutzig machen mußte. Aber Leben konnte man das nicht nennen. Nur
Vegetieren. Sein ungelebtes Leben lief ziellos vor
ihm her. Dabei gehörte es ihm. Es hatte ein Recht auf ihn.
"Zai
jian," sagte er zu den vergnügten Greisen,
"wir sehen uns wieder."
Es waren nur noch zwei
Straßenblocks bis zu Wehrmeyers jetzigem Amtssitz.
Eine sehr breite Freitreppe führte zum Hauptzollamt empor. Dort sah er sie.
Eine junge Frau in einem eleganten gelben Seidenkleid. Sie stand zwei oder drei
Stufen über ihm, so daß ihre forschenden Augen die gleiche Höhe hatten wie
seine. Sie trug einen weitrandigen, weißen Sonnenhut, wie Arnold ihn zuletzt an
seiner Mutter gesehen hatte, als sie noch eine junge Frau und er ihr einziges
Kind gewesen war. Der Hut war nicht aus Stroh geflochten, er war mit einem halbtransparenten
weißen Gewebe bespannt, das keinen Schlagschatten über ihre Züge warf, sondern
sie gleichmäßig ausleuchtete, wie der weiße Schirm eines Modefotografen. Alles
an ihr wirkte apart: die runde Stirn, die schmalen Backenknochen, die lange
Nase, der breite Mund, das ausgeprägte Kinn und die tiefschwarzen Pupillen,
deren Blick in sein Bewußtsein einzudringen und ihn gleichzeitig zum Dialog
einzuladen schien. Er schaute auf ihr Gesicht unter dem Sonnenhut, und ihre
Anmut überwältigte ihn.
"Kann ich Ihnen behilflich
sein?" fragte sie mit einer kräftigen wohllautenden Stimme, die geschult
klang, wie die einer Schauspielerin.
"Ich habe einen
Wunsch," fing er an. Alles, was er eben noch gewollt hatte, war unwichtig
geworden. Wehrmeyer konnte er später treffen. Er
hatte jetzt nur noch das Ziel, seine Augen nie wieder vom Gesicht dieser
Unbekannten loszureißen, und das hieß, den Augenblick der Trennung möglichst
weit hinauszuschieben.
"Ich bin hier fremd,"
sagte er. "Ich habe noch nicht gegessen. Können Sie mir ein Restaurant
empfehlen und mir beim Essen Gesellschaft leisten, wenn Sie Zeit haben?"
"Sie sind Deutscher, nicht
wahr?"
"Kann man das hören?"
"Ich achte auf die Kleidung.
Deutsche tragen meistens hellblaue Hemden."
Er blickte an sich hinab. Sie
hatte recht.
"In diesem Teil der Stadt
Gegend kenne ich mich nicht aus," erklärte sie, "Wo ich gerne bin,
ist im Park "Sterne und Meer." Dort könnten wir hinfahren."
Als sie auf den nächstgelegenen
Taxistand zugingen, kam eine junge Frau in auffallend schmutzbeflecktem Kleid
mit einem Baby auf dem Arm auf sie zugestürzt und schrie: "Gei qian, gei qian - gebt Geld."
Eine Anzahl weiterer Bettler
tauchte in Sekundenschnelle hinter ihr auf.
"Wo bu
schi ni de wawa de baba - ich bin nicht der
Vater deines Babys," herrschte er die Bettlerin an und schüttelte die Hand
ab, die nach seinem sauberen Hemd griff. Er wollte auf keinen Fall vor seiner
schönen Begleiterin als naiv-sentimentaler Ausländer dastehen. Sie war in ihrem
frisch gebügelten gelben Seidenkleid einen Schritt zurückgewichen.
"Sterne und Meer,"
fragte er den Taxifahrer, "wieviel?"
"Dreihundert," sagte
der Fahrer.
"Fünfzig," erwiderte
er.
"Zweihundertfünfzig. Sie
finden niemanden, der Sie für weniger fährt."
"Gehen wir zu einem anderen
Taxistand," wandte er sich an seine Begleiterin. Er umfaßte schützend
ihren linken Oberarm und zog sie mit sich. Die Bettler standen noch immer zusammen
und stießen bedrohlich klingende Rufe aus. Nach vielleicht hundert Metern - er
hatte ihren Arm wieder losgelassen - sagte sie: "Da vorn ist der
Busbahnhof. Wir können mit dem Autobus hinfahren."
Sie kletterten in einen fast
leeren Aluminiumbus, dem die Fenster fehlten und setzten sich auf eine rissige
Plastikbank. Er überließ ihr den Fensterplatz, um gleichzeitig sie und die Welt
draußen betrachten zu können.
"Was wollten Sie auf dem
Zollamt?" fragte sie.
"Ich habe dort einen
Freund."
"Sind Sie
Exportkaufmann?"
"Ich arbeite für eine
Bank." Er überreichte ihr seine Visitenkarte. Das Signet seiner Bank war
ihr unbekannt, aber die Deutschland-Adresse gefiel ihr. Seinen Namen Arnold Feldmann
las sie korrekt vor, aber die Worte "Volkswirtschaftliche Abteilung"
konnte sie nicht aussprechen. Er erklärte ihr, daß er nichts mit Exportfinanzierung
zu tun habe, sondern Berater für Auslandsinvestitionen sei und Joint Ventures betreue. Dabei verschwieg er, daß sein Ressort
hauptsächlich Daten zur Wirtschaftsentwicklung sammelte, um Konjunkturprognosen
zu erstellen. In manchen asiatischen Staaten waren solche Aktivitäten
unbeliebt, ja sogar strafbar.
Die Visitenkarte, die sie aus
ihrer kleinen Geldtasche zog, sah mit ihrer erhaben auflackierten Schrift viel
wertvoller aus als seine. Sie hieß Zhang Meilan und
war - so las er - Exportmanagerin bei "Universal Silk",
einer Textil- und Modefirma. Er war überrascht, denn er hatte sie für eine
Sprachstudentin gehalten, die im Gespräch mit ihm ihre Englischkenntnisse aufbessern
wollte.
"Zhang," fragte er,
"das ist Ihr Familienname?"
"Ja." Sie lächelte ihn
belustigt an, denn ihr war klar, daß er in Wirklichkeit wissen wollte, ob sie
tatsächlich die Person war, zu der diese Visitenkarte gehörte.
Er drehte die Visitenkarte um.
Sie war auf der Rückseite mit chinesischen Schriftzeichen bedruckt.
"Können Sie das lesen?"
fragte sie.
"Meilan,"
riet er, "ist der Name einer Blume."
"Sehr gut," bestätigte
sie.
"Sie sind weit schöner als
jede Blume."
Sie lächelte selbstzufrieden ohne
etwas zu erwidern. Er drehte die Karte zurück auf die englische Seite.
"Was stellt Ihre Firma
her?"
"Damenmode. Wir entwerfen
eigene Kollektionen, die wir in alle wichtigen Länder liefern. Und wir
übernehmen Auftragsproduktionen für Modehäuser in Italien." Sie hob kokett
den Saum ihres gelben Seidenkleides an.
"Gefällt Ihnen das?"
Die Frage gab ihm das Recht, sie
von oben bis unten zu mustern. Obwohl sie einen Kopf kleiner war als er, wirkte
alles an ihr schlank und langgestreckt: der zierliche Hals, die gebräunten dünnen
Arme, die straffe, schmale Taille.
"Ich habe noch nie so ein
schönes Kleid gesehen."
"Wie schade, daß Sie kein
Mode-Einkäufer sind."
Der Bus setzte sich in Bewegung.
Ein Schaffner trennte mehrere Ticketabschnitte von einer dicken Rolle ab. Zhang
Meilan bezahlte mit Kleingeld und ließ sich von ihm
nichts zurückgeben. Er zeigte ihr im Vorbeifahren das Hotel, in dem er wohnte.
Sie nickte anerkennend. Er war glücklich, neben ihr zu sitzen. Allein ihre Anwesenheit
stimmte ihn froh, so wie es Freude bereiten kann, eine langstielige gelbe Rose
zu betrachten, einen Sonnenuntergang im Andamanischen
Meer, einen Teller mit Saltimbocca, oder eine
Marmorstatue der griechischen Jagdgöttin Artemis, deren Hunde den jungen Aktäon
zerrissen, weil er nicht aufhören konnte, sie anzuschauen.
Sie streckte die Hand durchs
offene Busfenster und erklärte ihm wie eine erfahrene Fremdenführerin die
Sehenswürdigkeiten der Stadt. Sie verließen gerade das neu erbaute Hotelviertel mit seinen verglasten Hochhausfronten und den
kleinen mediterranen Villen mit keck angeschrägten Ziegeldächern auf glattrasierten
Grünflächen, die den Wochenendtouristen aus Hongkong das Gefühl von
Individualität und Weite vermitteln sollten. Im Osten lag der neue Hafen mit
dem Containerterminal. Dort fand auch die Zollabfertigung statt. Er fragte sie,
ob die Textilexporte von "Universal Silk"
über diesen Containerhafen liefen. Massenware ja, sagte sie, die ginge je nach
Schiffsverbindung von hier aus oder ab Hongkong in Containern in alle Welt,
neuerdings auch nach Südafrika, aber Spezialanfertigungen würden per Luftfracht
ausgeliefert.
"Das sind
Auftragsproduktionen, die müssen ganz aktuell zur Saison auf den Markt
kommen."
Als sie in den langen,
unbeleuchteten Tunnel einfuhren, der zur Nordstadt führte, war er blind, konnte
nichts mehr erkennen, und er hätte sich am liebsten mit beiden Händen davon überzeugt,
daß Zhang Meilan noch neben ihm saß, so unbegreiflich
war es ihm, daß sie sich ihm angeschlossen hatte. Dann sah er ihre Silhouette
im Scheinwerferlicht eines aufschließenden Wagens, erst nur ein Scherenschnitt,
und dann ein Mensch aus Fleisch und Blut. Es war gut, daß er sie nicht berührt
hatte. Beim Durchfahren von Tunneln kam man manchmal auf irre Ideen, aber sein
Wunsch, ihr nahe zu sein, war mehr als eine Verrücktheit.
Der Bus verließ die Hauptstraße
und kreuzte durch ein neu erbautes Industrieviertel.
Er erkannte ein deutsch-chinesisches Joint Venture,
das er vor zwei oder drei Tagen besucht hatte. Es war ein Unternehmen, das
schwere Transformatoren für Umspannwerke baute. Der Firmenchef van Achten war
ein massiger Mann Ende Fünfzig, der sich vom Facharbeiter zum Firmenleiter
hochgearbeitet hatte und am abendlichen Stammtisch der Deutschen in Arnolds
Hotel gewissermaßen den Vorsitz führte.
Zhang Meilan
machte ihn auf eine Textilfabrik aufmerksam, die der Konkurrenz gehörte, und
auf eine Elektronikfirma, die Deng Xiaoping auf seiner Südchina-Reise besucht
und als vorbildlich gerühmt hatte.
Die Busfahrt dauerte bereits eine
dreiviertel Stunde, und es überraschte Arnold, daß seine Begleiterin auf der
ganzen Strecke kein besuchenswertes Restaurant gefunden hatte, denn sie waren
schon vor zwanzig Minuten am alten Hafen vorbeigefahren, wo es eine Reihe
ausgezeichneter Feinschmeckerlokale gab, in denen man zu Spottpreisen köstlich
speisen konnte, aber jede Minute länger, die er an Zhang Meilans
Seite verbringen konnte, verbesserte die Erfolgsaussichten für seine Werbung um
sie. Dabei entfernte er sich zwar immer weiter von Wehrmeyer
und seinem Zollamt, aber sie hatten keinen festen Termin vereinbart.
Der Vergnügungspark, von dem
seine Begleiterin gesprochen hatte, erwies sich als ein riesiges eingezäuntes
Areal mit einem Eingangstor in Form eines Triumphbogens. Sie bestand darauf,
die Eintrittskarten zu lösen, da sie als Einheimische billiger dran käme. Sie
wollte auch nicht, daß er ihr seinen Anteil zurückgäbe.
"Ich habe jetzt wirklich
Hunger," sagte er.
Sie deutete auf einen Pavillon
rechts am Weg.
Unter dem geschwungenen Dach
fanden sie einen Selbstbedienungs-Schnellimbiß, der gerade acht Gerichte anbot,
Reis oder Nudeln mit jeweils Hühner-, Schweine-, Rindfleisch oder Krabben. Das
Essen schmeckte nach nichts, aber für Arnold zählte nur eins: Daß er mit dieser
bezaubernden Unbekannten zusammen war.
Sie fragte ihn nach seinen
Lebensumständen, wobei die Frage nach seinem Zivilstand den ersten Platz
einnahm. Er erzählte ihr, daß er zur Zeit allein in einer kleinen Eigentumswohnung
lebte und einen BMW fuhr. Da sie Geschäftsfrau war, erzählte er ihr auch von
dem Projekt seiner Bank, in den ärmsten Länden Ostasiens den Aufbau von Genossenschaftskassen
zu unterstützen, um Arbeitslosen und Unterbeschäftigten die Gründung einer eigenen
Werkstatt oder eines kleinen Ladens zu ermöglichen.
"Das gibt es bei uns schon
immer," kommentierte sie. "Fast jede Familie hier zahlt regelmäßig in
einen Sparverein ein, der das Geld zu hohen Zinsen an Geschäftsleute ausleiht."
"Das ist ja der Punkt. Hohe
Zinsen machen jedes Geschäft kaputt. Unsere Absicht ist es, ungesicherte
Kredite zu niedrigen Zinsen zu vergeben."
Sie sah ihn verständnislos an.
"Warum soll jemand Geld
ausleihen, wenn er dafür keine guten Zinsen bekommt?"
Sie lächelte ihn so gewinnend an,
als hätte sie ein unwiderlegbares Argument angebracht. Er nickte zerstreut.
Hinter dem Charme ihres Lächelns sah er die Härte des chinesischen Geschäftslebens,
von der er an diesem Nachmittag nichts wissen wollte.
Sie verließen das Restaurant und
kamen zu einer Art Haltestelle, an der ein Jeep mit einem Soldaten als Fahrer
stand.
"Von hier aus kann man zum
Schießstand fahren", erläuterte sie, "er liegt weiter draußen in
einem Steinbruch."
"Was machen wir dort?"
fragte er unbehaglich, "mit einem Luftgewehr auf Papierblumen
schießen?"
"Ich dachte, ein Deutscher
zieht richtige Waffen vor."
"Heißt das, man schießt dort
mit echten Waffen und scharfer Munition?"
"Viele Ausländer sind ganz
verrückt darauf."
Sie führte ihn zu einer
Schautafel, auf der das Waffenangebot und die verlangten Preise in Chinesisch
und Englisch aufgeführt waren.
Er zählte vierundzwanzig
verschiedene Waffenkategorien, angefangen mit leichten Handfeuerwaffen.
Wollte sie sich über ihn lustig
machen, oder schätzte sie ihn so falsch ein? Er hatte sich schon entschlossen,
sie zu erobern, doch dazu brauchte er nur die Augen, den Mund und seine Fingerkuppen.
"Eine Pistole Walther,"
las sie vor, "ist das nicht ein deutsches Fabrikat? Kaliber fünf Komma
sechs, jeder Schuß 5 Yüan."
"Bei uns bevorzugt man jetzt
die Glock, mit neun Millimeter Munition,"
behauptete er, betont sachlich, obwohl ihm die Anstößigkeit des Angebots den
Atem abdrückte.
"Gibt es sicher auch. Da,
eine Neun-Millimeter Pistole Typ 59, jeder Schuß 12 Yüan."
Es ging weiter mit
Maschinenpistolen, Sturmgewehren - aber keiner AK 47 - bis hin zum SMG, Kaliber
7,62. Jeder Schuß zwölf Yüan. Aber wer gab daraus
schon Einzelfeuer ab?
Am unteren Ende der Werbetafel
stand eine Fliegerabwehr-Kanone und zu guter Letzt ein Raketenwerfer, panzerbrechend,
achthundert Yüan pro Schuß.
"Wenn du ein Waffensystem
nicht kennst, wirst du kostenlos eingewiesen. Wäre das nichts?"
"Die Preise hier sind
überteuert," erklärte er kategorisch.
"Ich habe kanadische
Geschäftsfreunde auf den Schießstand begleitet. Die waren ganz
begeistert."
"In Kanada gibt es Bären und
Wölfe, gegen die man sich verteidigen muß. Ein Deutscher hat keine natürlichen
Feinde."
"Ich kann Ihnen etwas
anderes zeigen."
Sie führte ihn zu einer Gruppe
niedriger Häuser mit Strohdächern und Butzenscheiben.
In diesen Gebäuden waren mit
Wachsfiguren Höhepunkte aus den Märchen der Gebrüder Grimm nachgestellt. Er
hatte die Märchen ewig nicht mehr in der Hand gehabt, aber als er ein Kind gewesen
war, hatte seine Mutter sie ihm vorgelesen, wieder und wieder, bis er sie
auswendig konnte. Er kannte sie noch, und er fühlte sich wie ein kleiner Junge,
als er seiner Begleiterin mit vor Aufregung zitternder Stimme die Handlung der
Märchen nacherzählte.
Zhang Meilan
ließ sich von seiner Begeisterung anstecken, sie hing an seinen Lippen, ja sie
sprach ihm sogar auf Deutsch die Verse nach: "Spieglein,
Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen
Land?"
Ihr Gesichtsausdruck verriet, daß
ihr die Antwort bewußt war.
Später kamen sie an einen großen
Teich auf dem man Boot fahren konnte. Aber es gab keine Stelle, auf der man vor
den neugierigen Blicken der Spaziergänger am Ufer vollständig abgeschirmt
gewesen wäre. Sie saßen sich im Boot gegenüber, er tauchte die Ruder langsam
ins Wasser und schaute ihr bewundernd zu, wie sie mit ausgestellten Beinen vor
ihm saß, den Sonnenhut in den Nacken geschoben, den Rocksaum bis an die oberste
Anstandsgrenze hochgerafft.
Sie erzählte ihm von sich, er
fragte nach, und sie breitete die Geschichte ihres Lebens in Kurzform vor ihm
aus. Als Oberschülerin war sie so wissensdurstig, daß sie den besten Abschluß aller
Schülerinnen des Schuljahrs machte und einen Studienplatz an der
Sprachenhochschule bekam, wo sie Englisch studierte. Nach dem Abschluß wurde
sie Englisch-Lehrerin an einer Schule, und die Schulleitung - oder, wie man
damals sagte, ihre Einheit - arrangierte für sie eine Hochzeit mit einem
Lehrerkollegen. Aber schon nach wenigen Tagen wußte sie, daß sie für das Eheleben
nicht geschaffen war, und es gelang ihr gegen große Widerstände die Scheidung
durchzusetzen. In ihrer Einheit war sie als geschiedene Frau ein Mensch, dessen
Existenz als Störfall empfunden wurde, und als die Wirtschaftsreform begann,
konnte sie dank ihrer Englischkenntnisse in einer Exportfirma angestellt worden
und dort schnell ins Mittel-Management aufsteigen.
Aus ihren Erzählungen entnahm er,
daß sie das Kaufmännische gewissermaßen mit der linken Hand erledigte, aber
keine geborene Unternehmerin war, die ständig an Umsatzausweitung und Gewinnmaximierung
dachte. Ihr Lebensinhalt schienen ihre Hobbys zu sein: Literatur, Musik - vor allem
westliche Oper, ihr Idol hieß Maria Callas, von der sie schon mehrere CDs besaß
- außerdem Reisen und gutes Essen.
Am liebsten hätte er sie gefragt,
warum sie ihn dann in diesen schrecklichen Schnellimbiß geschleppt hatte, aber
er erhoffte sich - unvorstellbar wie es war -, daß sie schon, als sie ihn auf
der Treppe ansprach, den Plan gefaßt hatte, ein weites Netz auszulegen, um ihn
für sich einzufangen.
Als sie als erste wieder ans Ufer
kletterte, konnte er an ihren Beinen bis zu den Hüften hinaufblicken, und der
Wunsch, all das, was er sah, an sich zu drücken, durchflutete ihn. Der Märchenreim
von der Schönsten im ganzen Land drehte sich wie ein Ohrwurm durch seinen Kopf.
Als sie den Ausgang des Parks
erreichten, sank schon die Dämmerung, subtropisch schwül, durchwebt vom
erschreckten Kreischen kleiner Vögel, die sich nicht damit abfinden wollten,
daß der Tag mit all seinen Versprechungen zu Ende war und das Regime der Nacht
begann.
Auf seinen Vorschlag hin fuhren
sie mit dem Minibus zum alten Hafen, wo er ein Fischrestaurant direkt am Meer
kannte. Dort konnte man im Freien sitzen und die lampengeschmückten Silhouetten
der Schiffe beobachten, die über das dunkle Wasser des Perlflusses in Richtung
Hongkong glitten. Der Wirt erkannte Arnold wieder und begann vor Höflichkeit zu
tänzeln, als er seine Begleiterin sah.
Die Gerichte, die man ordern
konnte, schwammen noch sehr lebendig in viereckigen Metallwannen. Fische aller
Größen, Hummer, Seeschlangen. Die einzigen Lebewesen, die nicht erst für den
Besucher getötet werden mußten, waren die Krabben, die in großen Körben lagen
und nach Gewicht verkauft wurden. Er bestellte für beide zusammen ein Kilo Scampi, die gedünstet mit Sesam-Soja-Knoblauchsauße
und weißem Reis aufgetragen wurden.
Seine Begleiterin fand es viel zu
umständlich, daß er jede Krabbe einzeln aus ihrer dünnen Schale pellte und
machte ihm vor, daß man die Schalen einfach zerkaute und mitaß. Aber es war ihm
unangenehm, daß die Schalenreste wie Fischschuppen an seinem Gaumen kleben
blieben. Deshalb beließ er es bei seiner Methode, und sie half ihm seine Scampis zu schälen. Bewundernd und gebannt verfolgte er,
wie sie mit ihren flinken Fingern die rosigen Leiber der Krabben aus ihren
Hüllen löste.
"Wissen Sie welchen
Körperteil ich bei einer Frau am anziehendsten
finde?" fragte er übermütig.
"Nein," sagte sie und
zog die Hände unter das Kinn, um ihm den Ausblick auf ihren Busen zu
erschweren, aber gerade mit dieser Geste rückte sie in sein Blickfeld, was ihm
am besten gefiel.
"Es ist nicht, was Sie denken."
"Bestimmt nicht?"
fragte sie ungläubig. "Wenn Sie von hier und mein Großvater wären, dann
könnten es meine Füße sein."
"Falsch," erwiderte er.
"Ich bin nicht Ihr Großvater. Ich bin auch zu jung, um Ihr Vater zu sein.
Ich könnte höchstens..."
"Sagen Sie mir,"
schnitt sie ihm das Wort ab, "was Ihnen an mir am besten gefällt.
"Darf ich?" fragte er
und umfaßte ihren nackten Oberarm mit der Hand. Erstaunt ließ sie ihn gewähren.
Als er ihre Haut etwas preßte, fehlte nicht viel, und er hätte seinen Daumen
mit dem Mittelfinger berühren können.
"Das ist mein absolutes
Schönheitsideal," erklärte er, "wenn eine Frau schlanke Oberarme
besitzt. Hat Ihnen noch niemand gesagt, daß sie schöne Arme haben?"
"Sie sind verrückt."
Der Klang ihrer Stimme verriet einen plötzlichen Wechsel vom Flirtstadium zur
Zurückweisung. Verlegen griff er nach seinem Bierglas, das dicker war als ihr
Oberarm.
"Lieben Sie Karaoke?" fragte sie.
"Ich kann nicht
singen."
"Ich würde Ihnen gerne ein
Lied vorsingen."
Sie gingen zurück zur Hauptstraße
und ließen sich von der Leuchtreklame einer Karaoke-Lounge
leiten. Über ein mit roten Glühbirnen geschmücktes Treppenhaus gelangten sie in
einen schummrig erleuchteten Barraum im ersten Stock. Junge Frauen mit
zugeschminkten Gesichtern und langem, offenem Haar saßen in viel zu kurzen
Kleidern in Plüschsesseln herum. Ein Maitre de Plaisir in weißem Dinnerjackett
trat an sie heran:
"Wünschen Sie ein Zimmer für
sich?"
Arnold brachte kein Wort hervor.
Angst und Hoffnung schnürten ihm die Kehle zusammen.
"Entschuldigung," sagte
Meilan mit ihrer festen, sicheren Stimme, "wir
sind hier falsch."
Ein Gefühl der Erleichterung
schoß Arnold ins Bewußtsein. Als sie die schlecht erleuchtete Treppe zurück
nach unten stiegen, legte er den Arm um ihre Schulter. Ihr Körper signalisierte
weder Ablehnung noch Zustimmung. Sie war damit beschäftigt, die Wut darüber zu
verarbeiten, daß sie in diese Situation geraten war. Wieder auf der Straße,
hatte sie so schlechte Laune, daß er erschrak. Aber sie gab nicht auf.
"Es muß hier ein richtiges
"Kala-okey" geben." Sie sprach den
Begriff in chinesischer Intonation aus, das japanische "R" vermeidend.
Dabei ging der eigentliche Wortsinn des aus Japan stammenden Namens verloren.
Im Japanischen bedeutet Karaoke "leeres
Orchester." Leer nicht im Sinne fehlender Orchestermusiker, sondernd des
Wartens auf einen Hauptdarsteller.
Der Gehsteig vor den Häusern der
Hauptstraße, über den sie sich bewegten, hatte keine einheitliche Breite und
Höhe, sondern war von Grundstücksgrenze zu Grundstücksgrenze unterschiedlich
gestaltet. Sie mußten daher beim Gehen ständig aufpassen, daß sie sich nicht
die Knöchel verstauchten. Aus Sicherheitsgründen hielten sie sich an den Händen
fest.
Ein etwas zurückgesetzter
Bungalow, der früher ein Feinschmeckerlokal beherbergt haben mochte, erfüllte
ihre Erwartungen. Große runde Tische mit bequemen Rattansesseln. Im Hintergrund
eine kleine Bühne mit rechts und links einem Großbildfernseher, auf die von DVD-Platten Musikvideos aufgespielt wurden. Es handelte
sich um offenbar allbekannte Schlager, denen aber die Stimme des Sängers
fehlte. Dafür sprangen die Gäste ein. Auf jedem Tisch lag eine Liste, die wie
eine Weinkarte aussah, aber eine Auflistung aller Musik-Videos enthielt, die vorrätig
waren. Auf einen vorgedruckten Abreißblock
notiertie Zhang Meilan
ihren Namen und die Nummern der Lieder, die sie singen wollte. Die Serviererin,
die die Bestellungen für ihre Getränke entgegennahm, sammelte auch die
Liedwünsche ein. In der Reihenfolge ihrer Meldungen, erklärte Zhang Meilan, wurden dann die Gäste ans Mikrophon auf der Bühne
gebeten, von Scheinwerfern angestrahlt.
Die Besucher waren überwiegend
jüngere Leute, Liebespaare, Arbeitskollegen, junge Familien mit kleinen
Kindern. Als Hilfe für die singenden Amateure lief der Text des Schlagers über
den Bildschirm, und das gerade aktuell zu singende Wort flackerte in einer
Kontrastfarbe auf. Nach etwa einer Viertelstunde wurde Zhang Meilan aufgerufen. Ihre Stimme klang voll und fest, und ein
Raunen ging durch den Raum.
Das Lied, das sie sang, war ihm
bekannt, es war sogar ein Ohrwurm neueren Datums, aber er konnte es nicht
einordnen. Plötzlich erkannte er, daß es ihre Frauenstimme war, die das Lied
verfremdete, aber gleichzeitig alles an Gefühl herausholte, was drinsteckte:
"It's only words, and words is all I have."
Es war totenstill im Raum
geworden. Ihm schossen die Tränen in die Augen. Er begriff, daß sie dieses Lied
als Huldigung an ihn vortrug, mit der Betonung auf "words
is all I have."
Als sie geendet hatte, klatschten die
Anwesenden Beifall, mehr als bei jeder anderen Darbietung vorher. Er war stolz
darauf, daß sie diese Wirkung hatte. Sie war außerordentlich. Sie setzte sich
wieder und bemerkte, daß seine Augen noch feucht waren. Spontan legte sie die
Hände auf seine Finger. Er begann ihre Unterarme zu streicheln, und er spürte
ihre körperliche Reaktion ganz stark in seinen Fingerspitzen. Mit dem Knie rieb
er ihren Oberschenkel.
"I hope
it is more
than words you have for
me," raunte er ihr zu. Sie erstarrte, als hätte
er den falschen Knopf gedrückt.
"Ich bin auf einmal
todmüde," erklärte sie. "Ist es recht, wenn wir Schluß machen?"
Sie wollte nicht, daß er sie nach
Hause begleitete. Sie wollte nicht, daß er ihr ein Taxi bezahlte. Sie hatte
keine Zeit, ihn morgen oder übermorgen oder am Wochenende wiederzusehen, auch
nicht am Abend, nach ihrer Arbeit. Er hätte ihretwegen seinen für den nächsten
Tag geplanten Abflug verschoben, aber er sagte ihr nichts davon, er fühlte sich
verletzt. Sie trennten sich an einer Minibushaltestelle, von der aus jeder in
seine Richtung heimfahren konnte. Er beugte sich zu ihr hinunter - sie war fast
dreißig Zentimeter kleiner als er - und küßte sie auf den Mund. Ihre Lippen erwiderten
nichts. Nur ihre Hand streichelte kurz seinen Arm.
Sie kletterte ohne seine Hilfe in
einen zum Ein- und Aussteigen haltenden Minibus und setzte sich auf einen
Fensterplatz, den zusammengerollten Sonnenhut in der Hand. Ihr Profil schwebte
noch eine Weile zwischen weißen und roten Autoleuchten. Sie drehte sich nicht
ein einziges Mal nach ihm um.
Als er in sein Hotel kam, war die
Mitternacht schon nahe gerückt.
Der Rezeptionist,
der ihm den Schlüssel übergab, sagte:
"Ihre Genossen haben nach
Ihnen gefragt. Sie sitzen noch in der Bar."
Drei Teilnehmer des gestrigen
Stammtisches, van Achten und zwei Kraftwerks-Ingenieure, saßen am gleichen
Platz wie gestern, aber auf dem Tisch standen keine Biergläser sondern Unmengen
leerer Kaffetassen.
"Wo waren Sie den ganzen
Abend?"
"Ich habe Kontakte
gepflegt."
"Nehmen Sie Platz. Was Sie
nicht wissen können, Ministerialdirektor Wehrmeyer
ist tot."
"Unmöglich," sagte
Arnold. "Um ein Haar hätte ich ihn heute mittag noch gesehen."
"Er starb heute mittag an
einem Herzinfarkt."
"Wie ist denn das
passiert?"
"Bei der Arbeit im Zollamt.
Man hat ihn tot in seinem Zimmer gefunden."
"War er allein, als es
passierte, oder waren Leute bei ihm?"
"Das sind Fragen, die
niemand beantworten will," brummte van Achten. "Ich habe vorhin mit
dem deutschen Konsul in Kanton telefoniert. Sie schicken uns morgen einen
Beamten, der sich um alles kümmert. Mal sehen, ob der das packt."
"Er wirkte so
sportlich," erklärte Arnolds übergewichtiger Tischnachbar, "aber das
ist vielleicht gerade gefährlich. In diesem Klima muß man jede Anstrengung
vermeiden."
"War er als deutscher
Beamter hier," fragte Arnold, "oder für die Zollunion?"
"Der Bund hat sein Gehalt
gezahlt. Schrecklich, der arme Kerl."
"Ich kann es nicht
fassen." Arnold bestellte eine Runde französischen Cognacs. Jedes Glas
kostete so viel wie ein Schuß aus der Fliegerabwehr-Kanone.
"Eine Gedenkminute,"
kündigte van Achten an. Sie hielten die Cognacschwenker in die Höhe und
blickten betreten aneinander vorbei.
Van Achten, der so etwas wie der
Sprecher der Deutschen war, zog einen Briefumschlag des Hotels aus seiner
Jacke, die über der Rücklehne des Stuhls hing.
"Ich war auf seinem Zimmer
und habe seine Sachen gesichtet," berichtete er. "Das hier habe ich gefunden."
Der Name Feldmann stand auf dem
Couvert.
"Wollen Sie das an sich
nehmen?" fragte van Achten.
"Warum hat er mir das nicht
heute morgen gegeben? Soll ich aufmachen?"
Van Achten nickte. Arnold riß den
Umschlag auf und zog mehrere Bogen Papier heraus. Sie waren flüchtig
beschriftet mit Abkürzungen für Autotypen und langen Zahlenkolonnen.
"Was ist das?" fragte
Arnold und ließ die Zettel herumgehen.
"Fahrgestellnummern von
Luxuskarossen," mutmaßte der Mann von Siemens. "Möglicherweise hat
sie der Zoll beschlagnahmt. Hier wird viel aus Hongkong reingeschmuggelt."
"Vielleicht sollte ich die
Daten an die Hersteller weiterleiten," mutmaßte Arnold.
"Versuchen Sie es."
"Hier," sagte der
dritte Mann, der die Bogen ganz auseinander gefaltet hatte, "das ist keine
Luxuslimousine. Können Sie etwas damit anfangen?"
Van Achten ließ eine Lesebrille
mit halbmondförmigen Gläsern über seinen Nasenrücken gleiten und betrachtete
das Blatt mit ausgestrecktem Arm.
"Seidenraupen für
Capri," las er laut. "Ursprung: wo? Fakturierung durch die Zweite
Sektion. Verschiffung mit Evergreen oder Continental Mariner."
Van Achten schüttelte abwägend
den Kopf. "Das macht überhaupt keinen Sinn. Evergreen ist die große
Container-Reederei in Taiwan. In der sogenannten Zweiten Sektion sind die Auslandsaktivitäten
des militärischen Abschirmdienstes von Peking zusammengefaßt. Es heißt, sie
sind mächtiger als das Politbüro. Diese Notiz muß versehentlich unter die anderen
geraten sein."
Van Achten hielt plötzlich ein
Feuerzeug in der Hand, brannte eine Ecke des Blattes an und warf das brennende
Papier in den Aschenbecher, wo es sich in Wellen aufbäumte, wie die Brandung
des Meeres draußen.
Arnold wollte protestieren. Es
war seine Information, die sich in Nichts auflöste.
"Wenn man länger in Asien
ist," widersprach er, "hört man viel über Geheimkontakte zwischen
Peking und Taiwan."
"Alles Malaria-Phantasien,"
knurrte van Achten, "Whisky Phantome."
Arnold war nicht überzeugt, aber
es überraschte ihn, wie gut van Achten über den Militärischen Abschirmdienst
der Chinesen informiert war. Arbeitete er für Pullach?
In Hongkong war am folgenden
Abend der Autoverkehr so zähflüssig, daß Arnold erst eine Stunde vor Abflug das
Departure-Stockwerk betrat. Er ging sofort zum
Lufthansa-Verkaufsschalter, an dem eine Chinesin mit glatt abgeschnittenem,
ohrlangem Haar arbeitete.
"Wieviel Plätze haben Sie in
der Business Class noch frei?"
Sie hackte auf die
Computer-Tastatur.
"Einen."
"Wie voll ist Economy?"
"Ausgebucht, Waiting List."
Das bedeutete, er konnte weder
mit einer freien Sitzbank zum sich Ausstrecken in der Touristenklasse, noch mit
einem kostenlosen Übergang in die Business Class
rechnen.
Er zeigte ihr sein Ticket.
"Ich bin auf Economy gebucht. Kann ich gegen Zuzahlung Business Class fliegen?
Sie studierte seinen Flugschein:
"Warum kaufen Sie nicht bei uns ein Business-Class
Ticket und lassen sich das Geld für diesen Flugschein in Deutschland zurückerstatten?
Das ist für Sie die günstigste Lösung." Sie nannte ihm einen Preis, der
ihm unglaublich billig erschien.
"Können Sie mir auch ein
Rückflugticket geben?" fragte er spontan. Er wollte Meilan
unbedingt wiedersehen. Ein Business-Class-Ticket
blieb ein ganzes Jahr gültig.
Sie steckte seine Kreditkarte in
den Abfrage-Automaten und tippte seinen Namen bereits in den Computer, bevor
die Antwort da war. So wurden in Hongkong Geschäfte gemacht, dachte er anerkennend.
In weniger als fünf Minuten war er viertausend Mark los geworden und hatte auch
noch das Gefühl, ungeheuer günstig abgeschnitten zu haben. Vor allem kam er
damit der Frau, die ihn so tief beeindruckt hatte, einen großen Schritt näher.
Auf dem Wege zum Flugsteig fand
er ein Kartentelefon und wählte die Nummer, die auf ihrer Visitenkarte stand.
Aber die Leitung war ständig besetzt. Auf den Bildschirmen mit den Abflugdaten
las er neben seiner Flugnummer "Now Boarding". Er mußte noch durch die
Sicherheitskontrolle. Sein Herz klopfte heftig, als sein Handgepäck
durchleuchtet wurde, dabei hatte er nichts Verfängliches eingepackt. Die Notiz
über den chinesischen Geheimdienst hatte van Achten ja vorsorglich verbrannt.
Dafür mußte es einen Grund gegeben haben, hinter den Arnold nicht gekommen war.
Er fand seinen Sitzplatz, der noch bequemer war, als er es sich vorgestellt
hatte. Er streckte die Beine von sich.
"Seidenraupen für
Capri". Arnold war nie auf Capri gewesen, nur auf Ischia, aber er hatte
von seinem Schlafzimmer-Fenster aus die Felseninsel über dem Mittelmeer
schweben sehen. Er konnte sich nicht vorstellen, daß es Maulbeerbäume auf Capri
gab. Im alten China war die Ausfuhr von Seidenraupen bei Todesstrafe verboten.
Und heute? Seit Jahren arbeiteten chinesische Forschungsinstitute daran,
gentechnisch eine robuste, ertragreiche Seidenraupe heranzuzüchten. Es gab in
Italien nur eine bescheidene Seidenraupenzucht in der Lombardei, aber italienische
Seidenwebereien waren Weltspitze.
"Möchten Sie einen
Champagner?" fragte die Stewardeß, die nach einem guten Parfum duftete.
Als er das Glas an die Lippen
führte, sah Arnold das Gesicht des Zollbeamten vor sich, der ihm vorgestern
erst, ein Glas Bier in der Hand, zugeprostet hatte, ein Mann voller Leben und Lebensfreude,
und jetzt in einen Leichensack gepreßt. Hätte Arnold, wenn er gestern in der
Mittagsstunde das Zollamt betreten hätte, Wehrmeyer
schon tot oder noch lebend angetroffen? Wäre er womöglich am Leben geblieben?
In der Stunde, die Wehrmeyers Todesstunde gewesen sein mußte, war Arnold Meilan begegnet und von ihrer Schönheit überwältigt worden.
Unauslöschlich hatte sich das Lächeln unter dem Sonnenhut in sein Gedächtnis
gegraben. Er sah sie auf den Stufen vor dem Zollamt stehen, er sah ihre
schlanken braunen Arme, mit denen sie sich am Bootsrand abgestützt und die langen
Beine, die sie ihm entgegengestreckt hatte, während er die Ruder führte. Er
hatte noch nie so viel Zuwendung empfangen - jedenfalls nicht, seit er in die
Volksschule gehen mußte - und noch nie eine solche Zugehörigkeit verspürt.
Verbunden fühlte er sich auch den
beiden vergnügten Greisen vom Frühstückstisch mit ihrer großen Hirsegeistflasche
und den winzigen Portionsgläsern, ohne deren geheimes Einverständnis er niemals
den Mut gefunden hätte, Zhang Meilan vor dem Zollamt
anzusprechen.
ZWEITES KAPITEL
Als Arnold um sieben Uhr morgens
seine Kölner Wohnungstür aufschloß, war es auf seiner biologischen Uhr bereits
Mittagszeit in China. Er war hellwach und hatte Hunger. In den Reiserichtlinien
der Bank war nicht festgelegt, ob die Tagesstunden nach einem Nachtflug schon
Arbeitsstunden oder noch Reisezeit waren. In seinem Kühlschrank fand er Eier
und ein paar Scheiben Käse, auf denen sich noch kein Schimmel gebildet hatte.
Um nicht allein zu sein, legte er die Wassermusik von Händel auf. Er duschte
ausgiebig und entschloß sich, seinen BMW wachzurütteln. Das Leben war zu
wertvoll, um einfach blau zu machen.
Bevor er in die Bank fuhr, machte
er einen Abstecher zum Musikhaus am Dom. Er schaute sich um, als er seinen
Wagen im absoluten Halteverbot parkte, aber er sah weit und breit keine Polizeistreife.
Zum Glück herrschte in der
Schallplattenabteilung noch kein Betrieb. So konnte er ungestört ein Geschenk
für Zhang Meilan aussuchen. Er wollte sie beeindrucken, solange die Erinnerung
an ihr Zusammensein frisch war. Er entdeckte die "Sizilianische Vesper"
mit Maria Callas in der Hauptpartie. Als zweites wählte er die Strauß-Oper
"Daphne" aus, die er schon gehört, aber noch nie auf einer Bühne
gesehen hatte. Sie handelte von einer Nymphe, die sich nicht anfassen lassen
will und deshalb in einen Lorbeerbaum verwandelt wird. Er fragte sich, ob die
Empfängerin wohl die Parallele zu ihrer persönlichen Situation erkennen würde.
Verhielt er sich nicht wie der Hirtengott Apoll, hemmungslos der Schönheit
einer Zufallsbekanntschaft verfallen? Und glich Zhang Meilan nicht der zierlichen
Nymphe der Oper, halb zu ihm hingezogen und halb abweisend? An der Kasse fand
er noch eine mit roten Rosen bedruckte Glückwunschkarte.
Als er die Bank erreichte, war
die Tiefgarage voll besetzt und er mußte sich auf den Besucherparkplatz
stellen. Sein erster Gang führte ihn auf die Poststelle, wo er sich erkundigte,
wie er die CDs auf dem schnellsten Wege nach China schicken könnte. Wenn Geld
keine Rolle spielte, meinte sein Kollege, sollte er den Expreßdienst DHL
nehmen. Der Bote der Firma müßte jeden Augenblick ins Haus kommen. Sie würden
ihn auf Arnolds Zimmer schicken.
Arnolds Sekretärin schrie vor
Aufregung als er unangemeldet in ihr Zimmer trat und umarmte ihn spontan. Sie
hatte sich mit ihren fünfzig Jahren noch die Figur und die schlaksigen Bewegungen
eines Backfischs bewahrt. Von ihren Kolleginnen wurde sie fast ausnahmslos Conrad
genannt, und nicht Frau Conrad. Sie war glücklich verheiratet mit einem älteren
Mann, der sie umsorgte und umhegte, seit er von seiner Firma in die Frühpensionierung
geschickt worden war. Arnold küßte sie auf beide Wangen. Auf ihrer Schreibtischplatte
lag ein dicker schwarzer Filzstift, den er sich auslieh. Er schloß die Verbindungstür
zwischen ihren Zimmern und schrieb auf die Rosen-Karte: "Ich danke dir für
den schönsten Tag meines Lebens." Dann bat er Conrad, ihm einen Termin bei
seinem Chef zu beschaffen und machte sich über den Inhalt des Eingangskörbchens
her.
Er mußte mehrere Schichten Papier
abtragen, bis er auf etwas stieß, das nach Ärger aussah. Seine Stellungnahme zu
einem Milliardenkredit an einen äquatorial-asiatischen Inselstaat war dem
Vorstand nicht einmal vorgelegt worden.
Das C. der Unterschrift auf dem
gelben Post-it-Zettel stand für Cornelia, die
neunundzwanzigjährige persönliche Referentin des Vorstands. Sie war in ihrem
Zimmer, gleich neben dem Lift. Sie hatte die Füße auf dem Tisch und nahm sie
nicht herunter, als Arnold eintrat. Sie trug ein dunkelblaues Kostüm, das von
der Art war, die Boutiquen unter dem Label eines Parfümherstellers verkaufen,
aber nicht ganz so schick wirkte, als käme es aus dem Hause von Zhang Meilans italienischem Auftraggeber. Ihre Füße dagegen
steckten in Lederschuhen, wie man sie in Milano oder Firenze bekam, und dort
kosteten sie schon mehrere hunderttausend Lire. Sie führte ein Telefongespräch,
das sie mit den Worten beendete: "Wir spielen das nach Gehör. Dann
Tschüs."
"Wer hat das
entschieden?" fragte er, seinen Bericht hochhaltend.
"Sie können mir die Hand
küssen," erwiderte sie, "ich habe Ihre Karriere gerettet. Dieser
Report hätte sie als ewig gestrigen Querulanten geoutet."
"Wollen Sie Ihren Chef ins
offene Messer laufen lassen?" fragte er. Es war vielleicht der Jetlag, der
jähe Wechsel von einem Kontinent in den anderen, der ihm eine Argumentationslust
eingab, die er sonst unterdrückt hätte. "Der Kredit wird nie zurückgezahlt.
Ich garantiere Ihnen, vier Wochen nach Eingang der Überweisung sind fünfzig
Prozent der Summe auf Nummernkonten in der Schweiz und anderen Fluchtgeldoasen
gelandet."
"Eine Entscheidung von
solcher Tragweite wird nicht über den Daumen gefällt. Der Vorstand holt den Rat
der besten Experten ein."
"Ich bin der Asienspezialist
unseres Hauses."
"Das nimmt Ihnen niemand
weg. Aber der Vorstand hat mit dem deutschen Botschafter des Landes gespeist,
und die herrschende Meinung ist jetzt: Die Asean-Staaten
befinden sich am Beginn einer Wirtschaftswachstums-Explosion. Es bedarf nur der
Initialzündung durch billiges Kapital, dann werden wir zweistellige Wachstumsraten
sehen. Ein bißchen Korruption, die Sie so verurteilen, hat auch ihr Gutes. Sie
ist das Schmieröl der Wirtschaft. Ein Garant des Wachstums."
"Das hat der deutsche
Botschafter gesagt?"
"Er hat den Anbruch des
asiatischen Jahrtausends verkündet. Der Vorstand liebt Konzepte, Aktionsfelder,
operative Strategien. Der Zukunft immer eine Länge voraus."
"Man muß das Geld in die
richtigen Kanäle leiten."
"Feldmann," sagte sie
ungeduldig, "wenn unser Haus Asien entdeckt, wertet das Ihre Position auf.
Sie müssen sich überlegen, wie Sie das umsetzen wollen."
Ihre Sicht der Dinge gefiel ihm,
auch wenn er ihre lässige Ausdrucksweise manieriert fand. Ob Zhang Meilan an
ihrem Arbeitsplatz wohl auch so tüchtig war?
Arnolds Chef, Dr. Nagel, hatte
ganz gegen seine Gewohnheit zwischendurch fünf Minuten Zeit für ihn. Er residierte
in einem Eckzimmer mit von der Diele bis zur Decke reichenden Außenwänden aus
Glas. Er hatte seinen Schreibtisch so gestellt, daß er immer das Licht im
Rücken hatte. Das half beim Lesen gedruckter Texte, aber nicht von e-Mail. Als
Arnold hereinkam, war er gerade dabei, sich auf beiden Wangen ein intensiv
duftendes Toilettenwasser zu verreiben.
"Ich mach mir Sorgen,"
begann er, "ob das viele Reisen gut für Ihre Gesundheit ist. Ich habe eine
medizinische Untersuchung gelesen, daß jede Interkontinentalreise die Lebenserwartung
des Reisenden um Wochen verkürzt."
"Die moderne Medizin
verlängert jedes Jahr unser Leben. Die Sterbetafeln der Versicherungen werden
heraufgesetzt. Das gleicht sich aus."
"Ich habe zugesagt,"
kam Dr. Nagel zur Sache, "heute Abend im n-tv
ein Statement zur deutschen Autoindustrie in China abzugeben. Können Sie mir
einen Entwurf schreiben, anderthalb Seiten, plus eine Seite mit den Zahlen nach
dem neuesten Stand..."
Arnolds Sekretärin steckte den
Kopf ins Zimmer. Der DHL-Bote war da.
"Sie berichten auf der
Mittwochskonferenz von ihren neuesten Erkenntnissen," entließ ihn der
Chef.
DHL hatte eine standardisierte
Versandtasche, in die Arnold die CDs mit der Rosenkarte steckte. Der Bote gab
ihm eine Telefonnummer, unter der Arnold jederzeit den jeweiligen Aufenthaltsort
der Sendung auf dem Weg nach China erfragen konnte. Ihre moderne Logistik
machte das möglich. Arnold bezahlte hundert Mark, inklusive eines Trinkgelds,
mit dem der Bote nicht gerechnet hatte.
Der Monatskalender, der in seinem
Zimmer hing, war ein Werbegeschenk der ihm nicht näher bekannten chinesischen
Firma Poly Technologies. Er hatte ihn unter mehreren ihm aus Ostasien zugeschickten
Wandkalendern ausgewählt, weil er der größte und schönste war. Er riß das
Farbfoto des Himmelstempels ab, das noch zum April gehörte, und blickte auf
eine verwitterte Buddha-Statue. Im Zahlenfeld für den Monat Mai war die große Drei
das heutige Datum, die Fünf der Tag, an dem Zhang Meilan das Päckchen öffnen
würde.
Als er die Informationen über die
Autoindustrie in China für seinen Chef auf dem Monitor zusammenstellte, hatte
er plötzlich Sehstörungen. Die Worte auf dem Bildschirm schienen schwerer und
schwerer zu werden, bis sie durch ihr eigenes Gewicht abzustürzen drohten. Er
blickte auf die Uhr. Es war schon Abendessenszeit in China, genauer gesagt, die
Zeit für den Cognac danach.
Er druckte das Statement und das
Zahlenmaterial schnell aus. Er machte noch eine Diskettenkopie und gab alles
seiner Sekretärin. Sie bestärkte ihn in der Absicht, vorzeitig nach Hause zu gehen
und wollte gleich ein Taxi für ihn anrufen. Er brachte es aber nicht übers
Herz, seinen BMW die ganze Nacht unter freiem Himmel auf dem Besucherparkplatz
stehen zu lassen.
An der Einmündung zur
Bundesstraße ging es leicht bergauf, und ein Taxi, das vor ihm an der Ampel
wartete, rollte mit bedrohlicher Geschwindigkeit rückwärts auf ihn zu. Er schaffte
es gerade noch, den Rückwärtsgang einzulegen und einen halben Meter zurückzusetzen.
Dann krachte es hinten. Ein anderer BMW war näher an ihn herangekommen, als er
es im Rückspiegel gesehen hatte. Falls er überhaupt in den Spiegel geblickt
hatte. Das Taxi verschwand mit Vollgas um die Ecke. Es war gerade grün geworden.
Der andere BMW-Fahrer stieg aus, ein junger Mann Ende Zwanzig. Arnold blieb
nichts anderes übrig, als ebenfalls auszusteigen. Ein Streifenwagen der Polizei
hielt neben ihnen. Ein junger Beamter und seine blonde kurzärmlige Kollegin betrachteten
den Schaden. An der gummibewehrten Stoßstange von Arnolds sechzehn Jahre altem
318er war nichts zu sehen. Am Stoßfänger des anderen Wagens auch nichts. Aber
der Fahrer behauptete, daß der rechte Abstandshalter zwischen Karosserie und
Stoßstange einen halben Zentimeter kürzer sei als der linke. Das sei vorher
nicht der Fall gewesen. Arnolds Versicherung müsse dafür aufkommen. Das wollte
Arnold auf keinen Fall. Er wollte nicht zurückgestuft werden.
"Lassen Sie den Schaden bei
BMW-Hammer richten. Ich werde die Rechnung direkt an die Werkstatt
zahlen." Arnold kannte dort alle drei KFZ-Meister.
Sie würden ihm keine fingierten Kosten berechnen.
Der junge Polizeibeamte hatte
bereits angefangen, eine Verwarnung auszuschreiben.
"Ich bin doch nur dem
Taxifahrer ausgewichen," entschuldigte er sich.
"Sie hätten nicht rückwärts
fahren dürfen. Das war ein Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung. Warum
haben Sie nicht gehupt?"
Ja warum nicht? Er hätte auf
Conrad hören und ein Taxi nehmen sollen. Er war erschöpfter, als er angenommen
hatte. Er überlegte, den Wagen jetzt stehen zu lassen, aber er sah keinen
freien Platz, auf den er sich stellen konnte, und er hatte Angst davor, mitten
im fließenden Verkehr rückwärts in eine enge Parklücke einzuparken. Das war
noch nie seine Stärke gewesen, und es war, wie er gerade gelernt hatte, wahrscheinlich
auch ein Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung. Langsam und bewußt vorsichtig
fuhr er heim, vom ungeduldigen Hupen der Berufsverkehrs-Fahrer wachgehalten.
Am anderen Morgen wurde er schon
sehr früh zu Dr. Nagel gerufen. Durch die Zeitverschiebung gegenüber Ostasien
war er hellwach.
"Haben Sie gestern abend nt-v gesehen? Fanden Sie, daß ich es richtig gemacht
habe?"
"Ehrlich gesagt,"
Arnold suchte nach hilfreichen Worten, "ich bin beim Fernsehen
eingeschlafen. Vor Ihrer Sendung. Waren Sie zufrieden?"
"Ich habe nicht daran
gedacht, daß man das Logo unseres Hauses einblenden könnte. Es gibt in der Öffentlichkeitsarbeit
eine Diskette dafür. Ich habe ein paar Stück bestellt."
"Fünfzig Prozent des
chinesischen Marktes hat VW," sagte Arnold.
"Ja, ja," erwiderte Dr.
Nagel geistesabwesend. Das Thema war erschöpft.
Arnold rief die großen
Automobilhersteller an, um sie über Wehrmeyers
Nachlaß zu informieren.
"Die Diebstähle,"
erklärte ihm ein zynischer Firmensprecher, "sind von der Versicherung
abgedeckt. Wir wollen Neuwagen verkaufen und keinen alten Schrott reaktivieren."
Ein anderes Haus erklärte:
"Wir verkaufen gepanzerte Karossen an die Staatsführung, da wollen wir uns
das Geschäftsklima nicht durch solche Lappalien verderben."
Offenbar hatte Wehrmeyer die Interessen der deutschen Industrie falsch
eingeschätzt. Aber Finanzbeamten, wie er einer war, ging es wohl mehr um das
Prinzipielle.
Sechs Tage später fand er abends
in seinem Briefkasten die Benachrichtigung eines Expreßdienstes, der wissen wollte,
wann er zu Hause anzutreffen wäre, um eine Sendung aus China in Empfang zu
nehmen. Der Name des Schnelldienstes erinnerte ihn an Sprengstoff.
Als er den Briefbogen auffaltete
und zum ersten Mal ihre Handschrift sah, durchfuhr ihn die Freude wie ein
starker Akkord. Sie hatte eine ausdrucksvolle Schrift mit großen schwingenden
Buchstaben, die wie aneinandergereihte Triumphbögen aussahen. Es war unmöglich,
an der Handschrift zu erkennen, daß Englisch für sie eine Fremdsprache war.
Auch für sie, schrieb sie, war es der schönste Tag ihres Lebens gewesen. Sie
spürte auf ihren Lippen noch den Druck seines Abschiedskusses. Sie sehnte sich
danach, ihn wieder in ihren Armen zu halten. Sie gebrauchte dafür den englischen
Ausdruck "embrace." Das Wort
"wieder" kam ihm in diesem Zusammenhang etwas kühn vor. Sie hatte
beim letzten Mal gar nicht ihre Arme um ihn gelegt. Aber vielleicht hatte sie
es so empfunden, und seine Verstimmung beim Auseinandergehen beruhte auf einem
Mißverständnis. Oder hatte sie einfach vorformulierte Sätze aus einem
englischen Liebesbriefsteller abgeschrieben? Aber auch dann steckte Zuwendung
dahinter. Es war kein Fehler gewesen, daß er in Hongkong ein Rückflugticket gekauft
hatte.
Über die CDs, schrieb sie weiter,
hätte sie sich schrecklich gefreut. Sie kannte beide Opern noch nicht. Die
Daphne gefiel ihr so gut, daß sie die Schlußarie gleich drei Mal hintereinander
gehört hatte.
Wenn er wieder einmal nach China
käme, schloß ihr Brief, wollte sie sich ein paar Tage frei nehmen, um ihm Sehenswürdigkeiten
ihres Landes zu zeigen, die ein Tourist normalerweise nicht zu Gesicht bekäme.
Er wollte nicht bis zur nächsten
Dienstreise darauf warten. Er wollte sofort Urlaub nehmen und sie wiedersehen.
Als er den Brief las, war es in China wegen des Zeitunterschiedes schon nach Mitternacht.
Er rief sie am nächsten Morgen von seinem Büro aus an und codierte das Gespräch
als privat. Ein schlurrig sprechender Mann meldete
sich mit den Worten:
"Wei,
ni shi na yi-wei?"
Er legte verwirrt auf. Er hatte
fest damit gerechnet, ihre warme Sopranstimme zu hören. Auf eine solche Hürde
war er nicht gefaßt. Er besaß zu Hause einen chinesischen Sprachführer, in dem
Standard-Telefongespräche abgedruckt waren. Den halben Abend verbrachte er
damit, sich Mustersätze einzuprägen, wie "Bitte verbinden Sie mich mit der
Nebenstelle."
Doch als am er am folgenden
Vormittag das mühsam Einstudierte anzuwenden versuchte, befand sich eine Frau
am anderen Ende der Leitung, die sofort in die englische Sprache überwechselte.
Sie konnte ihn nicht verbinden, aber sie konnte ihm bestimmt weiterhelfen. Sie
wußte über alle Aufträge Bescheid. Frau Zhang war - wenn er unbedingt mit ihr
persönlich sprechen mußte, ab nächste Woche unter einer neuen Nummer zu erreichen.
Sie rasselte die Zahlen so schnell herunter, daß er ihr nicht folgen konnte.
Er bat sie, die Nummer zu
wiederholen. Sie tat es zwei Mal. Noch schneller und noch leiernder. Er gab die
Hoffnung auf, sie jemals zu verstehen. Die Enttäuschung drehte sich wie eine riesige
Zentrifuge in seiner Brust.
Als er sich am Montag nach dem
Mittagessen lustlos an den Monitor setzte, steckte Conrad den Kopf durch die
Tür. Sie hielt eine Unterschriftenmappe an die Brust gepreßt.
"Als Sie weg waren, ist ein
Fax für Sie gekommen." Sie lächelte verschwörerisch. "Außer mir hat
es niemand gesehen."
Er sprang auf und riß ihr die
Mappe aus der Hand.
"Eine ausdrucksvolle
Handschrift," sagte Conrad. "Sie gefällt mir ausgesprochen.
Wirklich." Dann ließ sie ihn demonstrativ zum Lesen allein.
"Big News," schrieb
Zhang Meilan. Sie war in das Stammhaus ihrer Firma in Tschungking
zurückversetzt worden. Die Provinz Sezuan war ihre
Heimat. Hier konnte man Ausflüge in die aufregendsten Landschaften Chinas
unternehmen. Da war die Tiefebene des Roten Beckens. Hundert Kilometer nördlich
von Tschungking stand das Geburtshaus Deng Xiaopings.
Es gab heilige Berge mit buddhistischen Tempeln. Im Hochgebirge ragten die
Gipfel ewigen Schnees siebentausendfünfhundert Meter in den Himmel. Ein
Wanderpfad führte durch den Gletscher-Nationalpark. Oder man konnte sich im
Schiff durch die tief eingeschnittenen Schluchten des Yangtse
treiben lassen. Tschungking, so schloß sie, war nur
zwei Flugstunden von Peking oder Hongkong entfernt.
Am Fuß der Seite stand der Name
ihrer Firma und darunter fast unlesbar der Schriftzug "Poly Group".
Das Wort Poly war genauso gedruckt, wie auf seinem Wandkalender. Wie gut, daß
er gerade diesen Kalender aufgehängt hatte.
Er wählte sofort die
Telefonnummer ihres neuen Büros. Schon nach wenigen Sekunden hörte er das
Zischen der Satellitenverbindung. Aber niemand nahm ab. Wahrscheinlich saß sie
gerade mit ihren neuen Kollegen beim Begrüßungsessen. "Xi
Chen" nannte man ein solches Bankett in China, "den Staub der Reise
abwaschen."
Vor dem Schlafengehen rechnete er
sich aus, auf wieviel Uhr er den Wecker stellen mußte, wenn er sie vormittags
im Büro erreichen wollte. Aufbleiben konnte er nicht so lange.
Um drei Uhr morgens Kölner Zeit
war sie an ihrem Schreibtisch.
"Was für eine Freude, deine
Stimme zu hören," sagte sie. "Wo bist du?"
"Zu Hause, in Deutschland,
in Köln." Er bildete sich ein, sie enttäuscht ausatmen zu hören.
"Es kann sein,"
improvisierte er, "daß ich Ende des Monats dienstlich nach Peking muß. Ich
könnte dich besuchen, wenn du Zeit hast. Wie ist das mit deiner neuen Stelle? Bestimmt
hast du viel zu tun."
"Im Gegenteil," sagte
sie. "Weil ich versetzt worden bin, habe ich Anspruch auf Sonderurlaub.
Ich muß nur vorher wissen, wann du kommst."
Die Vorfreude schoß ihm in den
Kopf. Er wünschte sich, etwas wacher zu sein, um seine Gefühle klarer
auszudrücken. Er suchte nach Worten.
"Bist du zufrieden, daß du
wieder in deiner Heimat Arbeit hast?"
"Stell dir vor, ich wohne bei
meinen Eltern. Meine Versetzung kam so überraschend. Die Firma hatte keine
Zeit, etwas vorzubereiten. Es ist wahnsinnig schwer, in Tschungking
eine Wohnung zu finden."
"Ich werde alles versuchen,
damit ich kommen kann."
"Du mußt mir sofort Bescheid
sagen, wenn es mit der Reise klappt. Hast du was zu schreiben? Ich gebe dir die
Telefonnummer meiner Mutter. Dort kannst du eine Nachricht hinterlassen, wenn
ich nicht hier bin. Sie spricht natürlich kein Englisch. Du mußt es auf
Chinesisch versuchen."
Während er die Zahlen aufschrieb,
vernahm er bei ihr im Hintergrund ein Geräusch, als träte jemand unangemeldet
in ihr Zimmer.
"Ich höre von dir,"
sagte sie und legte auf.
Solange sie sprach, war sie
ungeheuer präsent gewesen, wie beim Abendessen im Fischrestaurant, als sie ihm
die Scampi geschält hatte. Jetzt fröstelte ihn, weil
er sich nichts über den Schlafanzug gezogen hatte, als der Wecker ihn aus dem
Schlaf riß. Er goß sich einen Cognac ein, gerade so bemessen, daß er morgen
früh wieder nüchtern sein würde. Dann legte er die CD mit den drei
Klavierstücken von Schubert auf. Zum Teufel mit den Nachbarn.
"Meilan,"
sagte er halblaut, "Meilan." Er schlug seinen Taschenkalender auf.
Pfingsten fiel dieses Jahr auf die letzte Maiwoche.
Frau Conrad besorgte ihm einen Termin
bei Dr. Nagel.
"Ich habe mir überlegt, vor
und nach Pfingsten zwei oder drei Tage Urlaub zu nehmen, wenn Sie damit
einverstanden sind."
Der Chef nahm seine Brille ab und
warf ihm einen Blick zu, aus dem Arnold Mißgunst herauslas und zugleich die Befriedigung,
über seinen Antrag entscheiden zu können.
"Zu Pfingsten ist alles
überlaufen, und Sie zahlen Höchstpreise," wand er ein.
"Es sind ruhige Tage hier im
Hause. Wir müssen nicht mit Sonderaufgaben rechnen." Er ging davon aus,
daß Dr. Nagel nichts so sehr haßte, wie unerwartete Herausforderungen. Für ihn
mußte alles langfristig geplant sein.
"Haben Sie schon ein
Ziel?"
"Ich fahre in die
Berge," sagte er vage.
"Bekommen Sie überhaupt noch
Ersatzteile für Ihr Gefährt?"
Arnolds BMW war sechzehn Jahre
alt. Aber er schwebte immer noch wie eine Schwalbe durch alle Kurven und nahm
die Rüttelschwellen in den verkehrsberuhigten Straßen überhaupt nicht zur Kenntnis.
"Ich werde wahrscheinlich
das Flugzeug nehmen."
"Sehr vernünftig. Haben Sie
schon eine Unterkunft?"
"Ich entscheide mich
meistens in letzter Minute." Er wollte nicht die Unwahrheit sagen, aber
auch nicht die Wahrheit.
"Sie können sich ja von dort
aus melden." Ein Zögern. "Wenn Sie glauben, daß Sie Urlaub nötig haben."
Dr. Nagel ließ seinen Blick über
die Papiere auf seinem Schreibtisch wandern, als überlegte er, welche Arbeit er
an Arnold delegieren sollte, aber er fand keinen Vorgang, von dem er sich
trennen konnte.
Dr. Nagel ging fast nie in
Urlaub, und Arnold fragte sich, ob er seinen Urlaubsanspruch einfach verfallen
ließ, um unentbehrlich zu wirken.
Als Arnold sich in seinem
Vorzimmer zurückmeldete, steckte Conrad ihm ein Fax mit den Flugverbindungen
von und nach Tschungking zu.
"Von ihr," flüsterte
sie. Dabei waren es nur die acht Buchstaben seines Familiennamens, die Zhang
Meilan handschriftlich über die Tabelle gesetzt hatte. Ihm war nicht klar, ob
Conrad begriffen hatte, um was für eine Liste es sich handelte.
In der Mittagspause fuhr er zur
Lufthansa-Agentur am Dom. Er durfte mit dem Ticket, das er in Hongkong erworben
hatte, sowohl nach Hongkong als auch Peking fliegen. Plätze waren auf beiden
Strecken noch frei.
"Wie steht es mit dem
Visum?" fragte die Reiseberaterin. Daran hatte er überhaupt nicht gedacht.
Wenn er über Peking einreisen wollte, mußte er in Deutschland ein Visum beantragen,
das er als Bankangestellter nur bekam, wenn er die Einladung eines chinesischen
Geschäftspartners vorwies. Also Hongkong. Dort erhielt man innerhalb von
vierundzwanzig Stunden ein China-Visum.
Von Hongkong nach Tschungking gab es zwei Flüge in der Woche. Die
Reiseberaterin konnte ihm für den 26. Mai einen Platz fest buchen. Er sagte zu.
Die Reise stand. Als er auf die Domplatte trat, erblickte er vor dem
Wahrzeichen Kölns mehr Touristen aus Japan und China als Einheimische.
DRITTES KAPITEL
Er war wieder in Hongkong und nur
noch zwanzig Stunden von ihr entfernt. Mongkok, wo er
abgestiegen war, bildete im Norden der Halbinsel Kowloon
das am typischsten chinesische Stadtviertel der Kronkolonie. Es war ein auf hohem
Niveau rückständig gebliebenes Stück China, quirlig, kraftvoll und mitleidslos.
Das Stahlfenster seines Zimmers
im achten Stock ließ sich einen Zoll weit öffnen, um die Geräusche und Gerüche
der Stadt hereinzulassen. Das laute Pochen kam von der Schlägen einer Abrißbirne,
mit der die Betonplatten eines in grünes
Gewebe gehüllten Mehrfamilienhauses
mürbe geklopft wurden. Auf dem Nachbarhaus war das Dach mit Käfigen bedeckt, in
denen nicht etwas Haustiere gehalten wurden, sondern Menschen vegetierten, die
keine andere Bleibe fanden. Der Staub der Abbrucharbeiten drang durch die offenen
Gitterstäbe in ihre Miniaturbehausungen. Unten auf dem Gehweg zischte das siedende
Öl der Straßenköche, die Süßkartoffelschnitzel oder Hühnerschenkel frittierten. Minibusse mit ungepflegten Dieselmotoren
warteten an den Straßenecken auf Fahrgäste. An den Häuserwänden leuchteten gelb
die Reklameschilder der verbotenen Bordelle, die von den Geheimgesellschaften,
den Triaden, vor den Augen der Polizei betrieben wurden. Eine Bentley Limousine
schwebte zum Hintereingang des Hotels. Durch die Wand zum Nachbarzimmer hörte
er das Kreischen der Sängerin in einer Fernsehoper.
Er schloß das Fenster weil er
Meilan anrufen wollte. Sie mußte gerade zu Hause eingetroffen sein. Das
Telefonregister auf seinem Nachttisch behandelte Anrufe nach China als Regionalgespräche
und führte ihn Schritt für Schritt durch die zu drückenden Nummern bis zur
Vorwahl von Tschungking.
Die alte Frau, die das Telefon
abnahm, schien mit seinem Anruf gerechnet zu haben.
"Qing
ni deng yi-xia,
Wo de nüer mashang jiou lai."
Dann hörte er Meilans
melodische Stimme:
"Arnold, bist du es?"
So nah und zupackend. "Ist alles in Ordnung? Wo steckst du?"
"Ich bin noch in Hongkong.
Sie geben mir ein Visum. Ich treffe morgen um achtzehn Uhr auf dem Flugplatz Tschungking ein. Sechs Uhr abends."
"Das klingt wunderbar. Ich
hole dich ab. Ich freue mich, dich zu sehen."
"Hast du schon einen Ausflug
für uns gebucht?"
"Ich habe mehrere Angebote.
Wir suchen uns morgen aus, was uns beiden am besten gefällt."
"Ich habe auch eine Idee.
Auf dem Reisebüro, wo ich das Visum beantragt habe, hat man mir einen Prospekt
für ein gutes Berghotel gegeben."
"Bring die Papiere mit. Wir
sehen uns das an. Ich muß jetzt Schluß machen. Bis morgen am Flughafen."
"Das Telefon geht auf meine
Rechnung. Wir können noch..."
"Tüt,
tüt, tüt." Die
Verbindung war unterbrochen. Er hätte gerne noch eine halbe Stunde dem Klang
ihrer Stimme gelauscht. Aber er hatte aus ihren letzten Worten eine Ungeduld
herausgehört, der er sich nicht noch weiter aussetzen wollte. Ihm war auch
nicht klar, ob der Empfänger eines Festleitungsgesprächs in China nicht doch eine
Gebühr bezahlen mußte, wie das ja bei Mobiltelephonen international üblich war.
Ein großer Vorteil seines Hotels
war, daß man es unbemerkt verlassen konnte, wenn man mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoß
fuhr. Nur der Vorder- und der Hintereingang wurden von Türstehern betreut.
Durch den Seiteneingang, nur durch eine Schwingtür von den Liften getrennt,
trat man direkt in die enge Gasse, in die der U-Bahn-Ausgang der Mongkok-Station einen nicht abreißenden Strom von Passanten
entließ. Arnold war sofort von einem Menschengewühl umschlossen, durch das er
sich bewegte, wie ein Fisch im Aquarium, in ständiger Angst vor Körperkontakt,
aber ihn noch gerade um Zentimeter vermeidend.
Auf der Fahrbahn wälzte sich eine
endlose Kette von Kraftfahrzeugen vorwärts, so eng zum Vordermann aufschließend,
daß sich kein Fußgänger zwischen hinteren und vorderen Stoßstangen auf die
andere Straßenseite durchdrängen konnte. Auf dem Gehsteig konnte man sich auch
kaum bewegen, weil er mit winzigen Verkaufsständen vollgestopft war.
Vor einem vergitterten
Schaufenster stand ein Fleischberg von einem Inder, der einen riesigen Turban
trug.
"Come
in please, have a look!" lud er
Es war ein Schmuckgeschäft, das
nicht mit der Erlesenheit seines Angebots lockte, sondern Goldschmuck nach Gewicht
als Geldanlage verkaufte. Da Arnold einen Vetter hatte, der eine Goldschmiedelehre
absolviert hatte, kannte er sich mit Schmuck besser aus als die meisten Männer.
Er betrat den Shop, weil er ein Gastgeschenk für Meilan
suchte, etwas, das sie ständig auf ihrer Haut fühlen sollte. Das Angebot des Ladens
umfaßte vor allem Halsketten und Armbänder, die aus billig gestanzten Gliederteilen
bestanden. Dieser Schmuck hatte nicht – wie üblich - einen Goldgehalt von
achtzehn Karat, sondern bestand aus fast purem Gold. Das Design war äußerst simpel.
Im Preis waren fast alle gleich. Arnold ließ sich Dutzende von Ketten vorlegen,
bis er eine fand, deren massive Glieder seinem künstlerischen Anspruch genügten.
Der Verkäufer wollte sie ihm in eine pompöse Kassette einpacken. Aber Arnold
zog einen kleinen Beutel aus Brokat vor, den man in die Tasche stecken konnte.
Auf dem Rückweg ins Hotel kaufte
er an einem Imbißstand drei gefüllte Hefeklöße und eine große Flasche Bier. Er
liebte den frischen Mehlgeschmack und die süßsaure Bohnenmus-Füllung.
Mehr brauchte er nicht zum Abendessen.
Er streckte sich auf seinem
breiten Bett aus und zog die Wandlampe so zu sich heran, daß er den Hotelprospekt,
von dem er Meilan erzählt hatte, bequem studieren konnte.
Das Hotel, dessen
Reklamebroschüre im Chinesischen Reisebüro
in der Nathan Road 27-33 ausgelegen hatte, faszinierte ihn seines Namens wegen.
Es hieß Satellitenhotel. Und dieser Name kam nicht von ungefähr. Das Hotel
befand sich in West-Sezuan am Rande der Stadt Xichang.
Sechzig Kilometer von Xichang entfernt lag in zweitausend Meter Höhe im Schaba-Tal der chinesische Weltraumbahnhof, wo die
dreistufigen Interkontinentalraketen vom Typ Langer-Marsch-III
getestet wurden. Früher militärisches Sperrgebiet, war die Raketenbasis
inzwischen zur Touristenattraktion befördert worden, weil die chinesische Armee
ihre Raketen kommerziell nutzen und gegen Devisen westliche Satelliten in den
Orbit schießen wollte. Sogar dem Start eines Mediensatelliten, der geostationär
über Ostasien das Programm der Deutschen Welle ausstrahlte, hatte Peking zugestimmt.
Aber Arnold hatte noch nie gehört, daß ein deutscher China-Experte den
chinesischen Weltraumbahnhof wirklich besucht hatte. Er würde vielleicht der
erste sein, und die Beamten im BMZ würden Augen machen, wenn er beiläufig einflöchte,
daß er letzten Monat in der Kantine des chinesischen Raketenzentrums Ziegenfleisch
mit Knoblauch und Ingwer gegessen hatte.
Das Satellitenhotel, dessen Prospekt er in der
Hand hielt, veranstaltete Tagesausflüge mit dem Autobus zum Weltraumbahnhof.
Die erforderliche Erlaubnis holte das Hotel ein, brauchte dafür aber vier bis fünf
Tage, so daß der Tourist genötigt war, eine Woche im Hotel zu leben.
Da Zhang Meilan
ihn gleich bei ihrer ersten Begegnung an ein Flakgeschütz hatte setzen wollen,
nahm er an, daß sie sich auch auf den Besuch einer Raketenbasis freuen würde.
Er erinnerte sich, in einem Buch über Cape Canaveral gelesen zu haben, daß die
Atmosphäre der amerikanischen Startbasis auf Besucher-Paare animierend wirken
sollte. Kühne Erwartungen beförderten ihn in die Umlaufbahn seines Schlafs.
Der Stolz des Hongkonger Flughafens
Kai Taks waren die Ausgänge in der Abfluggalerie, die
es dem Reisenden erlaubten, durch einen Teleskopgang direkt in den Rumpf seiner
Maschine zu schreiten, oft einer Boeing 747, deren eindrucksvolle Silhouette
sich in der Flughafenwand spiegelte. Die kleinen Maschinen, die von Hongkong
nach China flogen, kamen nicht in den Genuß dieser prestigeträchtigen
Abfertigung. Der Reisende mußte mehrere Treppen zu Fuß nach unten steigen, bis
er in einen ebenerdigen Warteraum gelangte, von dem aus man dann mit dem Bus
zum Flugzeug gefahren wurde.
Im Warteraum im Erdgeschoß waren
vielleicht sechzig Leute versammelt. Zumeist Festlandschinesen in ihren altmodisch
geschnittenen Anzügen aus lange haltbarem Stoff. Ihm fiel eine Frau seines
Alters auf, vielleicht auch drei, vier Jahre älter, mit kurzgeschnittenem
grauem Haar, einer ärmellosen Seidenbluse und einem knielangen engen Rock. Mit
einer gewissen Belustigung betrachtete sie das Geschehen auf dem Flugfeld. Als
er an ihr vorbeiging, erwiderte sie seinen Blick. Das wiederholte sich, als er
sie auf seinem zweiten Rundgang wiedersah.
"Entschuldigung,"
sprach er sie an, "wohnen Sie in Tschungking
oder fahren Sie zu Besuch hin?"
"Ich arbeite dort. Ich war
nur geschäftlich in Hongkong. Und Sie?"
"Ich fliege zum ersten Mal
hin."
"Dann werden Sie eine
erstaunliche Stadt kennenlernen. Nur schade, daß wir erst bei Dunkelheit ankommen."
"Wissen Sie," sagte er
spontan, "Sie erinnern mich in Ihrem Aussehen an eine bekannte
Künstlerin."
"So?"
"Es ist die Autorin Han Suyin, mit der Sie
Ähnlichkeit haben. Sie hat einen Roman geschrieben, der unserer Reiseziel behandelt: "Destination Tschungking".
Sie packte seinen Ellenbogen:
"Sie kennen Han Suyin
persönlich?"
"Ich habe sie bei
Veranstaltungen getroffen."
"Was ist sie für ein Mensch?
Was macht sie für einen Eindruck?"
"Sie ist ungeheuer lebendig,
schlagfertig, an Menschen interessiert. "
"Genauso habe ich sie mir
vorgestellt. Ich besitze alle Bücher von ihr, die es auf Chinesisch gibt. Sie
hat viel über Sezuan geschrieben. Ich habe beruflich
mit Büchern zu tun." Sie hatte ihre Visitenkarte griffbereit. Sie hieß Liu
und war Bibliotheksdirektorin in Tschungking. Er
mußte umständlicher nach seiner Visitenkarte kramen und überreichte sie ihr mit
beiden Händen, was in China als Geste der Höflichkeit gilt.
Eine verzerrte
Lautsprecheransage, die Frau Liu für ihn übersetzte, forderte die Reisenden auf
Kantonesisch und Hochchinesisch auf, den Bus zu
besteigen, der sie zum Flugzeug brachte.
Sie hielten sich beide an der
gleichen Haltestange im Bus fest, und Frau Liu erzählte weiter: "Han Suyin ist nicht nur eine
große Autorin, sie ist auch eine äußerst tüchtige Geschäftsfrau. Sie besitzt
ein Haus in Tschungking, und sie hat es fertiggebracht,
sich das Eigentum an diesem Haus durch all diese turbulenten Jahrzehnte zu
erhalten."
Das Flugzeug war eine russische Turbopropmaschine. Zwei Sitzreihen auf jeder Seite. Daß er
ganz vorne saß, in der zweiten Reihe am Fenster, war eine Bevorzugung, die Ausländern
in China oft zuteil wird, damit sie einen guten Eindruck von ihrem Gastland mit
nach Hause nehmen. Seine Gesprächspartnerin mußte weiter nach hinten
durchgehen. Kaum hatte die Maschine ihre Flughöhe erreicht - was bei diesem Typ
schnell ging, erhob sich Arnold und zwängte sich durch den Mittelgang auf der Suche
nach Frau Liu. Sie hatte den vorletzten Fensterplatz ganz hinten. Er zeigte dem
gelangweilt aussehenden Mann, der auf dem Gangplatz neben ihr saß, seinen Boardingpaß mit der Sitzplatznummer 2D und schlug ihm einen
Tausch vor. Der Mann verstand nicht sofort, was Arnold wollte, aber als er
begriff, daß er vorne die Aussicht genießen konnte, ließ er sich gerne zu Arnolds
Platz geleiten und blickte sofort höchst zufrieden aus dem Fenster. Arnold nahm
seinen Bordcase aus dem Oberfach und begab sich nach hinten.
"Das ist sehr freundlich von
Ihnen," sagte sie.
"Ich wollte Sie noch so viel
fragen." Er mußte sich wegen des Fluglärms nah an ihr Ohr heranbeugen und
sah, daß sich auf ihrem Nacken eine Gänsehaut gebildet hatte.
"Sie frieren ja."
"Es ist eiskalt. "
Er öffnete seinen Bordcase, der
eigentlich nur eine alte Lufthansa-Umhängetasche war, und holte seinen Wollpullover
heraus. Er drapierte ihn sorgfältig über ihre Schultern, um möglichst Arme,
Rücken und Brust zu bedecken. Dann drückte er fest ihre Schultern. Sie lehnte
sich dankbar an ihn an.
"Ich fühle mich schon viel
besser," sagte sie. "Wissen Sie, wo Sie übernachten werden?"
"Eine Bekannte holt mich am
Flughafen ab. Sie hat für mich ein Zimmer reserviert."
"Das ist gut zu wissen. Ich
werde wahrscheinlich von meinem Sohn abgeholt. Ich habe drei Kinder und einen
Mann."
"Ist der Flughafen weit von
der Stadt?"
"Etwa vierzig Minuten mit
dem Auto. Aber es gibt einen Flughafenbus. Haben Sie geschäftlich in Tschungking zu tun?"
"Meine Bekannte ist Managerin
bei einer Textilfirma. Aber wir wollen eine private Urlaubsreise unternehmen."
"Das ist ungewöhnlich. Für
eine solche Reise braucht man die Genehmigung des Arbeitgebers, die nicht
leicht zu bekommen ist."
"Damit scheint meine
Freundin keine Schwierigkeiten zu haben."
"Wie lange kennen Sie sich
schon?"
"Ungefähr einen Monat."
"Also ganz neu. Wollen Sie
sie heiraten?"
"Wir wollen uns auf dieser
Reise persönlich näher kennen lernen."
"Auf Ihrer Visitenkarte
steht, Sie sind Bankier. Haben Sie geschäftliche Beziehungen zur Firma ihrer
Bekannten?"
"Nein, überhaupt nicht. Das
Chinageschäft meiner Bank konzentriert sich weitgehend auf die Finanzierung von
Entwicklungshilfe, die das deutsche Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
vergibt."
"Verzeihung, ich bin Ihnen
nicht gefolgt."
"Ich bin Deutscher. Meine
Regierung gibt jedes Jahr der Volksrepublik China für annähernd eine Milliarde Yüan verbilligte Kredite, um Projekte des Umweltschutzes zu
fördern."
"Und unsere Regierung nimmt
die Kredite an?"
"Seit vielen Jahren."
"Davon habe ich noch nie
etwas gehört."
"Das ist unser Fehler, wir
müßten mehr Werbung dafür machen. Um nur ein Beispiel zu nennen, Deutschland
hat Hunderte von Kühen und Stieren mit Flugzeugen nach China gebracht, um hier
die Milchproduktion zu verbessern."
"Den Erfolg sieht man im
Supermarkt. Aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, daß es das Verdienst Ihres
Landes ist."
"Wir geben Hilfe zur
Selbsthilfe."
"Die Beziehung zu Ihrer
Bekannten ist also rein privat? Geschäftliche Interessen spielen nicht
hinein?"
"So sehe ich es."
"Wie romantisch. Sie
unternehmen die Reise, um einander näherzukommen."
"Und China besser
kennenzulernen."
"Haben Sie schon ein festes
Reiseziel?"
"Ich dachte, wir fahren in
die Berge im Westen von Sezuan."
"Haben Sie etwas Festes
gebucht?"
"Ich glaube nicht. Darüber
müssen wir uns noch einigen."
"Wollen Sie sich von mir
alter Frau einen Rat geben lassen?"
"Sehr gerne."
"Verzichten Sie auf die
Berge, wenn Sie mit Ihrer Partnerin verreisen."
"Warum? Ich liebe das Gebirge."
"Vor zwölfhundert Jahren hat
der Dichter Li Bai, der hier geboren wurde, ein Gedicht geschrieben: "Das
Reisen in Sezuan ist schwierig."
"Ja, damals."
"Wissen Sie was er sagt? Die
Berge sind zu hoch, die Flüsse zu reißend, das Wetter zu schlecht, die Herberge
unbequem. Daran hat sich nichts geändert."
"Ich dachte, das gemeinsame
Erlebnis einer aufregenden Landschaft..."
"Wie hoch ist der höchste
Berg Deutschlands?"
"Knapp dreitausend
Meter."
"Das ist niedriger als der
buddhistische Tempelberg Omeishan, den viele
Touristen und Wallfahrer besuchen. Die wirklich hohen Berge sind zweieinhalb
Mal so hoch. Wenn Sie ins Gebirge fahren, wird Ihnen die Höhe Probleme machen.
"
"Daran habe ich überhaupt
nicht gedacht." Er erinnerte sich, daß er auf der Bettmeralp,
die genauso hoch lag, wie das Raketenstartzentrum Xichang,
schon Anfälle von Atemnot bekommen hatte, wenn er sich bloß die Stiefel
zuschnürte. In einer solchen Verfassung wollte er sich Zhang Meilan natürlich
nicht präsentieren.
"Kennen Sie einen ungewöhnlichen
Urlaubsort, der eindrucksvoll und erholsam wäre?"
"Hier in Sezuan
liegt die Kleinstadt Dazu mit einem tausend Jahre alten bhuddistischen
Höhlentempel in einer sehr harmonischen Landschaft. Eine Flugstunde von Tschungking entfernt ist die alte Hauptstadt Xian, voller historischer Sehenswürdigkeiten. Dort leben
Menschen schon seit einer Million Jahre."
"Und Guilin?"
fragte er.
"Ja richtig. Die
Flußlandschaft mit den bizarren Felsformationen. Das Ziel aller
Hochzeitsreisenden." Ein Unterton von Eifersucht schwang in ihrer Stimme
mit.
Die Stewardeß brachte die
Formblätter, die man für die Paßkontrolle ausfüllen mußte. Eine Rubrik stellte
die Frage: "Angehörige in China". Arnold schrieb vielleicht zum
letzten Mal "No."
Nach der Landung verabschiedete
er sich von Frau Liu. Unter dem Schild "Immigration" gab es getrennte
Abfertigungsschalter für Einheimische und Fremde. Der Beamte, der Höflichkeit
ausstrahlte, führte Arnolds Reisepaß ins Computerlesegerät ein. Dann blätterte
er den Ausweis aufmerksam durch und vertiefte sich in die alten China-Visa.
Jedes Visum ist nicht nur handschriftlich numeriert, sondern enthält auch einen
Kennbuchstaben, der den Reisezweck enthüllt. Ein "L" steht für
Tourist, ein "C" heißt Business, und "J" bekamen Journalisten.
In Arnolds Paß gab es sowohl "C"s als auch
"L"s.
"Diesmal nicht auf
Geschäftsreise?" fragte der Beamte.
"Ich mache Urlaub.
Ferien."
"Willkommen in Sezuan." Er drückte seinen runden, roten Stempel in
den Paß und händigte ihn Arnold aus.
Am Zoll hatten sich Warteschlangen
gestaut. Jedes Gepäckstück jedes chinesischen Staatsbürgers mußte geöffnet
werden. Arnold sah, was die Mitreisenden in ihren Koffern hatten, mitleidslos
vom Neonlicht der Hallendecke gebleicht. Er konnte nicht erkennen, wonach die
Zöllner suchten. Vielleicht wollten sie nur das Prinzip aufrecht erhalten, daß
Kontrolle besser war als Vertrauen.
Die Zeiten, da Hongkong-Besucher
Fernsehgeräte und Videorekorder heim schleppten, gehörten der Vergangenheit an.
Das häufigste Reisemitbringsel waren
diesmal superlange Warmhaltebecher mit Schraubdeckeln. Sie waren in Chromfarbe
galvanisiert und sahen aus wie abgefeilte Artilleriegeschosse. Ein junger
Zöllner schraubte einen Becher so vorsichtig auf, als entschärfte er einen
Blindgänger. Der Becher war leer. Noch bevor Arnold dran war, sah er Zhang Meilan hinter der Absperrung. Sie trug ein kornblumenblaues
Sommerkleid und schlug Räder mit den Armen, als sie ihn erkannte. Arnold mußte
sein Gepäck überhaupt nicht öffnen, und dann hielt Meilan ihm ihr Gesicht zum Wangenkuß
hin. Er mußte sich zu ihr hinunter bücken. Sie war aufgeregt und noch schöner,
als er sie in Erinnerung hatte. Das Kleid, das sie auf dem Leibe trug, war ein
zweiteiliges Kostüm aus jenem grobfädig gewirkten Seidengewebe,
das der verschollene Jim Thompson als Thai-Seide zu vermarkten versucht hatte.
Aber in China, dem Ursprungsland der Seide, hatte man bestimmt einen eigenen
Namen dafür.
"Es gibt einen Hotelbus, den
wir nehmen können, "sagte sie. "Er hält etwas abseits." Sie
wollte ihm helfen, seinen großen Koffer dorthin zu rollen, und beim Versuch,
das nicht zuzulassen, konnte er ihre kleine, kräftige Hand lange drücken. In
der Dunkelheit des Flughafenvorplatzes vermochte er ihren Gesichtsausdruck
nicht zu erkennen.
Der Hotelbus war ein Minibus mit
eiskalt blasender Klimaanlage. Der Motor lief, aus der Stereoanlage kam
hitziger Kanton-Rock. Sie setzten sich auf die hinterste Bank, und sie breitete
einen Touristenstadtplan über seinen und ihren Knien aus.
"Warst du schon einmal in Tschungking?"
"Auf der Durchreise zu einer
Yangtse-Kreuzfahrt. Ich habe in einem Hotel
übernachtet, das wie der Himmelstempel in Peking ausah,
aber viel größer war."
"Das Volkshotel. Es wird zur
Zeit renoviert. Ich habe dich in einem Hotel untergebracht, das viel moderner ist.
Ich bekomme dort Firmenrabatt."
Die Formulierung ließ offen, ob
sie das Zimmer für sie beide oder für ihn allein gebucht hatte. Er wagte nicht
nachzufragen.
"Wir sind hier." Sie
zeigte auf einen Punkt außerhalb der Karte. "Die Stadt Tschungking
liegt wie ein gestrandeter Walfisch zwischen zwei Strömen, die an seinem Kopf
zusammenfließen, der Yangtse und der Jialing. Wenn der große Damm fertig ist, beginnt hier der Yangtse-Stausee. Fünfhundertfünfzig Kilometer lang."
Als der Bus losfuhr, war die
Dunkelheit schon hereingebrochen. Man sah nichts von der Landschaft. Auf der
Zufahrt zur Jialing-Brücke gerieten sie in einen
Stau. Der leichte Nebel, der über dem Fluß hing, dämpfte das Flackern der
Leuchtreklamen, die in rot, blau, grün und gelb den Umriß der gegenüberliegenden
Innenstadt markierten. Der Anblick erinnerte an Hongkong bei Nacht.
Ihr Hotel lag am Hang, wie die
meisten Gebäude der Stadt. An der Rezeption half Zhang Meilan ihm beim
Ausfüllen des Anmeldeformulars. Sie nahm den Schlüssel in die Hand, ergriff seine
Flugtasche und führte ihn zu den Liften. Sein Zimmer war im elften Stock. Sie
schloß für ihn auf. Es war ein großer Raum mit zwei französischen Betten. Er
wollte ihr den Vortritt lassen. Aber sie stellte die Flugtasche ab und sagte:
"Ich warte im Flur."
Er sah sich um. Die
Etagenrezeption war nicht besetzt.
"Du kannst mir beim
Auspacken des Koffers helfen. Ich habe ein Geschenk für dich mitgebracht."
"Keine Zeit. Wir müssen uns
unten hinsetzen und festlegen, wo wir hinfahren."
Er nahm seine Papiere aus dem
Bordcase, steckte das Geschenk in die rechte Anzugtasche und schloß das Zimmer
wieder ab.
Das Hotel hatte eine Art Bar mit
Fliesenboden und Holzdecke und frei im Raum stehenden Tischen auf zwei Ebenen.
Nur wenige waren besetzt. Sie suchten sich einen Tisch aus, auf dessen Platte
ausreichend Licht fiel. Sie holte einen Packen Reiseprospekte mit Gebirgslandschaften
hervor.
"Ich habe es mir
überlebt," sagte Arnold. "Ende Mai liegt in den Bergen noch Schnee,
und wo er wegtaut, wird der Boden matschig. Es ist einfach zu früh."
Sie sah ihn mitfühlend an.
"Ich habe mir schon gedacht, daß es für dich etwas anstrengend wird. Hast
du einen anderen Vorschlag?"
"Guilin
soll sehr schön sein. Es ist nur eine Flugstunde von hier."
Sie nickte zustimmend. "Warum
nicht. Nach Guilin wollte ich immer schon. Das müßte
gehen, wenn nicht alles ausgebucht ist."
Ihre Entschlußfreudigkeit
überraschte ihn. Er hatte mit langen Diskussionen gerechnet.
"Gib mir deinen Paß und ein
par hundert Dollar, dann versuche ich morgen früh gleich als erstes Flugplätze
zu bekommen."
Sie steckte alles ein. "Ich
sehe dich morgen früh gegen zehn hier im Hotel."
"Mußt du schon gehen? Ich
wollte noch..."
"Wir wissen jetzt was wir
wollen. Ich muß früh raus. Vielleicht können wir schon morgen nachmittag fliegen."
Er begleitete sie zum
Hoteleingang und half ihr beim Einsteigen ins Taxi. Er war überhaupt nicht dazu
gekommen, ihr sein Geschenk zu überreichen. Es fühlte sich gewichtig an, als er
es in der Jackentasche berührte.
Er bedauerte ein wenig, nicht in
das Raketenzentrum zu kommen. Aber das Ziel seiner Reise war das Zusammensein
mit ihr gewesen, und nicht technologisches Sightseeing. In der Nacht schlief er
schwer ein, und morgens wollte er nicht aufwachen. Nach Kölner Zeit hätte er
noch viele Stunden schlafen dürfen.
Als er in den Frühstücksraum kam,
waren die Platten mit dem Aufschnitt für das Büffetfrühstück schon größtenteils
leer und wurden nicht mehr aufgefüllt. Er nahm sich eine Schale Yoghurt mit
Honig und eine Reissuppe.
Er löffelte noch an der Suppe als
Zhang Meilan hereinkam.
"Gute Nachricht. Ich habe
zwei Flugtickets für morgen mittag." Sie legte seinen Paß, die Flugscheine
und eine Menge chinesische Yüan-Noten auf den Tisch.
"Hier ist der Rest des Geldes."
"Du wirst noch mehr Ausgaben
haben," sagte er, und wollte es ihr zurückgeben.
"Nein, nein. Du brauchst
Bargeld. Wechsel keine Dollar. Laß mich das für dich tun."
Sie griff sich einen sauberen
Porzellanlöffel und probierte seine Reissuppe.
"Ich wollte dir heute Tschungking zeigen. Es ist etwas dazwischen gekommen. Durch
den Flug nach Guilin. Kannst du dich heute Mittag
allein beschäftigen? Ich muß noch in die Firma. Ich hole dich am späten
Nachmittag ab. Dann gehen wir zusammen essen."
Sie brach auf, ohne auf Antwort
zu warten.
Er zog sich auf seinem Zimmer für
einen Stadtbummel um. Die meisten Straßen führten steil bergauf oder bergab.
Ihm fiel sofort auf, daß es hier kaum Tante Emma-Läden chinesischen Stils gab,
jene simplen Verkaufsbuden, die in wirtschaftsschwächeren Gebieten Hauswand an
Hauswand das gleiche Angebot führten: Erfrischungsgetränke in Papptüten, Instant-Nudeln und Zigaretten der Marke "Rote
Pagode." Tschungking war ein Zentrum der neuen Informationstechnologie.
Er sah viele Computergeschäfte, vor allem Softwareshops, die Programme, Spiele
und Videokassetten führten. In einem Laden wurden ihm ungefragt die deutschen
Versionen von "Windows für Workgroups" und "Winword"
für je zwanzig Mark auf CD angeboten. Bei den Geräten ging der Trend zu
Servern, Netzwerken, Workstations. Es gab kaum Hinweise auf die Prozessor-Geschwindigkeiten
von Einzelgeräten. Das war passee. Mitten in der
chinesischen Provinz sah er die Zukunft der Computer-Revolution: Die Vernetzung
ganzer Nationen.
Als er seinen Schritten bergab
folgte, kam er zur Brücke über den Jialing-Fluß, die
hoch über das Flußbett führte, in viel größerer Höhe als die Severinsbrücke über den Rhein. Vor ihm schlenderte ein
untersetzter Mann in einem abgeschabten blauen Arbeitsanzug, der eine Art
Bumerang auf der Schulter trug. Es dauerte einen Augenblick, bis Arnold begriff,
daß dieses Holz eine Tragestange für den Transport von Lasten war, mit einer
breit geschnitzten Mulde für die tragende Schulter. Dieser Mann war weniger als
ein Tagelöhner, er war in die Stadt gekommen, um seine Arbeitskraft für das gelegentliche
Tragen von Lasten zu verdingen. Die Holzstange war sein Arbeitswerkzeug. Der
Mann bückte sich und las etwas von der Straße auf. Dann lehnte er sich gegen
das Brückengeländer.
Jetzt wird er aus Verzweiflung hinunterspringen,
dachte Arnold. Wie kann ich das verhindern? Es waren kaum Fußgänger und fast
keine Radfahrer unterwegs. Als Arnold näher kam, sah er, daß der Träger sich
aus Kippen eine neue Zigarette drehte. Er hatte ein Feuerzeug, mit dem er sie
trotz des Windes anzünden konnte. Als er den Rauch von sich blies, machte er
ein so zufriedenes Gesicht, als sei er gerade zum Kaiser von China gewählt
worden.
Die Wartezeit bis zum Abendessen
verbrachte Arnold auf seinem Hotelzimmer mit dem Beobachten von Fernsehprogrammen.
Die Werbeblöcke füllten bis zu einem Drittel der Sendezeit, aber die einzelnen
Anzeigenprogramme waren noch nicht so verbraucherpsychologisch ausgefeilt, wie
man sie beispielsweise in Thailand sah. Hier gab es noch ein Betätigungsfeld
für Werbeagenturen.
Das Telefon klingelte. Sie
wartete unten. Es waren nur ein paar hundert Meter zu Fuß zu dem Restaurant, in
dem sie einen Tisch vorbestellt hatte. Auf den ersten Eindruck sah es nach
nichts aus. Eine Reihe Tische in einer verglasten Terrasse mit Talblick. Die gegenüberliegenden Hügel sah man durch den
Smog nur umrißhaft. Die Tische wirkten alle defekt. Ihnen fehlte in der Mitte
ein Stück der Tischplatte. Die Beine waren am Boden festgeschraubt, wie im
Speisesaal eines Ozeandampfers. Im offenen Ausschnitt der Tischplatte sah er einen
Kupferkegel, der die Düse eines Gasbrenners sein mußte, nach dem Schlauch zu urteilen,
der an ihm festgeklemmt war.
"Du lernst die Spezialität
unserer Stadt kennen," erläuterte Zhang Meilan, "den Tschungkinger Feuertopf."
"Ich habe in Peking den
mongolischen Feuertopf gegessen. In Singapore nennt
man ihn Steamboat."
"Das kannst du nicht
vergleichen. Der mongolische Feuertopf wird in Wasser gekocht. Wir nehmen
Speiseöl. Es wird in einer Metallwanne hier in den Tisch eingelassen und dann
mit einer Gasflamme heiß gehalten."
Er hatte nicht den Wunsch, sie
darüber aufzuklären, daß er in Köln gelegentlich eine Bekannte, der er nahe
sein wollte, zum Fondue Bourguignone einlud. Aber
hier konnte man nicht übereck am Fondue sitzen, es gab nur zwei gepolsterte Plastikbänke,
auf denen man sich gegenüberhockte. Der Gasbrenner erinnerte an ein Chemielabor.
Als erstes servierte man ihnen
bitteren Tee in einem halben Dutzend winziger Becher. Er faßte in seine Tasche.
"Ich habe dir etwas mitgebracht.
Es ist nicht richtig verpackt, weil ich es durch den Zoll schmuggeln
mußte."
"Die ist wunderschön,"
rief sie, als sie die Halskette aus hochkarätigem Gold sah. Sie drückte die
Kette gegen ihre Wange, um ein Gefühl für das Material zu bekommen oder das
Metall anzuwärmen. Dann nahm sie die dünne Kette, die sie umhatte, ab und legte
sein Geschenk an. Ihre Finger waren so geschickt, daß er keine Gelegenheit
hatte, ihr mit dem Verschluß zu helfen.
Genau wie beim Fondue Bourguignone gab es eine Menge schmackhafter Soßen in
kleinen Porzellanschälchen. Er probierte sie vorsichtig mit den Spitzen der
Eßstäbchen und hatte schnell seine Favoriten gefunden. Das heiße Öl wurde gebracht.
Zum Frittieren des Fleischs gab es kleine Metallsiebe.
"Die Spezialität dieses
Hauses," erläuterte sie, als zwei beladene Bleche ankamen, "sind
fünfzig Sorten Fleisch und fünfzig Sorten Gemüse."
"Wieviel essen wir heute
Abend?"
"Alle fünfzig."
Er war schockiert. Es war eine
viel zu große Geste, dem bisherigen Stand ihrer Beziehung völlig unangemessen.
Es war ein Signal, daß sie mehr mit ihm vor hatte.
Für Chinesen war Essen mehr als
Nahrungsaufnahme, es war ein Akt der Kommunion, der menschliche Beziehungen stiftete.
Vorerst allerdings saßen sie sich gegenüber, das brodelnde Öl zwischen ihnen.
Er stellte im Kopf eine Tabelle
auf. Fünfzig Sorten Fleisch. Dazu gehörten Haustiere, Wildtiere, Vögel, Fische,
Schalentiere, Weichtiere, Insekten.
Sie war schon dabei die ersten
Krabben für ihn zu fritieren.
Er war überwältigt von Zuneigung
für sie und Abneigung gegen das Essen. In Öl gesotten, mußten die fünfzig Gemüsesorten
alle ähnlich schmecken, und der Gedanke daran, von was für Tierarten die
Fleischfetzen auf dem Blech stammen könnten, schnürte ihm den Magen zusammen.
Was ihn durchhalten ließ, war das alkoholarme Bier der einheimischen Marke
"Doppelte Gratulation", das auch hier in großen Flaschen serviert wurde.
Nach zwanzig verschiedenen
Tierarten - alle in Öl gesotten - war
sein Kooperationswille völlig erschöpft. Sie wollte nicht alles zurückgehen
lassen, und er sah mit Verwunderung, wie sie in ihren appetitlichen Mund sog,
was Scheiben von Eidechsen, Lurchen, Molchen oder Salamandern sein mochten.
"Als ich ein Baby war,"
erzählte sie, als ob sie ihm eine Erklärung schuldig wäre, "hatten wir die drei schwierigen
Jahre 196o bis 1962. Viele Menschen sind gestorben. Ich bekam nicht genug Aufbaustoffe.
Ich glaube immer, ich muß das nachholen, damit mein Körper länger hält."
"Ich war als Kind auch
unterernährt. Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg."
"Bei euch ging es schnell
aufwärts. Wir hatten in der Kulturrevolution wieder Probleme. Du hättest mich
mit Vierzehn sehen sollen."
Sie hielt ein Eßstäbchen in die
Höhe: "So sah ich aus. Meine Periode habe ich erst mit Sechzehn bekommen."
"Du bist auch heute
wunderbar schlank."
Sie schenkte ihm einen tiefen
Blick und legte die Stäbchen weg. Die halbvollen Platten und das heiße Öl
wurden in die Küche zurückgetragen. Er konnte die Hand ausstrecken und ihren
Oberarm berühren.
In dieser Nacht schlief er gut,
und sein Bett kam ihm nicht mehr zu breit vor für einen allein.
Er sah die goldene Kette wieder
an ihr, als sie ihn am Spätvormittag zum Weiterflug abholen kam.
"Können wir ein Taxi
nehmen?" fragte sie. "Ich habe meinen Koffer zuhause stehen lassen.
Ich war noch im Büro."
In einer ruhigen Wohnstraße hoch
auf dem Rücken des Walfischs bat sie den Fahrer, das Tempo zu verringern.
"Da," rief sie
unvermittelt, "da steht mein Vater mit dem Gepäck."
Ihr Vater war ein graziler
älterer Herr mit weißen Haaren. Arnold sprang sofort aus dem Auto, begrüßte den
Vater, überreichte ihm seine Visitenkarte und erklärte ihm, welches seine
ständige Adresse war. Er hatte ein schlechtes Gewissen. Er wußte nicht, was die
Etikette vorschrieb, wenn man einem Vater die achtunddreißigjährige Tochter
ausspannte.
Wenn er gewußt hätte, daß sie
sich sehen würden, hätte er ihm ein Geschenk mitgebracht. Der Vater war ein
fürsorglicher, abgeklärter alter Mann, für den Arnold genau so viel Sympathie
empfand, wie für die Tochter. Er bildete sich ein, in seinem Gesicht zu lesen,
daß der Alte ihn mit mehr Wohlwollen als Mißtrauen betrachtete. Er schien weder
eine Abneigung gegen Ausländer zu haben, noch ungeduldig darauf zu warten,
seine erwachsene Tochter in feste Hände zu geben. Es beunruhigte ihn offenbar
nicht besonders, daß ein fünfzigjähriger Fremder sein Kind in eine andere
Provinz mitnahm, um dort Tag und Nacht mit ihr zusammenzuleben. Es schien ihn
eher ein wenig zu amüsieren. Er schüttelte Arnold lange die Hand und wünschte
ihm viel Glück für die Reise.
VIERTES KAPITEL
Auf dem einstündigen Flug nach Guilin genossen sie den Sonnenschein oberhalb der
Wolkendecke. Erst beim Landeanflug
durchstießen sie das wabernde Nebelgrau nach unten und flogen in ein
Gebilde hinein, das wie ein riesiges Haufischmaul wirkte. Kirchturmhohe
Haifischzähne schnappten nach ihnen.
"Kannst du dir
vorstellen," raunte Meilan, "daß das hier vor fünfzig Jahren ein
wichtiger Militärflughafen war? Bei diesen Landebedingungen brauchten unsere
Piloten gar nicht den Japaner als Feind."
Die Maschine krümmte sich nach
links und nach rechts, und dann waren sie sicher auf einem trockenen roten
Streifen gelandet. Das Flughafenpersonal schien gerade Schichtwechsel zu haben.
Niemand ließ sich blicken. Der Bordingenieur wuchtete die Hecktür, die auch als
Treppe diente, nach außen, und die Fluggäste gingen zu Fuß auf das Flughafengebäude
zu. Die meisten Reisenden hatten nur Handgepäck und glitten rasch durch die Abfertigungshalle
ins Freie. Nur ein paar ausländische Travellers und
sie beide mußten in der stockenden Schwüle der Ankunftshalle herumhocken, bis
schließlich zwei Arbeiter einen Handwagen zur Maschine schoben, um das Gepäck
auszuladen. Als sie es endlich nach draußen geschafft hatten, waren alle Taxis
weg. Nur ein vollbesetzter Bus stand noch da, aus dessen geöffneter Eingangstür
eine junge Frau in der Uniform einer Schaffnerin ihnen zuwinkte. Sie fanden
noch Stellplatz für ihr Gepäck und konnten sich selbst dazwischen zwängen, dann
schloß sich die Tür und der Bus fuhr los.
"Haben Sie schon ein
Hotel?" fragte die Schaffnerin, die den Fahrpreis kassieren kam.
"Nein."
"Ich setze Sie am Osmanthus-Hotel ab. Das ist ordentlich und preiswert."
Nach einer halbstündigen Fahrt im
Stehen, bei der man nicht viel durch das Fenster sehen konnte, hielt der Bus.
Ihr Hotel war ein dreigeschossiger Bau mit Zimmern nach zwei Seiten. Sie waren die einzigen Gäste, die hier
ausstiegen. Als sie mit ihren Koffern vor dem Eingang standen, sagte Meilan
plötzlich:
"Ich kann nicht mit
hineinkommen. Ich kann nicht mit dir in einem Hotel wohnen."
Er war fassungslos. "Was
willst du machen? Wo willst du wohnen?"
"Ich werde schon etwas
finden."
"Halt, halt," sagte er,
"du könntest mir wenigstens bei der Anmeldung hier helfen. Dann weißt du
auch, welche Zimmernummer ich habe."
Er ging voran, sie folgte ihm
zögernd.
"Guten Abend," sagte er
in seinem besten Chinesisch zum Mann an der Rezeption, der sich ihm mit dem
Meldeblock in der Hand zuwandte, "wir beide sind gerade mit dem Flugzeug
aus Tschungking angekommen. Wir wollen hier ein paar
Tage Ferien machen. Meine Freundin befürchtet, weil sie Chinesin ist und ich
ein Ausländer bin, darf sie nicht im gleichen Hotel mit mir übernachten."
Der Rezeptionist
lächelte Meilan charmant an. "Ich kenne die Vorschriften in Tschunking nicht," er sprach betont langsam und
deutlich, damit auch Arnold ihn verstehen konnte, "aber wir haben hier
keine Bestimmung dieser Art. Ich gebe Ihnen zwei Zimmer im dritten Stock mit
Blick auf den Elefantenkopfberg."
"Das wäre sehr schön,"
sagte Arnold schnell, und zu Meilan gewandt: "nicht wahr?"
Auf ihrem Gesicht spiegelten sich
widerstrebende Empfindungen. Sie war empört, weil er ihre Ausrede hinterfragt
hatte, sie fühlte sich geschmeichelt, weil der Empfangschef sie so höflich behandelte,
sie war erleichtert, nicht mehr in einer fremden Stadt auf Zimmersuche gehen zu
müssen, und sie war besorgt, ob sie auch wirklich das Richtige tat.
Arnold bekam die Schlüssel für
die nebeneinander liegenden Zimmer 316 und 318.
"Ich nehme das erste,"
sagte sie. Er schloß es auf und wollte mit hinein, aber sie versperrte ihm mit
ihrem Körper und dem Koffer den Zugang.
"Ich möchte das Zimmer
sehen," protestierte er.
"Deines sieht genauso
aus."
Sein Zimmer, die 318, war ein
schöner Raum mit Badezimmer, Wandschrank und zwei großen Betten, einem Schreibtisch
mit Fernseher und zwei bequemen Sesseln. Die durchgehende Fensterwand bot einen
wundervollen Ausblick auf ein bizarre Steinmassiv, das der Elefantenkopfberg
sein mußte, daneben eine Flußschleife, die sich mitten durch die Stadt zog,
und zuckerhutförmige Steinkegel, die
zwischen den Parks und Wohnhäusern der Stadt in die Höhe wuchsen, fünfzig,
achtzig, hundertzwanzig Meter hoch, die Haifischzähne, von denen sie beim Anflug
beinahe verschlungen worden wären. Es war ein Anblick, wie auf alten
chinesischen Rollbildern.
Das Telefon auf seinem Nachttisch
läutete.
"Siehst du die Berge?"
fragte Zhang Meilan. "Ist es nicht wie ein Traum? Ich hole dich in einer
Viertelstunde zum Abendessen ab. Ja?"
Es war gut, daß sie hierher
geflogen waren. Das Beste, was ihnen passieren konnte.
Das Gebäude, in dem sie untergebracht waren, erwies
sich als Altbauflügel eines Hotels, zu dem noch ein Zentralgebäude mit Restaurants,
Bar und Läden gehörten, sowie ein Neubauflügel mit eigener Rezeption, in dem
die Räume doppelt so viel kosteten und hauptsächlich an ausländische Reisegruppen
vergeben wurden. Zum Abendessen wollte Meilan von den drei Restaurants des Hotels
dasjenige probieren, das westliche Speisen servierte. Sie bestellte
Rindersteaks mit Pommes frittes.
Durch die hohen Fenster des
Speisesaals fiel der Blick auf einen See, den Bäume säumten, die groß wie
Roßkastanien waren, aber dickere, ledrige Blätter besaßen.
"Weißt du, was das für Bäume
sind?" fragte er.
"Feigenbäume."
"Bei uns am Mittelmeer sehen
Feigenbäume ganz anders aus, niedriger, buschiger, mit violetten Früchten und
breiten Blättern, hinter denen sich Adam und Eva versteckten, als sie nicht
mehr nackt sein wollten."
"Das geht hier schlecht. Du
kommst nicht an die Blätter dran. Unter Feigenbäumen wie diesen hier hat Buddha
gesessen und meditiert. Dabei soll er die Erleuchtung erlangt haben."
"Weißt du auch wann das
war?"
"Das ist bloß eine
Legende."
"Ich kenne das Datum. Es war
der siebzehnte Mai vor zweitausendfünfhundertsechsunddreißig Jahren."
"Wie willst du das
wissen?"
"Dieser Termin ist in
Thailand Nationalfeiertag. Es ist ein buddhistischer Staat."
"Bist du oft in
Thailand?"
"Jedes Jahr. Es ist ein
angenehmes Land. Ich brauche kein Visum."
"Die Frauen sollen sehr
hübsch sein."
"Ich habe keine gesehen, die
auch nur halb so schön war, wie du."
Sie strahlte ihn an, bereit, das
zu glauben. In dem Augenaufschlag, den sie ihm schenkte, sah er die Verheißung,
daß sie gerade erst am Anfang ihres künftigen Glücks standen und das Schönste
noch vor ihnen lag.
Die Steaks westlichen Stils, die
sie bestellt hatten, waren in einer Weise zubereitet, die chinesischen
Eßgewohnheiten sehr entgegen kam. Das Fleisch war vor dem Braten in winzige Steakletts portioniert worden und so stark mit Stärkemehl
und Öl mariniert, daß es butterweich auf den Tisch kam. Man konnte jedes Steaklett mit der Gabelkante in zwei mundgerechte Bissen
zerteilen und damit auf den in China ungewohnten Gebrauch des Messers ganz
verzichten. Der Geschmack war vorzüglich. Als Beilage gab es grünen Gurkensalat
in runden Glasschälchen. Meilan würzte ihre Gurken mit jenem extrem scharfen Tschili-Pfeffer-Mus, das in deutschen China-Restaurants
unter dem malayischen Namen "Sambal
Oleg" auf den Tisch kommt. Da eine Messerspitze davon genügte, um auf
Arnolds Zunge Blasen entstehen zu lassen, verzichtete er auf das Angebot.
Meilan häufte einen Löffel nach dem anderen auf ihre Beilage und rührte sorgsam
um, bis alles Gurkengrün unter einem roten Belag verschwunden war.
"Ich habe schon immer
gehört, daß die Leute aus Sezuan Gewürze lieben. Aber
so scharf - das hätte ich nie für möglich gehalten."
"Ich kenne das nicht anders.
Ißt du deinen Gurken nicht?"
"Ich mag keine rohen Gurken.
Entschuldige."
"Darf ich sie haben?"
Um das zweite Schälchen zu
würzen, mußte ein Glas mit Pfeffermus nachbestellt
werden.
"Was machen wir jetzt?"
fragte er, nachdem er bezahlt hatte.
"Ich möchte auf mein Zimmer
gehen. Du weißt gar nicht, wie sehr ich es genieße, ein Zimmer für mich allein
zu haben. Ein wenig lesen, ein wenig Tagebuch schreiben, Unterwäsche waschen,
darüber nachdenken, was die Zukunft bringt. Und was machst du?"
"Ich werde dich
vermissen."
"Wir sehen uns morgen zum
Frühstück. Acht Uhr. Ja?"
Er begleitete sie bis zu ihrer
Zimmertür. Sie schloß von innen ab. Er wollte noch nicht in seine vier Wände
zurück und sie nebenan wissen, unerreichbar für ihn. Er ging noch mal in die Hotelhalle.
Er wollte sich nicht an die Bar setzen, weil er niemanden im Hotel merken lassen
mochte, daß er den Abend getrennt von ihr verbrachte. Der Andenkenladen
war geöffnet. Er fand einen englischen Reiseführer für Guilin.
Jetzt hatte er eine Aufgabe.
Die Gegend, die sie besuchten,
las er, war früher ein Binnenmeer gewesen, das sich im Laufe von Jahrmillionen
mit einer zweihundert Meter starken Sedimentschicht gefüllt hatte. Die gleiche
Erdbewegung, die auch den Himalaya aus dem Meerwasser
in die Höhe gedrängt hatte, machte aus dem Gebiet von Guilin
ein Hochplateau, das den Erosionskräften von Wind und Wasser ausgesetzt war,
mit dem Erfolg, daß eine bizarre Ansammlung von steinernen Zuckerhüten, Säulen,
Türmen, Buckeln und Pyramiden übrig blieb, die von den Geologen Kegelkarstberge
genannt werden.
Hauptattraktion für die Besucher Guilins war eine mehrstündige Dampferfahrt auf dem Li-Fluß
hinunter nach dem Marktflecken Yangshuo. Während
dieser Fahrt konnte man zu beiden Ufern Hunderte von Kegelkarstbergen
beobachten, denen die Einheimischen beziehungsreiche Namen verliehen hatten.
Aber auch im Stadtgebiet von Guilin selbst gab es drei Felstürme, höher als der Kölner
Dom, die alle ersteigbar waren, auch von ungeübten
Wanderern, und einzigartige Ausblicke boten. Arnold hatte seine Bergstiefel
also nicht umsonst mitgeschleppt.
Zum Frühstück lud Meilan ihn in
das kantonesische Restaurant im Mitteltrakt ein,
dessen Spezialitäten er kennenlernen sollte. Sie trug heute ein dunkelgrünes
Kleid mit kurzen Ärmeln und tiefgeschnittenem Kragen. Sie setzten sich an einen
quadratischen Tisch mit frischer, weißer Tischdecke. Ein junger Kellner goß
ihnen Tee mit soviel Schwung ein, daß sich die ersten Flecken auf dem Tischtuch
bildeten. Frauen in roten Arbeitskitteln schoben Servierwagen mit runden Bambusflechtkörben
zwischen den Tischen hin und her.
"Hier sucht man sich selber
aus, was man ißt," erläuterte sie und winkte eine der Frauen heran, die
von allen ihren Körben den Deckel heben mußte. Meilan wählte gedämpfte Teigtaschen,
die mit Krabben gefüllt waren und Hefeklöße, in denen Schweinefleisch versteckt
war. Die Serviererin holte eine Art Lottoschein aus der Tasche, kreuzte eine
Zahl an und legte den Zettel auf den Tisch. Heiße Suppen in Porzellanschüsseln
mit Deckeln wurden vorübergerollt, es gab Schälchen mit Bohnenkäse, aber in der
Hauptsache bestand das kantonesische Frühstück aus
einem Überangebot an Mehlspeisen. Es gab sogar Canelloni,
die ihm von Meilan hinterhältig als "Schweinedarm" oder
"Rinderdarm" vorgestellt wurden, aber in Wirklichkeit eine
Teigwarenhülle besaßen und mit den verschiedensten Hackfleischarten gefüllt
waren. Zum Bezahlen gab man den ausgefüllten Lottoschein an der Kasse ab.
Er prägte sich das alles ganz
genau ein. Es war der Beginn eines neuen Lebens in einer sich ihm neu
erschließenden Welt. Auf früheren China-Reisen hatte er an internationalen Frühstücksbüffets
herumgestanden.
An der Hotelrezeption konnte man
Ausflüge buchen. Sie trafen den Empfangschef wieder, der ihnen gestern mit den
Zimmern geholfen hatte. Arnold fragte ihn nach der Flußfahrt, die der Höhepunkt
jedes Guilin-Besuchs sein sollte. Der Mann riet ihnen
davon ab, eine beliebige Ausflugsfahrt zu buchen. Davon gäbe es Dutzende, alle
nach dem gleichen Muster, aber wirklich empfehlen könnte er ihnen nur eine
Luxuskreuzfahrt, die ihnen ihr Leben lang in Erinnerung bleiben würde. Für
diese Ganztagesfahrt auf dem Li-Fluß von Guilin nach Yangshuo konnte er ihnen Karten für Sonntag, also in zwei Tagen,
besorgen. Arnold, der dem Empfangschef vertraute, ging auf dieses Angebot ein
und bezahlte gleich im voraus. Meilan machte ein etwas distanziertes Gesicht.
Als Programm für den heutigen Tag
schlug Arnold eine Klettertour auf die Karsttürme im Stadtgebiet vor. Dafür mußten
sie sich umziehen. Arnold holte seine Bundhose und die Bergstiefel aus dem
Koffer, Meilan kam in einem weit schwingenden grün-weiß gestreiftem Rock und
einem kurzen Seidenanorak.
Sie erkletterten einen
hundertfünfzig Meter hohen Felsturm, und dann noch einen zweiten. Der Aufstieg
bereitete keine Schwierigkeiten. Breite Stufen waren schon vor langer Zeit in
den Kalkstein gemeißelt worden. Es war, als hätte man die Treppen, die in der
Mitte der Kölner Domtürme nach oben führten, großzügig an die Außenseite der
Türme angebaut.
Millionen von Besucherfüßen
hatten die Kalksteinstufen so abgeschliffen, daß sie glatt waren wie polierter
Marmor. Meilan trug zwar Halbschuhe mit Kreppsohlen, aber ihre Sohlen hatten
kein Profil, und sie stand nicht so sicher auf dem glatten Fels wie er.
Bergauf war er immer eine Stufe
über ihr und zog sie an der Hand nach. Später, nach der Rast auf der windigen
Aussichtsplattform oben, stand er ein oder zwei Stufen unter ihr. Sie stützte
sich auf seine Hand, und er spürte das ganze Gewicht ihres Körpers, das sie ihm
anvertraute. Er genoß es, Meilan an der Hand zu führen.
Nach über tausend Treppenstufen bergauf und bergab waren ihm ihre
Körperbewegungen vertraut.
Auf einem Gipfel entdeckten sie
eine Schar Dohlen, die sich von japanischen Touristen füttern ließ. Wenn die
Vögel genug hatten, trippelten sie an die Kante des sonnenbeschienen
Südabsturzes des Berges - die Yang-Seite - und ließen sich mit angelegten
Flügeln tonlos in die Tiefe plumpsen, wie schwarze Steine. Erst nach vielen
Metern freien Falls öffneten sie die Schwingen und schwebten elegant in den
Aufwind hinein.
Am Nachmittag durchstreiften sie
einen Bambuswald auf der anderen Talseite, der eine ungewöhnliche Struktur
hatte. In regelmäßigen Abständen wuchsen aus einem kreisrunden Wurzelfleck
Dutzende von armdicken Bambusstäben gemeinsam in die Höhe, um kollektiv die
Form eines großen Baums mit dickem Stamm und hoch verzweigter Krone anzunehmen.
Die geschlossene Blätterdecke ließ nur gedämpftes Licht auf den Waldboden
fallen. Die gebündelten Bäume standen weit auseinander. Man konnte zwischen
ihnen hindurchgehen, wie in einer Kathedrale aus grünen Bambussäulen.
"Nicht so nah ran"
warnte Meilan, "in den Ästen verstecken sich giftige Schlangen."
Aber er hatte etwas gesehen. An
einem kürzeren Bambusstab hing eine fußlange goldene Rispe. Etwas höher noch eine.
"Was ist das?" fragte
er Meilan.
"Das sind Gräser, blühende
Gräser. Die muß jemand hier hingetan haben."
"Die Blüten sind zu lang für
Gräser. Bambus ist auch eine Grasart. Das hier müssen Bambusblüten sein. Ich
habe noch nie eine gesehen. Ist das nicht aufregend?"
Sie studierte die feine Rispenstruktur
der Blüte aufmerksam. Dann verzog sich ihr Gesicht:
"Das wäre entsetzlich. Der
Bambus blüht nur alle hundert Jahre einmal, und wenn er blüht, stirbt er. Alle
Pandabären werden verhungern."
Sie sah so tief unglückliches
aus, daß er sie tröstend in die Arme nahm.
"Es ist eine
Katastrophe," wiederholte sie und schlug mit der Faust auf seine Schulter.
"In Sezuan,"
tröstete er sie, "blüht er bestimmt in einem anderen Jahr, nicht jetzt.
Und in Sezuan leben doch die meisten Pandas."
"Ja, das kann sein."
Sie nahm die Bambusblüte als Andenken mit. War es ein gutes oder ein böses
Omen, daß sie hier auf diese Blüte gestoßen waren, die sich nur alle hundert Jahre
einmal öffnet?
Es war eine solche Fülle von
Besichtigungen, in die Meilan sich mit Begeisterung
stürzte, daß er den Eindruck gewann, sie wollte die ganze Zeit mit ihm in Bewegung
sein, um nicht plötzlich in die Verlegenheit zu geraten, sich ihm und der
Entwicklung ihrer Beziehung stellen zu müssen. Mit den großen Schritten des
Sightseeing hielten die kleinen Schritte ihrer persönlichen Annäherung im Augenblick
noch nicht mit.
Nach dem Abendessen war Arnold wieder auf sich
allein gestellt. Er nahm sich einen Abreißblock, um seine Gedanken zu ordnen.
Er hätte Mailan schon längst fragen müssen, was er
für sie tun konnte, um ihr Vorwärtskommen im Beruf zu fördern. Sie hatte es
schon weit gebracht, aus eigener Kraft, aber vielleicht gab es etwas, das sie
näher mit ihm zusammenbrachte.
Bisher waren ihm Meilans
Motive nicht ganz klar geworden. Eine Chinesin flog nicht aus Jux mit einem
Ausländer ins Touristenparadies. Sie setzte starke Erwartungen auf ihn, aber
was er konkret für sie tun sollte, hatte sie ihm noch nicht angedeutet. Und
ihre Reaktion auf seine Werbung um sie war bestenfalls ambivalent. Was steckte
dahinter? Worauf lief es hinaus? Seine Nachbarin im Flugzeug, Frau Liu, hatte behauptet,
daß es nicht leicht war, für solche Privatreisen die Genehmigung des Arbeitgebers
zu bekommen. Gab es geschäftliche Gründe? Suchte ihre Firma einen Kontaktmann,
der Schwarzgeld im Ausland unterbrachte? Millionenbeträge? Angesichts der stets
übertriebenen Gewinnerwartungen chinesischer Geschäftsleute konnte eine
Geldanlage in Deutschland nicht sehr attraktiv sein. Aber wußte sie das? Diese
Theorie böte immerhin eine Erklärung für ihre abendlichen Rückzüge.
Hatte sie - zweite Möglichkeit -
für ihre eigene Person vielleicht Angst vor einem Rückfall Chinas in den roten
Terror nach dem Tode Deng Xiaopings und suchte einen Fluchtpunkt im Ausland? In
diesem Fall standen sie erst am Anfang einer langfristig angelegten Beziehung.
Er trat ans Fenster, um den
Sonnenuntergang zu beobachten. Die Einbuchtungen des Elefantenkopfberges hatten
sich schon mit Schatten gefüllt, aber auf der anderen Seite des Flußes hatte das Abendlicht einen rosigen Schimmer auf die
Gipfel der dort stehenden Kegelberge gehaucht, der sie wie riesige Giftpilze aussehen
ließ.
Er schlug eine neue Seite auf
seinem Notizblock auf. Was wollte er von Zhang Meilan? Er wollte sein jetziges
Leben, das aus Zahlen, Informationen und undurchschaubaren Personalintrigen
bestand, eintauschen gegen eins, in dem Kultur, Gespräche und Zärtlichkeit den
Vorrang hatten. Die Aussichten, daß Zhang Meilan und er ein gemeinsames Ziel
verfolgten, standen vielleicht fünfzig
zu fünfzig. Es lag an ihm, mehr daraus zu machen.
Am anderen Vormittag besuchten
sie eine der Tropfsteinhöhlen, für die das Gebiet um Guilin
berühmt ist. Diese Höhlen befinden sich im Inneren der steilen Felskegel, sind
also Karieslöcher in den Haifischzähnen. Aber die Arbeit der Natur bewirkt, daß
diese Löcher sich von selber füllen, indem durch den porösen Fels ständig
kalkhaltiges Wasser in die Höhlen sickert, das Tropfsteine bildet, die von oben
und unten auf einander zuwachsen.
Es ging tief in den Berg hinein.
Farbige Scheinwerfergruppen modellierten aus bizarren Tropfsteingruppen
phantastische Plastiken heraus. Musik aus unsichtbaren Lautsprechergruppen
sollte den unirdischen Zauber noch verstärken. Im flackernden Licht sahen sie
einen Ausschau haltenden Löwen. Ein anderes Gebilde konnte die Orgel des Kölner
Doms oder ein Stück der Eiger-Nordwand sein. Der Boden war glitschig, und
Arnold hatte unter seine langen Baumwollhosen wieder die Bergstiefel gezogen,
so daß er Meilan immer eine sichere Hand leihen konnte.
Da sie darauf bestanden hatte,
sich nach dem Mittagessen in ihr Zimmer zurückzuziehen, hatte er es auch so
gehalten. Es mochte viertel vor drei sein, als Meilan heftig an seine Tür klopfte.
"Schnell, mach das Fernsehen
an, der Deutschkurs der Deutschen Welle läuft."
"Hier im Hotel gibt es kein
Deutsche Welle Fernsehen, nur BBC."
"Er läuft im
Zentralchinesischen Fernsehen. Ich habe ihn schon oft gesehen. Gleich kommt
meine Lieblingsstelle."
Das Bild flimmerte sich ein.
Meilan schaltete hin und her. Dann fragte eine Stimme auf deutsch: "Und
was hätten Sie gern?" Der Mann, der diese Frage stellte, blätterte in
einem Versandhauskatalog.
Die junge Frau, die vor ihm
stand, forderte überdeutlich:
"Ich hätte gern einen Mann.
Wäre das möglich?"
Der Verkäufer erwiderte wie
selbstverständlich:
"Das wäre nicht nur möglich.
Das ist sogar möglich."
Meilan drehte den Ton weg. Mit
funkelnden Augen sagte sie: "Hast du das gehört? Ich hätte gern einen
Mann. Wäre das möglich?"
Er legte die Hände auf ihre
Oberarme und sagte auf Deutsch: "Das wäre möglich. Ich liebe dich. I love you. Wo Aishang ni. Und du?"
"Es ist möglich,"
wiederholte sie im Stil der Lektion und drückte seine Hände weg. "Ich
mache uns einen Tee."
Auf dem Tisch zwischen den beiden
Besuchersesseln standen eine Thermoskanne, zwei blauweiße Porzellanbecher und
eine Bambusschachtel mit Teebeuteln. Sie goß das heiße Wasser in die Becher und
setzte sich schnell in einen Sessel.
Als er auch saß, fragte er:
"Hast du die Geschichte von
der jungen Malerin in Peking gehört, die den französischen Kulturattachee
heiraten wollte und ins Arbeitslager gesteckt wurde?"
"Das ist Jahre her. Die Frau
hat einen Riesenfehler gemacht. Sie ist seine Geliebte geworden, ohne vorher
mit ihrer Einheit darüber zu beraten."
"Gehören Künstler in China
einer Einheit an?"
"Jeder ist Teil einer
Einheit, eines Organisationsapparates, der seine Personalakte führt und sein
Leben mitgestaltet."
"Wer ist deine
Einheit?"
"Im engeren Sinne Universal Silk."
"Was macht eigentlich eure
Muttergesellschaft Poly-Technologies? Ist das ein
Kunstfaserproduzent?"
"Darüber darf ich nicht
sprechen. Das ist Staatsgeheimnis."
"Komm, komm, du hast
veraltete Vorstellungen. China verfolgt eine Politik der offenen Tür."
"Du kennst die Verhältnisse
nicht. Jedes Wort, das ich dir über Poly erzähle, kann mich sofort ins
Gefängnis bringen."
"Das glaube ich nicht. Ich
habe in Köln im Computer eine dicke Akte über Poly-Technologies.
Ich habe nur vergessen, was da drin steht. Aber wenn ich die Möglichkeit hätte,
über e-Mail an meine Festplatte heranzukommen, könnte ich dir hier im Business
Center des Hotels ausdrucken, was ich alles an Material darüber besitze."
"Wie gut, daß das nicht
geht, du könntest uns in Schwierigkeiten bringen." Sie senkte die Stimme:
"Du bist doch nicht etwa ein Spion?"
"Ich bin Bankier. Wenn wir
Kredite vergeben - und wir tun das, weil wir Geld verdienen wollen - müssen wir
wissen, ob wir unser Geld in verläßliche Hände geben oder in unzuverlässige.
Das ist Marktwirtschaft."
"Aber wie kommst du an geheime
Informationen?"
"Alles, was ich habe, stammt
aus öffentlichen Quellen. Ein Beispiel. Als neulich in der Sonderzone Shenzhen die erste Wertpapierbörse der Volksrepublik
eröffnet wurde, bin ich hingefahren. Anfangs wurden nur acht Aktien gehandelt.
Eine davon war China Southern Glass. Das ist ein Joint Venture,
eine Gemeinschaftsgründung der amerikanischen Firma Corning
Glass und deiner Mutter Poly Technologies. Zur Börseneinführung gab es einen
ausführlichen Prospekt über die Gesellschaft."
"China Southern Glass kenn
ich. Die machen Fassadenglas für die Hochhäuser in ganz Südchina. Ein sehr
erfolgreiches Unternehmen."
"Du siehst, ich weiß alles.
Du brauchst vor mir keine Geheimnisse zu haben."
"Ich hoffe nur, daß meine
Einheit nie erfährt, wieviel du weißt."
"Weiß deine Einheit, daß du
mich triffst? Wissen sie wer ich bin? Haben Sie dir erlaubt, meine Geliebte zu
werden?"
"Sie vertrauen mir, daß ich
das Richtige tue."
"Glaubst du, daß wir
zusammen passen?"
"Ich mag deinen Humor, deine
Art, dich in einem fremden Land zurechtzufinden, als ob es dein Zuhause wäre.
Du bist jemand, auf den man sich verlassen kann."
Er streichelte seinen heißen
Teebecher.
"Liebe ist nicht nur
Vertrauen. Es ist auch der Wunsch sich anzufassen und nicht mehr
loszulassen."
Er streckte die Hand nach ihr
aus. Sie nahm sie nicht an.
"Wir kennen uns erst so
kurz," sagte sie.
"Du hast mir einen Brief
nach Köln geschickt, der mich sehr beeindruckt hat."
"Du warst weit weg, ich habe
dich vermißt."
"Und jetzt?"
"Laß uns einen Einkaufsbummel
machen," schlug sie vor. "Ich habe Lust, mir ein neues Kleid zu
kaufen. Du kannst mich beim Anprobieren beraten."
Die Hauptgeschäftsstraße begann
gleich hinter ihrem Hotel und führte direkt in die Innenstadt, verstopft mit
Touristenbussen, Taxis, Eselskarren, Handwagen, Lastenfahrrädern und mobilen
Verkaufsständen. Es war eine Straße der Restaurants, Andenkenläden,
Reisebüros und Modeboutiquen, vor deren Auslagen die Touristen erschöpft stehen
blieben. Gleich im ersten Geschäft, das sie betraten, blätterte Meilan alle Sommerkleider
an der Stange durch, zog eins hervor, hängte es zurück, ließ die Geschäftsführerin
kommen und begann ein langes Gespräch. Visitenkarten wurden getauscht, Meilan
holte aus ihrer Handtasche ein schwarzes Notizbuch und Photos von Mannequins.
Die Verkäuferin nötigte Arnold eine Tasse Jasmintee
auf. Meilan machte Eintragungen in ihr schwarzes Notizbuch.
"Das mußt du dir
ausrechnen," sagte sie, "hier kommen so viele Touristinnen vorbei,
die das Geld und die Figur haben, unsere Kleider zu tragen. Japanerinnen, Malayinnen, Hongkong-Chinesinnen, Koreanerinnen."
Beim nächsten Geschäft, das sie
besuchten, wiederholte sich das Spiel. Er bot ihr mehrmals an, ihr ein Kleid
ihrer Wahl zu schenken, aber sie winkte ab. Es wurde kein Einkaufsbummel, es
wurde eine Verkaufstour. In ihr war der Jagdinstinkt erwacht. Es war
persönliche Angriffslust, kein Markterschließungs-Plan.
Es wurde Abendessens-Zeit, und
sie befanden sich immer noch im Geschäftsviertel der Stadt. Arnold schlug vor,
ein Souterrain-Restaurant zu besuchen, das einen sauberen Eindruck machte. Es
gab keine Speisekarte in englischer Sprache. Die Tagesspezialitäten waren mit
Kreide auf eine schwarze Tafel gemalt.
"Geschmorte
Rindersehnen," übersetzte sie ihm vor, "und gefüllter Bitterkürbis."
"Das nehmen wir,"
schlug er vor.
"Ich dachte, du magst keine Gua." Im Chinesischen heißen alle Kürbispflanzen Gua - Gurken, Zucchini, Melonen, Kürbisse, sogar Papayas.
Nur Auberginen haben einen eigenen Namen, sie werden "Qiezi"
genannt.
"Bitterkürbis ist meine
Lieblingsspeise." Er hatte vor Jahren, als noch Mangel in China herrschte,
zwei Monate lang in Peking nichts anderes gegessen als Reis mit Bitterkürbis
und Auberginen.
Das Gericht, das dann auf den
Tisch kam, entsprach nicht ganz Arnolds Erinnerungen. Der Koch hatte die
Kürbisabschnitte stark ausgehöhlt und das Innere so reichlich mit gebratenem
Hammelfleisch gefüllt, daß der Kürbis mehr Dekoration als Geschmacksträger war.
Dafür waren die Rindersehnen, die
als eigenes Gericht serviert wurden, so butterweich, wie Arnold es noch nie erlebt
hatte. Die Entdeckung eines neuen Leib- und Magengerichtes. Er mußte in Köln
Ochsenschwanz und Beinscheiben drei Stunden lang im Dampfkochtopf vor sich hin
pfeifen lassen, um einen ähnlichen Zartheitszustand erreichen, und dann waren
sie noch lange nicht so schmackhaft wie hier.
"Was hast du eigentlich für
Aufträge eingesammelt? Wollt ihr hier italienische Modellkleider verkaufen?"
"Keine Aussicht.
Italienische Frauen haben viel dickere Hintern und Hüften als Chinesinnen. Wir
entwerfen abgespeckte Zweitfassungen, die wir als neues Design unter unserem Label
verkaufen."
"Ist das urheberrechtlich
erlaubt?"
"Wieso? Wir verwenden neue
Schnittmuster und einen eigenen Markennamen, nicht den italienischen. Bald
werden wir auf dem Weltmarkt viel gefragter sein als sie."
Als sie gesättigt ins Hotel
zurückkehrten, schlug Arnold noch einen Abstecher an die Bar oder zur Disco
vor, aber Meilan wollte ihre Kommissionsaufträge gleich auf Faxformulare übertragen,
um sie morgen früh als erstes zu versenden. Und dabei konnte sie seine Hilfe
nicht gebrauchen.
Er mußte sich den dritten Abend
allein beschäftigen. Dabei gab es im Mitteltrakt des Hotels eine Disco, in der
Chinesen und Ausländer unter farbigen Lichtblitzen tanzten.
Das Fernsehgerät in seinem Zimmer
zeigte einen chinesischen Krimi, der in Shenzhen
spielte, der chinesischen Nachbarzone von Hongkong. Arnold erkannte die
Landschaft wieder. Den Pavillon über dem Kap, hinter dem es zum Atomkraftwerk
ging. Den alten Pier am Großen Pflaumenstrand. Im Film legte hier ein Landungsboot
an, um einen geschmuggelten Mercedes der S-Klasse mit Schwung aufs Festland
fahren zu lassen. Die Zöllner in ihren adretten Uniformen griffen nicht zu,
sondern nahmen die Verfolgung auf, um die Hintermänner zu erwischen.
Vor vier Wochen - wurde Arnold
bewußt - hatte der Zollbeamte Wehrmeyer, der
Autoschmuggler aufspürte, noch gelebt, gerade hundertzwanzig Kilometer von
diesem Tatort entfernt. "Seidenraupen für Capri" hatte er auf einen
Zettel geschrieben. Es konnte ein Codewort für eine internationale Schmuggelaktion
sein, aber was mit dieser Notiz gemeint war, würde wohl niemals mehr entschlüsselt
werden.
Als sie am anderen Morgen vom
Frühstück kamen, das sie früher als sonst eingenommen hatten, war schon eine große
Zahl von Gästen in der Hotelhalle versammelt, die auch die Flußfahrt gebucht
hatte. Ein Reisebus fuhr vor, und die Besucher drängten sich zu seiner
Vordertür, allen voran die wenig Disziplin übenden Hongkong-Chinesen. Arnold
hielt seine Karten sichtbar in der Hand, aber der Mann vom Reisebüro, der alle
kontrollierte, sagte zu ihm: "Sie noch nicht."
Sie sahen zu, wie der Bus ohne
sie abfuhr.
"Und nun?" fragte er.
Ihr Betreuer führte sie zu einer schwarzen Limousine und riß ihnen die
Fondstüren auf. Das Auto fuhr viel dichter an die Schiffsanlagestelle heran,
als es den Bussen erlaubt war.
In der Nähe der Flußbrücke lagen
die Ausflugsschiffe in einer breiten Reihe auf dem Wasser vertäut, alle am Heck
durch Plankenstege miteinander verbunden, so daß die Reisenden von Heck zu Heck
über schwankende Bretter balancieren mußten, bis sie ihr Schiff erreicht
hatten. Die Bauweise aller Boote war ähnlich. Sie hatten zwei Decks, ein Ober-
und ein Unterdeck, wie die Star-Ferry in Hongkong.
Auf beiden Decks standen Tischreihen quer zur Fahrtrichtung, mit Klappstühlen
als Sitzgelegenheit.
Nur Arnolds und Meilans Schiff hatte noch eine Art Penthaus-Kabine als
drittes Deck. Die Wände waren aus Glas, und in allen vier Windrichtungen
prangten die aus rotem Papier ausgeschnittenen Schriftzeichen "Doppeltes
Glück", das traditionelle chinesische Hochzeitssymbol. Man hatte ihnen die
Kajüte für Flitterwöchner zugewiesen. Für vier Paare war Platz, in jeder Ecke eine
bequeme Zweier-Sitzgruppe, nicht zu vergleichen mit den Klappstühlen unten.
Arnold und Meilan
saßen rechts vom Eingang, ihnen gegenüber ein Ehepaar, das wohl seine
Silberhochzeit feierte, hinter ihnen ein teuer gekleidetes altes Paar, das
seiner singenden Sprechweise nach wohl aus Hongkong kam. In der vierten Ecke
hockte ein junges einheimisches Paar, unverkennbar frisch verheiratet, der Mann
noch etwas steif von einem noch nicht überwundenen Besäufnis. Er trug Bluejeans, Ledersandalen und ein aus bunten Wollresten
handgestricktes Sweatshirt. Die Frau, die sofort Blickkontakt mit Meilan aufnahm,
hatte ein langes dunkles Kleid und Stoffschuhe mit Schnursohlen an. Sie war
eine angenehme Erscheinung, aber so in Sorgen vergrübelt, daß sie den Ausflug
nicht richtig genießen konnte.
Der Schiffsboden begann zu
vibrieren, als der Motor angelassen wurde. Die Bedienung brachte feuchtheiße
Frottiertüchlein und große Teetassen, in denen Jasminblüten schwammen. Eins
nach dem anderen setzten sich die Schiffe in Bewegung.
Das Angenehme an der Fahrt war,
daß der Li Fluß sich nicht wie der Rhein bei der Lorelei
oder der Yangtse südlich von Tschungking
schäumend durch Felsschluchten arbeiten mußte, sondern sich praktisch durch
ebenes Auenland schlängelte, das vollgestellt war mit bizarren Kalkkegeln, auf
deren höheren Hängen Wolfsmilch-Kandelaber wuchsen. Der Fluß hatte nur eine
schwache Strömung. An seinen Ufern lagen klobige Boote vertäut, die ihren
Bewohnern als ständiger Wohnsitz dienten. Fischer hatten sich aus dicken Bambusstangen
lange Flöße gebaut, auf denen sie mit unerschütterlicher Geduld darauf
warteten, daß die Kormoran-Vögel, die neben ihnen hockten, nach Fischen tauchten.
Aus der Lautsprecheranlage des
Schiffes erklang chinesische Volksmusik, unterbrochen durch Ansagen, in denen
die Uferlandschaft erklärt wurde. Allerdings
waren die Lautsprecher so verteilt, daß sich die Stimmen gegenseitig überlagerten.
"Meine Hochzeitsreise vor
fünfundzwanzig Jahren," erzählte Arnold, um Meilans
Aufmerksamkeit zu gewinnen, "ging auch durch ein Flußtal, den Rhein
entlang. Du hast vom Rhein gehört?"
"Ein romantischer Fluß in
Deutschland."
"Es war überhaupt nicht
romantisch. Wir hatten in einer alten Klosterkirche geheiratet und bis tief in
die Nacht gefeiert. Als wir die Heimfahrt antraten, war über dem Fluß dichter Nebel
aufgestiegen, und auf der Straße hatte sich Glatteis gebildet. Wir mußten mit unserem
Volkswagen-Käfer Schritt fahren. Normalerweise sind es nur anderthalb Stunden,
deshalb hatten wir kein Hotelzimmer genommen, aber durch das Eis und den Nebel
haben wir die ganze Nacht gebraucht. Das war meine Hochzeitsreise."
"Wieso bist du nicht mehr
mit ihr zusammen?"
"Sie ist gestorben. Schon
vier Jahre nach unserer Hochzeit."
"War sie schön?"
"Sie hatte die gleiche tiefe
Stimme und genauso dunkle Augen wie du."
"Ich erinnere dich an sie,
nicht wahr?"
"Als sie starb, war sie zehn
Jahre jünger, als du es jetzt bist."
"Das ist ja
schrecklich." Ihre Finger legten sich auf seine rechte Hand.
Der Koch und sein Gehilfe, beide
in halbhohen weißen Mützen, stellten sich vor und boten Ergänzungsgänge für das
Mittagessen an. Im Reisepreis war zwar schon ein Menü mit acht Gängen und drei
Sorten Getränken enthalten, aber man wollte den Gästen die Möglichkeit geben,
ihre Partnerin gegen Aufpreis mit einer besonderen Köstlichkeit zu bedenken.
Eine Schildkröte schwamm in einer
Emailleschüssel im Kreise. Eine grüne Schlange schlief zusammengeringelt in einem
Korb. Arnold entschied sich für riesige Krabben, die ihn aus Stielaugen ansahen.
Er bat den Koch, sie ohne Kopf zu servieren. Die Schildkröte kam mit dem Leben
davon. Das junge chinesische Paar bestellte nichts.
Arnold genoß das Zusammensein mit
Meilan. Allein zu sehen, wie sie mit ihren schlanken
Fingern die Eßstäbchen an den Mund führte, erfüllte ihm mit heftiger Freude.
Nach dem Essen packte der
Hongkong-Chinese eine Cognac-Flasche aus und bot allen davon an, aber nur die
drei Männer mittleren Alters prosteten sich zu. Das junge Paar war schon vor
dem Ende des Essens nach unten gegangen.
Arnold legte den Arm um Meilans Schulter und zog sie an sich. Der Hongkong-Chinese
beobachtete sie dabei und nickte Arnold wohlwollend zu.
Meilan machte sich steif und
versuchte ihn abzuschütteln, ohne daß die anderen es merkten.
"Du bist auf
Hochzeitsreise," raunte Arnold ihr zu.
"Bin ich nicht."
"So gut wie," widersprach
er und lockerte den Kontakt zu ihrer Schulter. Bis auf diesen einen Reibungspunkt
war er vollkommen glücklich.
Der Ort Yangshuo,
ihr Reiseziel, hatte eine lange Pier, an der alle Ausflugsschiffe ihre
Touristen absetzten, damit sie die Rückfahrt nach Guilin
in Autobussen antraten, die auf einem Parkplatz am Ortsrand auf sie warteten.
Der Weg von der Schiffsanlegestelle zum Busparkplatz war ein nicht enden wollender
Basar, auf dem man Andenken aller Art viel billiger als sonst in China erhandeln
konnte.
Die Schriftzeichen für
"doppeltes Glück" hingen an einem großen klimatisierten Reisebus, der
nur für die acht Benutzer der Penthaus-Kabine reserviert war. Das
Silberhochzeitpaar setzte sich zu Arnold und Meilan und zeigte ihnen auf dem Basar
erstandene Kalligraphien, "Geschenke für zu Hause". Ihr Zuhause war
Taiwan.
Arnold erzählte ihnen, daß er sich für moderne
chinesische Malerei interessierte und die Künstlervereinigung des Fünften
Mondes in Taiwan schätzte. Der Taiwanese hatte im Sheraton-Hotel Bilder eines
zeitgenössischen Malers gesehen, der in Guilin lebte.
Arnold und Meilan sollten sie sich unbedingt anschauen.
Die Landstraße führte durch
endlose grüne Weiden, auf denen Rinderherden grasten. Nicht Wasserbüffel, wie
man sie am Fluß sah, sondern indische Höckerrinder. "Das hier ist das Gebiet
der Zhuang," erklärte der Mitreisende. "Sie
essen kein Schweinefleisch und züchten keine Schweine, weil sie Moslems sind.
Sie bilden die größte nichtchinesische Bevölkerungsgruppe in Südchina. Ich habe
auf der ganzen Fahrt heute nicht eine einzige neu gebaute Moschee gesehen. Ich
bin Architekt. Ich habe auch im Fernsehen keine Sendungen in Zhuang-Sprache gehört. Dabei stellen die Han-Chinesen in dieser Provinz nur die Bevölkerungsminderheit."
"Wie wollen Sie denn die
Sprache der Zhuang erkennen, wenn Sie sie
hören?" erkundigte sich Meilan.
"Es klingt wie
Thailändisch."
Der Unmut in Meilans
Frage war hörbar gewesen, und der Architekt verstummte. Das war schade, denn
der Mann hatte einen überaus lebendigen Gesichtsausdruck, der verriet, daß er
sich ständig über seine Umgebung Gedanken machte. Als sie vor ihrem Hotel abgesetzt
wurden, sagte Meilan: "Laß uns ein paar Schritte gehen. Ich bin so
unruhig."
Sie schritten durch eine Allee
niedriger Osmanthus-Bäume, die ihren süßen Blütenduft
über sie warfen, und der Geruch erinnerte Arnold an Deutschland, an die Linden,
die im Juni in der Südstadt an der Ecke der Alteburger
Straße zum Ubierring ihren Blütenduft ähnlich
betäubend ausströmten, und an die Linden bei Schubert und Mahler, in deren Liedern
aus der Liebe am Ende ein glühendes Messer wird.
"Es war ein wunderschöner
Ausflug," meinte er. "Die Leute haben uns alle für ein glückliches
Hochzeitspaar gehalten. Ich war so stolz auf uns."
"Wie kannst du so unsensibel
sein? Mir war die Reise von der ersten bis zur letzten Minute peinlich. Es gab
nur ein Ehepaar, das wirklich ein Recht hatte, in der Flitterwochenkabine zu sitzen.
Das waren die beiden jungen Leute, die sich in unserer Gegenwart nicht wohl
gefühlt haben, weil sie sich ihrer Armut schämten. In ihrem eigenen Land."
"Wir haben sie nicht
herablassend behandelt. Wir haben ihnen von unseren Spezialitäten-Menüs
abgegeben."
"Das war ja das Demütigende.
Ihr habt ihnen gezeigt, daß sie Habenichtse sind, daß sie sich nicht mit euch
vergleichen können. Das hat mich so wütend gemacht."
"Jetzt werde ich dir sagen,
was mich traurig macht. Dieser Bräutigam hat für seine Frau nicht eine einzige
Fingerspitze Zärtlichkeit aufgebracht."
"Wir zeigen das nicht in der
Öffentlichkeit. Wir sind schamhaft."
"Ich wette, dieser Mann ist
auch im Schlafzimmer nicht zärtlich. Er weiß gar nicht wie das geht. Das ist beschämend.
Die Frau hat mir leid getan."
"Die Frau ist in Ordnung.
Sie schafft es, mit ihrem Mann zu leben."
"Wenn du meinst."
"Was mir am schlimmsten auf
die Nerven geht," fuhr sie fort, "sind die aufgeblasenen
Hongkong-Chinesen, die sich einbilden, wenn sie hundert Dollar in der Hand
haben, können sie mit einer Frau machen was sie wollen, und sie muß auch noch
dankbar sein." Ihre Entrüstung war so tief und so ohne jeden erkennbaren
Anlaß, daß er erschrak.
"Laß uns umkehren."
Sie tauchten wieder ein in den
leichten Parfüm-Duft der Osmanthus-Bäume.
"Mit der Flußreise
heute," sagte sie, "haben wir in Guilin alles
gesehen, was es zu sehen gibt. Laß uns weiterreisen. Mehr von China erleben.
Nach Kunming, der Stadt des ewigen Frühlings, oder
nach Xi-An, das viele tausend Jahre Hauptstadt war.
Wir gehen morgen früh zum Airline-Schalter und
fragen, wohin sie Flüge offen haben."
Sie blickte ihn auf jene
schelmisch bittende Art an, die ihm versprach, daß seine Zusage sie restlos
glücklich machen würde.
Ein betörendes Angebot. Kun Ming war berühmt, Xi-An Weltkultur.
Aber er würde er sich dort nicht weiter die Füße ablaufen, ohne Meilan wirklich nahe zu kommen? Wie lange brauchte sie, um
herauszufinden ob sie sich für ihn entscheiden konnte, so wie er sich für sie
entschieden hatte, als er sie auf der Treppe zum Zollamt sah? Ging das nicht
auch in Guilin?
"Ich muß das mit meiner Bank
besprechen," sagte er ausweichend.
Seit seiner Ankunft in China
hatte sich zwischen ihnen ein Ungleichgewicht des Gefühls entwickelt, mit dem
er nicht gerechnet hatte, als er in Köln ihren pastellrosa Liebesbrief las. Zutrauen,
Werben, Verführung brauchen ihre Zeit. Die Situation in Tschungking
war schwierig gewesen. Aber in Guilin schliefen sie
jetzt schon mehrere Nächte Wand an Wand. Zeit genug, dem Teufel drei goldene
Haare auszureißen.
"Laß uns im
Freundschaftsladen des Hotels nach einer Flasche Champagner suchen. Die können
wir auf meinem Zimmer trinken und dazu Geschichten erzählen. Was wir uns gewünscht
haben, als wir Kinder waren. Was wir uns heute wünschen. Wir könnten barfuß tanzen."
"Ich habe Kopfschmerzen. Es
war ein schrecklicher Tag. Ich möchte auf mein Zimmer und nichts mehr von der
Welt sehen."
"Du kannst auch Tee trinken.
Das hilft gegen Kopfschmerzen."
"Wir machen das ein
andermal. Nicht heute. Gute Nacht."
Die Hochzeitsreise war zu Ende.
Die Frage der Weiterreise war beantwortet. Wohin sie auch führen, er würde die
Abende allein in seinem Hotel vor dem Fernseher oder an der Hotelbar verbringen
müssen. Das hatte er sich so nicht vorgestellt, als er auf dem Kölner Flughafen
durch das Gate ging.
Meilan war eine Frau, die man nicht im
ersten Anlauf erobern konnte. Sie war es wert, daß er ihr Zeit ließ, sich auf
ihn einzustellen. Aber er wollte auch nicht, daß sie seine Werbung um sie für
etwas Selbstverständliches hielt. Er nahm sich vor, nicht von einer
Touristenattraktion zur anderen weiterzureisen, sondern von Guilin
aus die Rückreise nach Deutschland anzutreten, bevor er sich selbst für eine
lächerliche Figur halten mußte.
Er fand im Freundschaftsladen
einen alten Reiswein und trank sehr schnell fast eine halbe Flasche. Dazu aß er
eine ganze Tablette Dormicum. Die Müdigkeit, die sich
auf ihn senkte, erstickte sein Selbstmitleid, ohne ihm die Selbstachtung zu
rauben. Was vom Tag übrig blieb, war das Glück, tiefe Gefühle erlebt zu haben.
FÜNFTES KAPITEL
Es überraschte Arnold, wie
emotionslos Meilan es
aufnahm, als er ihr beim Frühstück eröffnete, daß er nicht weiter mit
ihr durchs Land ziehen könnte, weil seine Bank ihn dringend zu einer
Sondersitzung der Weltbank nach New York entsenden wollte.
Sie gratulierte ihm nicht, sie
bedauerte die Trennung nicht, sie zweifelte nicht an der sachlichen Richtigkeit
seiner Aussage, sie schlug ihm nicht vor, auf die Teilnahme an der Tagung zu
verzichten.
"Wir setzen unsere Reise ein
anderes Mal fort," war ihr einziger Kommentar, "heute Vormittag
besorgen wir die Flugtickets." Sie sah so schön und anmutig aus wie immer.
Arnold wußte wo das Ticketingbüro der Fluggesellschaften lag. Er hatte es vom
Bus aus gesehen, der sie aus Yangshuo zurückbrachte.
Sie brauchten zu Fuß nur zehn
Minuten von ihrem Hotel. Es war eine Art Wartesaal mit zwei vergitterten
Verkaufsschaltern, vor denen sich die Kunden wie Bittsteller aufreihen durften.
Schon für eine Fluganfrage mußte man ein längeres Formular ausfüllen.
Es gab eine Schwierigkeit, mit
der Arnold nicht gerechnet hatte. Er konnte zwar sofort nach Hongkong fliegen.
Es waren immer Sitzplätze frei. Aber einen Flug nach Tschungking
konnte Meilan erst in drei Tagen bekommen. Meilan war bereit, die drei Tage allein
in Guilin zurückzubleiben. Aber Arnold hatte sie
hierher eingeladen, ihr diese Reise aufgedrängt, er wollte sie auch sicher wieder
ins Flugzeug nach Hause setzen und dann erst in seine Maschine nach Hongkong
einsteigen. Das entsprach seinem Verständnis von Partnerschaft, und Meilan war
erleichtert.
Meilan mußte, um ihr Flugticket zu
erhalten, nicht nur ihren Personalausweis vorlegen, sondern auch eine von ihrer
Firma unterschriebene und abgestempelte Bescheinigung, daß ihre Reise
dienstlich erforderlich sei. Sie hatte mehrere solcher schon unterzeichneter
Blankovollmachten bei sich. Ohne dieses Papier, erklärte sie ihm, bekämen
Privatleute offiziell kein Flugbillett, denn Flüge seien das Privileg höherer
Kader und ausländischer Touristen. Als er sein Ticket in Empfang nahm - sein
Flug ging eine halbe Stunde nach ihr - war er höchst zufrieden. Noch drei Tage
an ihrer Seite, aber lauter letzte Tage, nicht mehr belastet mit Ungeduld im
Wartezimmer des Herzens.
Am Nachmittag besuchten sie den
Elefantenkopfberg, der das Panorama vor ihren Hotelzimmerfenstern beherrschte.
Meilan hatte ein helles Sommerkleid mit einem fröhlichen Blütenmuster angezogen,
dessen weit schwingender Stoff ihre Figur abwechselnd betonte und verbarg. Der
Elefantenkopfberg, der in eine Biegung des Li Flusses ragte, war nicht so steil
wie die Felstürme, die sie zuvor erklettert hatten. Sanft steigende Wanderwege
führten an seinen bewaldeten Flanken empor. Auf der höchsten Stelle seines
Rückens stand ein Rundtempel, von dem aus man weit über das Flußtal blicken
konnte. Der Kopf des Elefanten war begehbar. Eine steinerne Balustrade schützte
die Besucher vor dem jähen Absturz in das grau strudelnde Wasser des Flusses.
Arnold machte viele Abschiedsphotos von Meilan. Sie setzte sich auf Mauern und
Felsblöcken in Pose, den Rock über den Oberschenkeln hochgerafft, den Busen ins
streifende Seitenlicht gedreht. Er stellte sich vor, daß die erotischen
Signale, die sie aussandte, für das Objektiv der Kamera bestimmt waren.
Nach dem Abendessen wollte Meilan
ihm in einem Karaoke-Club Lieder vorsingen. Ihr
eigenes Hotel hatte keinen Karaoke-Raum. Im
Nachbarhaus gab es eine Disco, aber ihr farbiges Stroboskop-Blitzlichtgewitter
war auf die Nerven zehn- bis fünfzehnjähriger Besucher abgestimmt. Sie
schlenderten die Hauptstraße hinab, auf der Suche nach einem Karaoke-Lokal, wie schon an ihrem ersten Abend am Perlfluß.
Auf dem Bahnhofsvorplatz stand im rechten Winkel zum Hauptbahnhof ein
Geschäftshaus, das in den Untergeschossen Restaurants und Läden beherbergte. Im
obersten Stock warb eine große
Leuchtschrift für den Karaoke-Betrieb. Sie mußten
über ein seitliches Treppenhaus hinaufsteigen, das ziemlich breit und
verschmutzt war. Oben fanden sie einen großen Saal voller Gäste, die an einer
langen Theke lehnten, an Tischen saßen oder einfach im Raum herumstanden. Die
kleine Vorsing-Bühne ganz hinten verschwamm im Zigarettenqualm. Dafür war die
Verstärker-Anlage um so lauter gestellt. Die Bedienung, die Meilan ansprach,
machte gleich darauf aufmerksam, daß es für Gesangsauftritte eine Warteliste
von mindestens zwei Stunden gab. Heute abend herrsche Hochbetrieb.
"Warum nehmen Sie nicht
einen kleinen Raum? Da können Sie gleich anfangen." Die Kellnerin schloß
ihnen eine Kammer neben der Bar auf. Das Zimmer enthielt einen Fernseher mit aufgesetzten
Lautsprechern, einen viereckigen Couchtisch mit zwei Mikrophonen und der in
Leder gebundenen Lieder-Bestellkarte, sowie zwei tiefe Plüschsofas.
Meilan begann sofort den Katalog
der abrufbaren Songs zu studieren. Die Serviererin brachte unaufgefordert zwei
Tassen schwarzen Tee und legte einen Kassenbon über 34 Yüan
daneben. Normalerweise war Tee kostenlos.
"Sonderbar," sagte
Meilan, "auf dieser Liste kenne ich keinen einzigen Titel."
"Haben Sie noch einen
speziellen Wunsch?" fragte die Kellnerin. Ohne auf Antwort zu warten, ließ
sie die Tür ins Schloß knallen.
"Das Mikrofon ist ja gar
nicht angeschlossen," stellte Meilan fest.
Arnold überprüfte das. Die
Mikrofon waren tatsächlich ausgeklinkt. Offenbar hatten die Vorbenutzer des
Raumes die Töne, die hier erzeugte wurden, auf den privatesten
Bereich beschränkt haben wollen.
"Wir müssen hier raus,"
erklärte Arnold. Der Zustand der schmierigen Plüschsofas verriet ihm alles. Er
hatte solche Etablissements schon gesehen - auf der Reeperbahn, an der Rue de Saintes Innocentes und in den Geylang Lorongs von Singapur. Sie
bedeuteten höchste Gefahr für Gesundheit und Geldbeutel.
"Wieso?" fragte Meilan,
"was ist los?"
"Erinnerst du dich an das
Hotel in Zhuhai, in dem du nicht singen wolltest, an
unserem ersten Abend? Das hier ist noch viel schlimmer."
Er stieß die Tür auf und rief
"Laojia maidan! Wir
wollen zahlen."
Die Serviererin erschien sofort
mit einer Rechnung über hunderfünfzig Yüan.
"Das bezahlen wir
nicht," erklärte Meilan, "das ist Betrug, das fechte ich an."
Arnold gab der Bedienung das
Geld.
"Es ist schon bezahlt. Ich
habe meine Gründe, ich erklär dir das unten."
Er schritt mit Meilan durch die
Clubhalle, und sie traten hinaus auf den Podest des Treppenabsatzes. Dort
herrschte ein starker Andrang von Leuten, aber es waren keine modisch gekleideten
Disco-Besucher, sondern Treibgut des Großstadtlebens, Bettler, Obdachlose,
kleine Gauner, die vorhin noch nicht dagewesen waren. Da Meilan in der
Öffentlichkeit gern auf Distanz zu Arnold hielt, hatten sich schnell zwei
Männer zwischen sie gedrängt. Einer packte sie am Arm, zog sie weiter weg und
forderte lautstark: "Gei Qiän - gib Geld."
Meilan riß den Arm los und erwiderte etwas Scharfes. Aber weitere Personen
schoben sich zwischen sie und ihren deutschen Begleiter.
Drei Figuren, die Arnold an ihren
breitflächigen Tätowierungen als Triaden identifizierte, Mitglieder einer
verbotenen Geheimgesellschaft, fette, muskulöse Kerle mit schlechtrasierten
Gesichtern, die nur ärmellose Unterhemden und viel zu kurze blaue Turnhosen
trugen, nahmen Meilan in ihre Mitte und drängten sie nach hinten ab, wo sich
plötzlich eine Tür in einen unbeleuchteten Raum aufgetan hatte. Das ging alles
so schnell, so virtuos einstudiert, daß Arnold kaum Gelegenheit hatte, sich der
Bedeutung des Geschehens bewußt zu werden. Die erstaunt schweigende Meilan auch
nicht.
Arnold, der völlig nüchtern war,
drückte sich vor und rammte seine Schulter als Keil zwischen zwei Kerle, die Meilan
zwischen sich eingequetscht hielten.
"Duibuqi,"
rief er, "ta schi wode - sie gehört mir!"
Sie wichen unwillig auseinander.
Er nahm Meilan fest in beide Arme und führte sie gewissermaßen in Tanzschritten
über das breite Treppenpodest zu den Stufen, begleitet vom lauten Gemurmel der
Zurückbleibenden, und dann die Treppe hinunter, Stufe für Stufe, ohne Meilan
einen Augenblick loszulassen. Als sie den Eingang erreichten, waren sie allein.
Meilan zitterte am ganzen Körper. Er umfaßte ihre Schultern und führte sie
zurück auf die hell erleuchtete Hauptstraße.
"Willst du bei der Polizei
Anzeige erstatten?"
"Auf keinen Fall."
"Dieses Land ist ein
Polizeistaat. Ich kann dir auf Anhieb drei Organisationen nennen, an die du
dich wenden kannst. Da gibt es die Pai Chu Suo, das örtliche
Polizeirevier, das Gong An Bu, das Sicherheitsbüro,
und den Guojia Anchüan, den
Staatssicherheitsdienst."
"Du kennst unser Land nicht.
Wenn eine Organisation so offen auftreten kann, dann verfügt sie über beste
Beziehungen zu den örtlichen Machthabern, dem Polizeichef, dem Garnisonskommandanten,
dem obersten Parteisekretär. Jede Anzeige würde abgewürgt. Schlimmer noch: wenn
ich dich als Zeugen mitbringe, habe ich einen ausländischen Beobachter davon
überzeugt, daß in unserem Lande organisierte Kriminalität besteht, und damit
mache ich mich selber strafbar, wegen Verrats eines Staatsgeheimnisses. Das
kannst du nicht wollen."
Sie gingen die Hauptstraße zurück
in die Richtung ihres Hotels. Arnold drehte sich ein paar Mal um, aber sie
wurden nicht verfolgt.
"Hast du nicht den Wunsch,
etwas zu unternehmen, damit andere Frauen nicht in die gleiche Situation
geraten, wie du eben?"
"Es gibt nichts, was du tun
kannst. Du kannst dich nur selbst in Sicherheit bringen. Jedes Jahr werden von
Verbrecherringen Zehntausende von jungen Frauen entführt und als Ehefrauen in
weit entfernte Bauerndörfer verkauft."
"Warum laufen sie nicht
zurück zu den Eltern?"
"Weil sie sich schämen. Weil
sie nicht wissen, wo sie sind. Weil sie zu Hause auch kein besseres Leben erwartet."
"Du siehst nicht wie eine
typische Bäuerin aus."
"Das hat mich auch
gewundert. Es gibt Bordelle für Fernfahrer an einsamen Straßen, wo die Mädchen
angekettet werden."
"Vielleicht wollten sie sich
auch nur einen schönen Abend mit dir machen."
"Es gibt noch eine Sache,
die nie an die Öffentlichkeit kommt: Es gibt jedes Jahr Tausende von
Kidnapping-Fällen mit hohen Lösegeldforderungen. In den meisten Fällen zahlen
die Angehörigen."
"Das ist ja schlimmer als
auf den Philippinen. Aber deine Familie ist nicht wohlhabend."
"Ich trage teure Kleider.
Vielleicht war das mein Fehler."
Sie waren am Osmanthus
Hotel angelangt.
"Ich muß jetzt unbedingt ein
heißes Bad nehmen."
"Das kann ich verstehen. Ich
ruf dich später an."
"Tu das."
Da in diesem Hotel in allen
Badezimmern ein Nebenanschluß des Zimmertelefons hing, wählte er nach einer
Viertelstunde ihre Nummer.
"Geht es dir jetzt
besser?"
"Viel besser. Aber ich will
heute Abend keinen Mann mehr sehen. Das kannst du doch verstehen. Bitte."
"Wenn das dein Wunsch
ist."
"Dann sage ich dir jetzt am
Telefon Gute Nacht."
"Gute Nacht."
Er hatte eigentlich angenommen,
daß das Gefühl der Verlassenheit, das ihn überfiel, wenn er sich abends aus
ihrem Leben ausgesperrt sah, nach seinem Abreiseentschluß fortbleiben würde,
denn er erwartete in diesem Urlaub nichts mehr von ihr. Aber jetzt hatte er sie
aus den Händen der Mafia gerettet. Das war etwas anderes. Er wollte sich mit
seiner allabendlichen Isolation nicht abfinden und ging hinunter zur Lobby. In
die Hotelbar war eine Reisegruppe deutscher Pauschaltouristen eingebrochen. Er
fand einen freien Platz zwischen einem schlanken Weißhaarigen, der ein blaues
Oberhemd mit Bügelfalten trug, und einem agilen Dicken, dessen fast haarloser
Schädel durch einen kräftigen Sonnenbrand gerötet wurde.
"Do you
speak Englisch?" sprach er Arnold an.
"Es kann auch Deutsch sein.
Ich heiße Feldmann."
Die beiden stellten sich vor und
wollten wissen: "Mit welchem Veranstalter sind Sie hier?"
"Ich reise allein."
"Ist das erlaubt?"
"Ich mache das seit mehr als
zwanzig Jahren."
"Wir sind zum ersten Mal
hier. Mit Medicus Universal."
"Eine Weltreise auf Kosten
des Steuerzahlers," sagte Arnold leichthin.
"Das sehen Sie falsch,"
protestierte der Dicke. "Die Steuerzahler, das sind wir. Vierundfünfzig
Prozent Einkommensteuer. Mehrwertsteuer. Benzinsteuer, Versicherungssteuer,
Solidaritätszuschlag. Nicht auf Kosten der Steuerzahler, auf eigene Kosten sind
wir unterwegs, und wenn das unsere Steuerschuld um ein paar Tausender
reduziert, bleibt sie immer noch viel zu hoch."
"Sie haben recht,"
sagte Arnold, "ich habe mich ungeschickt ausgedrückt. Haben Sie erfahren,
was Ärzte hier in China verdienen?"
"Es ist ein Skandal,"
sagte der Weißhaarige, "ein absoluter Skandal. Aber ich muß auch sagen,
das Berufsethos hier hat mir nicht gefallen. Wissen Sie, ich bin Frauenarzt,
und ich habe mich mit dem Leiter der Gynäkologischen Station einer Shanghaier
Klinik unterhalten. Die machen dort sehr viele Abtreibungen. Und wissen Sie,
was sie tun? Sie machen die Eingriffe alle ohne Betäubung. Das tut doch weh,
sagte ich. Es soll auch weh tun, erwiderte mein chinesischer Kollege. Es soll
weh tun, damit die Frauen das nächste Mal besser aufpassen. Was ist das für
eine Einstellung?"
"Nach außen," sagte der
Dicke, "tun die Menschen hier alle umwerfend höflich, immer nur lächeln,
aber im Innersten sind sie Barbaren."
"Quält die westliche Klinikmedizin
ihre Patienten nicht auch?" warf Arnold ein. "Künstliche Sterbeverlängerung
durch Apparate. Ärztlich verordnete Agonie."
"Das ist tragisch. Aber wir
lassen niemanden mit Absicht leiden. Das ist der Unterschied."
"Was ist der Zweck Ihres
China-Besuchs?" erkundigte sich Arnold.
"Eine Informationsreise zum
Thema Akupunktur."
"Waren Sie mit dem Programm
zufrieden?"
"Wir haben eine Menge
Einsichten gewonnen."
"Sind Sie der Wirkungsweise
der Akupunktur auf die Spur gekommen?"
"Ich glaube schon. Der Reiseleiter
ist noch nicht überzeugt. Aber nach unserem Erkenntnistand scheint die Akupunktur
ein System korrelationsloser Phänomene zu sein."
"Was bedeutet das?"
"Früher hatten wir im
Abendland das ptolomäische System der Astronomen, das
haargenau erklärte, weshalb die Sonne und die Planeten sich um die Erde
drehten. Das System war logisch unangreifbar und tausend Jahre lang herrschende
Lehrmeinung. So ähnlich ist es auch mit der Akupunktur. Man stellt zwischen separat
existierenden Fakten einen künstlichen Zusammenhang her. Es gibt Punkte auf der
Haut mit besonderer elektrischer Leitfähigkeit, aber ihre Funktion ist noch
nicht geklärt. Jeder Mensch, dem ich eine Nadel in die Haut stoße, schüttet
Endorphine aus, die sein Immunsystem beeinflussen. Aber daß dabei Energie durch
sogenannte Meridiane fließen soll, halte ich für Humbug."
"Es gibt eine Menge Berichte
über Heilwirkungen der Akupunktur."
"Spontanheilungen treten
immer auf. Dreißig Prozent der Heilerfolge bei jeder Therapie beruhen auf dem
Placeboeffekt. Das ist ein Phänomen, das viel zu wenig erforscht wird, weil die
Pharmaindustrie daran kein Interesse hat."
"Der Placeboeffekt,"
meinte Arnold, "ist wahrscheinlich das Ergebnis der persönlichen
Überzeugungskraft des Arztes."
"Das haben Sie gut
beobachtet," sagte der Gynäkologe. "Darf ich für Sie noch etwas zu
trinken bestellen?"
Die Ärzte machten auf Arnold
trotz ihrer Fähigkeit, sich klar auszudrücken, einen leicht verunsicherten
Eindruck. Sie schienen unter dem Zwang zu stehen, angesichts des Einsturms all
der neuen Eindrücke einer fremden Kultur die eigene Welt aggressiv verteidigen
zu müssen. Arnold hatte diese emotionelle Hilflosigkeit, die bis zu
Wutausbrüchen und hysterischen Lachanfällen führen konnte, selber schon durchlitten.
Er hatte ihr den Namen China-Koller gegeben.
Als er auf sein Zimmer
zurückging, begegneten ihm im Hotelflur zwei höhere Offiziere der chinesischen
Armee, die keine Zimmerschlüssel trugen. Hatte Meilan
doch Anzeige erstattet? Oder hatte es einen Grund für ihren Entführungsversuch
gegeben, von dem er nichts wußte? Er bückte sich vor Meilans
Tür, um zu sehen, ob bei ihr noch Licht brannte. Er konnte nichts erkennen.
Am nächsten Vormittag hatte
Meilan Lust auf ein Picknick. Beim Studium des Reisehandbuchs, das Arnold im
Hotelshop gekauft hatte, fanden sie heraus, daß es in einer Autostunde Entfernung
das 1200 Jahre alte Grab eines Tang-Prinzen gab. Dort wollten sie hinfahren. In
Guilin selber gab es keine historischen Gebäude, abgesehen
von einem alten Stadttor, das jetzt im Zentrum stand. Dabei war die Stadt
hundert Jahre älter als Köln.
"In Peking," sagte
Meilan, "unternehmen die Leute gern Tagesausflüge zu den Kaiser-Gräbern
der Ming-Zeit, und die wurden erst vor fünfhundert Jahre gebaut."
Sie übernahm es, Essen und
Getränke zu besorgen. Es war ein warmer, leicht windiger Tag, ideal zum
Nichtstun. Der Taxifahrer, der sie am Eingang zur Grabanlage absetzte, bot
ihnen an, auf sie zu warten, bis sie mit der Besichtigung fertig waren.
"Das kann Stunden
dauern."
"Hier kommt niemand vorbei,
der Sie zurückbringt. Sie müssen den ganzen Weg zu Fuß gehen. Das sind 45 Meilen."
"Wir gehen gerne zu
Fuß," sagte Meilan gutgelaunt, "wir müssen die Tradition des Langen
Marsches hochhalten."
Das weitläufige Friedhofsareal,
das sie betraten, war zwölf bis fünfzehntausend Quadratmeter groß und
vollständig von einer Mauer umschlossen, deren Krone durchgehend mit blauen Dachziegeln
gedeckt war. In der Nähe des Eingangs sahen sie gepflegte Blumenrabatte, in
Zentrum flankierten zwei Reihen einstöckiger Gebäude einen gepflasterten Platz.
Es gab einen buddhistischen Tempel, ein Museum, einen Andenkenladen, Wirtschaftsgebäude. Japanische Touristen, die
mit einem großen Bus gekommen waren, verdeckten die wenigen Ausstellungsstücke
im Museum. Arnold und Meilan gingen weiter, zum Grabestor, hinter dem auf dem
restlichen Drittel des Friedhofs ein lichter Kiefernwald wuchs. Der Grabhügel
war nicht zu erkennen. Eine Hecke trennte das Kiefernwäldchen vom Besucherbereich
ab. Niemand achtete auf sie, als Meilan und Arnold sich durch die Büsche
zwängten.
Der trockene Boden war
vollständig mit hellbraunen Kiefernadeln bedeckt, zwischen denen sich dünne
Grashalme hervorschlängelten. Meilan hatte ein großes Seidentuch mitgebracht,
das sie auf dem Boden ausbreitete. Sie setzten sich, und Meilan packte das
Essen aus. Es gab Hefeklöße, die mit süß-saurer Bohnenmarmelade gefüllt waren
und schnell sättigten. Zu trinken hatten sie
Chrysanthementee und Sojamilch in ziegelförmigen
Papptüten mitgebracht.
"Im Westen," erzählte
Arnold, "züchten wir Kühe, die uns Milch, Käse und Fleisch geben. In China
macht man Ersatz-Milch, Ersatz-Käse und Ersatz-Fleisch aus Bohnen. Warum eigentlich?
In der Tang-Zeit, als der Mann lebte, der hier begraben liegt, hatte ganz China
sechzig Millionen Einwohner, so viele wie Westdeutschland vor der
Wiedervereinigung. An Platz für Kühe kann es also nicht gefehlt haben. Eine
Milchkuh deckt den Nahrungsbedarf von acht Personen. Die Kuh auf die Weide zu
treiben und zu melken, macht weniger Arbeit als Sojabohnen zu pflanzen, zu
ernten und zu verschroten. Warum haben deine Vorfahren nicht den leichteren Weg
gewählt?"
"Deine Sicht der
Dinge," sagte Meilan, "ist die eines Fremden. Bei uns käme niemand
auf die Idee, anderen Menschen Arbeit zu ersparen. Das setzt die Achtung vor
dem anderen voraus. Die gab es nicht mal zwischen Mann und Frau. In unserer
alten Feudalgesellschaft bedeutete die Ehe die Alleinherrschaft des Mannes über
die Frau. Ein verheirateter Mann hatte das Recht, Konkubinen ins Haus zu
bringen, oder sich mit Dienstmädchen zu amüsieren, aber wenn seine Frau sich
mit einem anderen einließ, durfte er seine Frau totschlagen oder an ein Bordell
verkaufen."
Ihre Stimme klang bitter, ihr
Atem ging heftig. "Sieh dir diesen schönen Park an. Ein riesiges Grundstück
als Grab für einen einzigen Mann. Er war vielleicht einen Meter fünfundsiebzig
lang und fünfzig Zentimeter dick. Warum brauchte er soviel Platz?"
Meilan streckte sich der Länge nach auf
dem Seidentuch aus und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Der Anblick der
schwarzen Kräuselhaare in ihren Achselhöhlen beunruhigte ihn nicht. Dies war
ein Ort des Friedens für Tote und Lebende. Ein paar Insekten zirpten gegen die
Mittagshitze an. Die Kiefern rauschten im Wind, und es klang wie das Rauschen
des Meeres, das vor Jahrmillionen diese Landschaft bedeckt hatte. Arnold war im
Einklang mit sich selbst und mit seiner Nachbarin. Alle Spannungen hatten sich
gelöst.
Als sie sich auf den Rückweg
machten, döste am Eingang ein einsamer Andenkenverkäufer,
der ihnen keine Beachtung schenkte. Sonst war die Welt wie ausgestorben. Sie
hatten tatsächlich einen langen Marsch vor sich.
Die unbefestigte Straße führte an
Reisfeldern vorbei, auf denen die Schößlinge schon versetzt waren. Die Wurzeln
im Wasser, drängten die jungen Pflanzen in die Höhe und in die Breite. Es sah
aus, als wüchsen sie auf Spiegeln. Am Eingang zum nächsten Dorf kam ein bucklichtes rotes Taxi hupend auf sie zugefahren.
Hinter dem Lenkrad saß eine junge
Frau mit zerzaustem Haar und Staubstreifen auf dem Gesicht. Meilan öffnete die
Beifahrertür. Arnold quetschte sich auf den Rücksitz, der so eng war wie in einem
Porsche und ihn zwang, den Kopf einzuziehen, bis er halb zwischen den
Vordersitzlehnen hing.
Die Fahrerin redete
ununterbrochen, doch Meilan reagierte nur mit einsilbigen Einwürfen. Arnold
konnte das Chinesisch der Frau gut verstehen.
"Seid ihr verheiratet? Habt
ihr Kinder? Hast du schon seine Eltern im Ausland besucht? Wie hast du ihn
kennengelernt? Ist es wahr, daß Ausländer im Innenraum viel zu bieten haben?
Ich möchte gern einen Ausländer kennenlernen, aber ich verstehe die Sprache
nicht. Er muß mich nicht gleich heiraten. Er sollte mir einen Wagen mit vier
Türen schenken. Damit könnte ich mehr Geld verdienen und mir ein Haus aus
gebrannten Ziegeln mit einer Dachterrasse bauen. Und immer wenn er in China
ist, könnte er bei mir im Haus wohnen und das Geld für das Hotel sparen. Weißt
du wie teuer Hotels in Guilin sind? Und wenn er im
Ausland ist, könnte meine Mutter auf der Dachterrasse sitzen und die Vögel beobachten.
Meine Mutter hat nicht mehr viel Bewegung, seit ihr letztes Jahr das Bein
amputiert wurde, wegen Zucker."
Sie drehte sich um und lächelte
Arnold an. Sie hatte eine frische, arglose Art, die ihn rührte. Er nahm an, daß
sie eine Angehörige der nationalen Minderheit der Zhuang
war, die in dieser Provinz die Mehrheit bildete. Kein Wunder, daß er ihr Chinesisch
so gut verstand, es war für sie selbst eine Fremdsprache.
"Sieh auf die Straße,"
herrschte Meilan die Fahrerin an.
Arnold gefiel die Zhuang Frau. "Ich finde, sie fährt gut," verteidigte
er sie.
"Bist du verrückt? Die Karre
fliegt jeden Augenblick auseinander. Wir haben Glück, wenn wir lebend nach Guilin kommen."
Beim Aussteigen kontrollierte
Meilan, wieviel Trinkgeld er gab. Arnold verabschiedete sich von der Fahrerin
mit den Worten:
"Koop
khun krap. La goon."
Ein Lächeln des Verstehens ließ
ihr Gesicht noch lebendiger wirken. Erfreut erwiderte sie:
"Koop
khun kha. Pop gan mai, na kha..."
"Was habt ihr
besprochen?" wollte Meilan wissen, die kein Thai verstand.
"Ich habe sie gefragt, ob
sie eine Zhuang ist."
"Das hätte ich dir gleich
sagen können."
Das bucklichte
rote Taxi fädelte sich laut hupend in den Verkehrsstrom ein.
Als sie beim Abendessen saßen,
färbte sich der Himmel hinter den Feigenbäumen leuchtend rot, als schössen Flammen
aus dem Horizont. Ein Abglanz dieser Glut vergoldete die Wellentäler im Wasser
des kleinen Sees.
"Wieviel Geld muß man wohl
für ein Ziegelhaus mit Dachterrasse ausgeben?" fragte Arnold.
"Willst du so wohnen? Ein
Haus auf dem Lande. Ohne Autobushaltestelle. Ohne fließendes Wasser, ohne Kanalisation.
Diese Zhuang-Frauen waschen sich so gut wie nie.
"
Es war nicht der verächtliche
Ton, in dem sie das sagte, der ihn verletzte. Es war das Bewußtsein, daß ihre Reinlichkeit
keinen Bezug auf das Zusammensein mit ihm hatte.
Sie schien ihm die Gedanken vom
Gesicht abzulesen. Sie legte die Hand auf seine Rechte.
"Im Gegensatz zu dieser Frau
will ich dich heiraten."
"Ich will dich auch
heiraten. Laß uns auf dem Zimmer weiter reden."
Zum ersten Mal auf dieser Reise
folgte sie ihm nach dem Abendessen auf sein Hotelzimmer. Sie rückten die beiden
Lehnsessel zusammen, in denen man tief einsank, holten sich das Licht der
schwachen Stehlampe. Sie lehnte sich zurück.
"Was ist das Problem?"
Er wich ihr nicht aus, obwohl
ihre aggressive Art ihn verlegen machte.
"Du bleibst abends lieber
allein in deinem Zimmer als mit mir tanzen zu gehen."
"Das ist in unserer
Gesellschaft vor der Ehe nicht üblich." Ihre Antwort verriet, wie klar ihr
bewußt war, daß es ihm nicht nur ums Tanzen ging.
"Wir sind keine Anfänger. Du
warst schon einmal verheiratet. Gleich in den Flitterwochen hast du entdeckt,
daß du deinen Mann nicht ertragen konntest."
"Das habe ich nie
gesagt."
"Aber es war so."
Sie nickte. Ihre Augen füllten
sich bis zu den Wimpern mit Nässe.
"Ich versteh nicht, warum
diese Sache so wichtig sein soll, wenn man sich wirklich liebt, wenn man heiraten
will."
"Bei deinem Mann war es dir
wichtig. Unendlich wichtig. Daß ihr euch trenntet."
Sie nickte wieder.
"Ich will nicht, daß es dir
mit mir genauso ergeht. Ich kann nur eine Frau heiraten, die mit mir zusammen
sein will."
"Glaubst du, ich bin jemand,
den man ausprobieren kann, um dann zu sagen: Danke, es war nichts?"
"Ich stelle mir vor, wenn
wir erst einmal anfangen, wollen wir überhaupt nicht mehr aufhören."
"Meinst du das ernst?"
"Du bist eine Frau, ich bin
ein Mann."
"Das sagst du so." Ihre
Stimme klang ratlos, verirrt, verloren.
Er lehnte sein Gesicht an ihre
Wange. Sie saßen stumm zusammen. Er fühlte, wie das Vertrauen zu ihm in ihren
Körper strömte und dann wieder zurückwich, wie Wellen am Meeresstrand. Er
konnte nicht erkennen, in welcher Phase der Gezeiten sie sich befand, Flut oder
Ebbe.
"Versuch es einfach,"
sagte er, sie etwas fester haltend.
"Ich bin todmüde,"
sagte sie, "ich muß mich hinlegen und über alles nachdenken. Wir sehen uns
morgen."
Als sie sich erhob, umarmte er
sie. Sie legte beide Arme um seinen Hals. Ihr Mund war weich und zustimmend, verschloß
sich, kam offen zurück und schloß sich wieder.
"Gute Nacht," sagte
sie, und er spürte die Kraft in ihren Armen, als sie sich losriß.
Am westlichen Frühstücksbüffet
lud Meilan anderntags alle angebotenen Wurst- und Fleischarten auf ihren
Teller. Dann probierte sie aus, was davon sich noch durch Sambal
Oleg im Geschmack verbessern ließ.
"Was machen wir heute?"
fragte sie mit vollem Munde.
"Ich will zum Sheraton-Hotel
gehen und nachsehen ob dort wirklich so gute zeitgenössische Bilder hängen, wie
unser Reisegefährte aus Taiwan behauptet."
"Lassen die uns rein?"
"Was hast du für
Vorstellungen? Wir sind Touristen. Die typischen Hotelbesucher."
"Wie kommen wir hin?"
"Es liegt am Li Fluß, in der
Nähe der Brücke."
Sie nahmen den Shuttle-Bus ihres
Hotel zum Stadtbüro des "International Tourist Service" und gingen
von dort die Uferpromenade hinauf. Leichter Dunst hing über dem Wasser. Die
Schiffssirenen der Ausflugsboote kündigten den Aufbruch zu neuen Tagestouren
nach Yangshuo an. Ein junger Mann kam auf einem
Fahrrad an sie herangefahren, bremste ab und rief: "Ich möchte mich mit
Ihnen auf Englisch unterhalten."
"Wir sprechen kein
Englisch," blockte Arnold auf Chinesisch ab.
"Wo kommt ihr her?"
fragte der Junge aufdringlich weiter.
"Aus Singapur." Es war
ihm eingefallen, weil dort viele gemischte Paare leben.
"Das glaube ich nicht,"
rief der Radfahrer. "Sie ist von hier, sie ist von hier." Dann trat
er schnell in die Pedale und verschwand.
"Wieso hält er dich nicht
für eine Auslandschinesin?" wunderte sich Arnold. "Bei deiner
Kleidung."
"Vielleicht die Schuhe.
Vielleicht ist es auch, weil die Auslands-Chinesinnen eine natürliche
Dreistigkeit besitzen, die uns abgeht. Uns hat man in der Kulturrevolution das
Rückgrat gebrochen."
Das Sheraton war eine aus roten
Sandsteinquadern aufgetürmte Touristenburg. Der Türsteher riß ihnen beflissen
die schwere Glastür auf. Da Arnold nicht an der Rezeption nachfragen wollte,
suchten sie die Lobby und die Piano-Bar ab. Ein junges Serviermädchen trat auf
sie zu, verlor aber bei Meilans Anblick die Sprache und
stotterte: "Ni shi zhen
mei - du bist wunderschön."
Arnold erklärte ihr, was sie
suchten, und sie führte sie zu einem Ölgemälde, das im Hintergrund an einer
Wand ganz für sich hing.
Auf den ersten Blick machte es
keinen überspannten Eindruck. Einfaches Dorfleben am Ufer des Li Flußes. Frauen mit freiem Oberkörper gingen vor einer
Bambushütte der Arbeit des Reismahlens nach. Man glaubte die Bäuerinnen singen
zu hören. Ein schwarzes Schwein wälzte sich auf der Straße, ein Kind jagte ein
Huhn.
Es war ein Dorfidyll, aber
zugleich lag über dieser friedlichen Szene eine alptraumhafte Spannung des Bedrohtseins, als könnte jeden Augenblick ein unsichtbarer
Vulkan ausbrechen und alles Leben auf dem Bild unter Staub und glühenden
Steinen begraben.
"Das ist großartig,"
sagte Meilan. Sie drückte seinen Oberarm kurz über dem Ellenbogengelenk.
"Der Maler lebt hier in Guilin, hat der Architekt erzählt."
"Wie können wir mehr über
den Maler dieses Bildes erfahren?" fragte Arnold die Serviererin, die
ihnen nachgegangen war.
"Die Geschäftsführerin im
Freundschaftsladen hat Bilder von ihm zum Verkauf. Sprechen sie mit ihr."
Eine aparte Frau in Meilans Alter bediente im Andenkenladen
des Hotels.
"Wir interessieren uns für
den Maler Ma, dessen Ölgemälde in der Lobby
hängt."
"Ein wundervolles Bild,
nicht wahr?" sagte die Geschäftsführerin. "Sie haben Glück, ich habe
zwei Gemälde von ihm zum Verkauf." Sie lief zu einem Vorhang an der Seite,
hinter dem sie mit einigem Kraftaufwand zwei ungerahmte Ölbilder hervorholte.
Das eine war eine konventionelle Darstellung einer Frau, die im Li-Fluß badete,
umstellt von phallischen Kalksteinfelsen. Das zweite zeigte eine Frau mit
bloßem Oberkörper, der ein zerzauster kleiner Affe auf der Schulter saß. Über
der Darstellung lag ein Ausdruck von Nähe und Verlorenheit, der Arnold tief
berührte. Meilan musterte die Verkäuferin ungeniert vom Scheitel bis zur
Taille. Sie war das Modell für dieses Gemälde. Aber sie hatte Meilans taktlosen Blick nicht bemerkt, weil sie Arnolds
Reaktion auf das Bild beobachtete.
"Eine großartiges
Gemälde," sagte Arnold, "wir würden den Maler gerne persönlich
kennenlernen."
"Das geht nicht," sagte
die Frau, "er verkauft nur durch uns. Fünftausend US-Dollar für dieses
Ölgemälde."
"Wir sind Journalisten aus
Deutschland," behauptete Meilan. "Wir wollen ein Interview mit ihm
machen."
"Ich könnte ihn
anrufen," meinte die Verkäuferin skeptisch. Sie ging zum Telefon und
wählte eine Nummer, die sie auswendig wußte. Sie sagte ein paar Worte, dann
überreichte sie Meilan den Hörer: "Er will Sie sprechen."
"Wei,"
sagte Meilan, und im nächsten Augenblick veränderte sie sich völlig. Ihre
Haltung straffte sich, ihre Augen strahlten, ihre Stimme wurde süß und
schmeichelnd. Arnold hatte sie noch nie so animiert gesehen.
"Seid ihr zwei verheiratet?"
wandte sich die Verkäuferin eifersüchtig an Arnold.
"So gut wie,"
beschwichtigte er sie.
Als das Telefongespräch zu Ende
war, hatten sie einen Termin für den gleichen Tag, und die Verkäuferin malte
ihnen den Weg zum Atelier des Malers auf.
Bevor sie sich auf den Weg
machten, besorgten sie im Feinkostladen ihres Hotels eine Literflasche Whisky
und eine Zweihundert-Gramm-Dose Nescafe als Gastgeschenk.
Ma war ein untersetzter Mann in
Arnolds Alter mit warm und schwermütig blickenden Augen, einem Kinnbart und kräftigen
Oberarmen. In seiner Gesellschaft befand sich ein weißhaariger Mann mit
junggebliebenen Gesichtszügen, der als Kunstkritiker aus Peking vorgestellt
wurde, der gerade ein Buch über Ma schrieb.
Ma war sofort von Meilan begeistert
und schlug ihr vor, für ihn Modell zu sitzen.
In ihrer Firma in Tschungking, wich Meilan aus, hätte sie Modelle, die
tausendmal schöner wären als sie.
"Dann bring Sie her,
alle!"
Sie zog ihr schwarzes Notizbuch
heraus und sagte zustimmend: "Wir könnten eine Modenschau veranstalten,
wenn es eine Bühne dafür gibt." Modenschauen waren in China das jugendfreie
Gegenstück zu "Crazy-Horse"-Revuen.
Ma öffnete die Whisky-Flasche und
goß jedem ein Wasserglas halb voll. In seiner unwiderstehlich gewinnenden Art
nötigte er selbst Meilan, zu trinken, bis sie husten mußte.
"Ihre Geliebte," sagte
er plötzlich zu Arnold, mit der Hand in der Luft malend, "hat ein
unglaublich interessantes Gesicht. Stellen Sie sich das weibliche Fettgewebe
fort, und Sie sehen Züge von männlicher Kühnheit."
Arnold hatte keine homoerotischen
Wünsche, und er sah, wenn er Mas Anregung folgte,
etwas ganz anderes. Er sah den Engel der Verkündigung, wie er auf Gemälden der
italienischen Frührenaissance erschien. Aber das konnte er den Anwesenden nicht
vermitteln.
Im Nebenraum hatte Ma ein großes Lager an unverkauften und zur Zeit auch nicht
ausgeliehenen Bildern. Zusammen mit dem Kunstkritiker schleppte er sie ins
Atelier, um eine Privatausstellung für Meilan und Arnold zu veranstalten.
Seine Bilder hatten fast alle
einen festen Themenkreis. Seine
Lieblingsmotive waren Bambushütten, Palmen, Reisfelder, Bambusbüsche,
Arbeitselefanten, Wasserbüffel. Das alles bevölkert von halbnackten Frauen. Ein
wenig Gaugin, ein wenig das Bali, das Walter Spies in den Dreißiger Jahren hatte
zeigen wollen.
Aber die Welt, die er malte, war
nicht idyllisch. Jeder Gegenstand, jedes Wesen, das er schuf, hatte ein bedrohliches
Eigenleben, versprach künftiges Unheil.
Von Arnold wurde ein Urteil
erwartet.
Er stellte sich neben eine Zweitversion
des Halbakts mit dem Affen.
"An dieser Darstellung
beeindruckt mich, daß beiden Figuren der Wunsch geliebt zu werden, anzusehen
ist, aber sie können einander dieses Bedürfnis nicht erfüllen. Es gibt keine
Hoffnung für die Liebenden."
"Ich habe dieses Bild Mona
Lisa mit dem Affen genannt," erläuterte Ma.
"Die echte Mona Lisa, die
Leonardo gemalt hat," merkte der Kunstkritiker an, "hatte ein
rätselvolles Lächeln, dessen Geheimnis die Nachwelt nie gelöst hat."
"Kennen Sie die Legende vom
Elefantenkopfberg?" fragte Ma.
"Wir wohnen an seiner
Flanke, aber die Geschichte kennen wir nicht."
"Es war einmal ein großer
weiser Elefant, geht die Legende, der von einer Rotte unbarmherziger Jäger gehetzt
wurde. Er rannte und rannte, bis er vor Erschöpfung nicht mehr weiter konnte.
Da war er am Ufer des Li Flusses angelangt. Er wollte sich mit einem Schluck
Wasser stärken und kniete am Ufer nieder. Als er den Rüssel ins Wasser tauchte,
sprang ein Jäger auf seinen Nacken und trieb ihm sein langes Messer zwischen
die Halswirbel. Der Elefant war auf der Stelle tot."
"Eine entsetzliche
Geschichte," meinte Arnold, "das Böse siegt über das Gute."
"Die Gegend hier ist voll
von solchen schrecklichen Legenden. Im Augenblick, da wir glauben, unseren
Durst zu stillen, müssen wir sterben."
Meilan hatte eine ganz
persönliche Interpretation zu Mas Malstil. In der
chinesischen Literatur, referierte sie, gab es das Gegensatzpaar "Djia" und "Dschen".
"Djia" hieß falsch, unecht, Schein, Illusion.
"Dschen" war das Wahre, das Echte, die Substanz.
Im Roman "Traum der roten Kammer" hießen die beiden Großfamilien Djia und Dschen. In der
"Pilgerfahrt nach dem Westen" begegneten die Hauptfiguren dauernd falschen
Buddhas, die "djia" waren. In der Malerei Mas gab es keinen schönen Schein, kein "Djia", nur "Dschen".
Meilan redete sich in
Begeisterung. Sie lebte auf im Ungang mit Künstlern und Intellektuellen, mehr
als in der Welt der Zahlen und Geschäfte.
Aus dem Depot wurden weitere
Bilder geholt, deren Thematik zunehmend bedrohlicher wurde.
Um einen toten Wasserbüffel saßen
barbusige Frauen, die ihn beweinten. Ein sterbender Elefant lag auf der Seite,
von vielen Speeren durchbohrt. Die Stoßzähne ragten anklagend in den Himmel.
Eine erschossene Frau versank in einem Reisfeld, der Wasserspiegel unter den
grünen Halmen war hellrot getönt. Ein Regen von Totenschädeln
ging auf eine buddhistische Stupa nieder. Die Köpfe
waren fast lebensgroß, bei manchen klebten noch Haare und Blut an den
gebleichten Knochen.
"Diese Bilder habe ich nach
dem vierten Juni gemalt."
"Nach dem Massaker von
Peking," fügte Meilan erläuternd hinzu."
"Ich war während der
Demokratiebewegung in Peking," sagte Arnold. "Bekommen Sie keine
Schwierigkeiten mit dem Staatssicherheitsdienst, wenn sie solche Bilder malen?"
"Die sind so
beschränkt," sagte Ma, "die glauben doch,
daß ich das japanische Massaker von Nanking darstelle."
Zusammen mit dem Kritiker
schleppte Ma noch ein zwei Meter langes Gemälde an,
das einen Berg von ausgebluteten Embryos unter Kokospalmen zeigte. Das Motiv kam
Arnold bekannt vor, aber er wußte nicht woher.
"Das hätten alles erwachsene
Frauen werden können," schimpfte Ma, "aber
die moderne Ultraschalltechnik ermöglicht die Geschlechtserkennung im
Mutterleib. Und das ist das Ergebnis."
Ma richtete eine kaum hörbare Frage
an Meilan, auf die sie unwirsch reagierte.
Arnold stieß sie an: "Er hat
dich gefragt, ob du abgetrieben hast?
"Ja."
"Und, hast du?"
"Ich habe niemals einem Mann
erlaubt..." Sie brach ab. "Ich vertrage den Whisky nicht. Ich will
heim."
Aber so schnell kamen sie nicht
davon. Ma hatte eine Einladung zu einer Ausstellung
im Herbst in New York, und die Besucher mußten ihm erklären, welche Gemälde er
hinschicken sollte. Bei den Embryos war Arnold sich im Zweifel, aber von vielen
anderen versprach er sich starke Wirkungen. Der Kritiker hielt sogar Verkaufspreise
in der Lage von zwanzigtausend bis achtzigtausend Dollar vorstellbar. Meilan
wurde aufgefordert, ihre Vorstellungen von Djia und Dschen für den New Yorker Ausstellungskatalog zu Papier zu
bringen. Bevor sie gingen, mußten sie noch einmal auf den Erfolg anstoßen.
An der frischen Luft vor dem Haus
faßte Arnold Meilan um die Hüfte. Sie lehnte sich leicht gegen ihn. Von einem
Imbißstand am Straßenrand kauften sie knusprig gebratenes Hühnerfleisch und
aßen es im Gehen mit den Fingern. Sie ließ es zu, daß er anschließend ihre
Fingerspitzen sauber leckte.
"Kann es sein," fragte
er, "daß du noch Jungfrau bist?"
"Wie sollte das angehen? Ich
bin Achtunddreißig und geschieden. Aber ich mag Männer nicht besonders."
Trotzdem kam sie noch zu einem
Gutenachtkuß in sein Zimmer. Weil sie den Abend weggewesen waren, standen die
schweren Fenstervorhänge noch offen, und man konnte den erleuchteten Umriß des
Elefantenkopfberges sehen. Aber man konnte von draußen nicht in ihr Zimmer
blicken. Er zog die Vorhänge nicht zu, weil er Angst hatte, sie scheu zu machen.
Sie wollte nichts zu trinken, sie hatten bei Maler Ma
genug bekommen. Als sie vor ihm stand und er mit beiden Händen ihren Busen umfaßte,
seufzte sie, aber sie stoppte ihn nicht, ließ sich von Bluse und BH befreien.
Das Gefühl, das seine Hände und Lippen in ihr auslösten, schien sie unvorbereitet
zu treffen. Er empfand eine atemberaubende Zärtlichkeit für ihre plötzlich
ausbrechende Sinnlichkeit. Wenn er sie losließ, um durchzuatmen, holten ihn
ihre Hände zurück. Eine Stunde verging so, oder anderthalb. Das Profil des
Elefantenkopfberges war bei ihnen. Das Verlangen nach Zärtlichkeit nahm nicht
ab. Das einzige, was sie nicht spüren wollte, war das Tasten seiner Finger auf
ihrer Strumpfhose. Ihre Hände wiesen ihn energisch zurück.
"Warum nicht?" fragte
er.
"Niemals," raunte sie.
"Bist du sicher?"
Sie rollte sich auf die Seite und
zog seinen Kopf auf ihre Schulter.
"In diesem Land," sagte
sie, nahe an seinem Ohr, "kann ich dir niemals gehören, solange wir nicht
verheiratet sind."
Er streichelte immer noch ihre
Haut, aber die unerträglich gewordene körperliche Erregung schwächte sich ab
und machte einer angenehmen Spannung Platz.
"Ich sage nicht,"
erklärte sie, "daß ich nicht will. Ich sage nur, hier geht es nicht. Du
kennst dieses Land nicht. Du siehst den wirtschaftlichen Fortschritt, aber was
hinter der Oberfläche passiert, weißt du nicht. Wir stehen unter Beobachtung.
Überall hier können Mikrophone versteckt sein, die jedes Wort, das wir sprechen
aufnehmen. Und wenn sie feststellen, daß ich etwas Verbotenes tue, werden sie
warten, bis du abgereist bist und mich dann ins Gefängnis bringen, ohne daß du
je erfährst, was passiert ist."
"Ich würde Himmel und Erde
in Bewegung setzen, um dich freizukaufen, wie es der französische
Kulturattachee getan hat."
Er nahm ein kleines Frottiertuch
in die Hand und rieb ihren noch etwas feuchten Körper trocken. Er konnte sich
vorstellen, daß es Menschen gab, die eine irrationale Angst vor dem System
hatten, aber sie gehörte wohl nicht dazu. Sie unterschätzte seine Kenntnis der
Verhältnisse in China und übertrieb deshalb phantasievoll. Sie hätte schon
Mitarbeiterin der Sektion zwei des militärischen Abschirmdienstes sein müssen,
um durch ihn ernste Probleme zu bekommen. Aber er sagte nichts, weil er ihr
nicht das Gesicht nehmen wollte.
Sie setzte sich auf, so daß er
ihre Schönheit wieder im Lampenlicht sah, und ihm wurde schwindlig vor Glück.
"Da sagst, hier geht es
nicht. Aber wo? Wo dann?"
"Warum lädst du mich nicht
nach Deutschland ein?"
"Du hast hier einen Job als
Managerin. Kannst du fort?"
"Für ein Deutsch-Studium im
Lande bekäme ich Urlaub. Kein Problem. Wir wollen den deutschen Markt erobern."
"Warum hast du das nicht
früher gesagt?"
"Ich dachte, du würdest von
selbst darauf kommen."
Empört kniff er sie ins Gesäß, so
gut das durch drei Schichten Bekleidung hindurch möglich war. Ihr Gesichtsausdruck
verriet ihm, daß sie nicht verstand, was in ihm vorging, aber die Berührung
schien ihr zu gefallen.
"Hilfst du mir? Ich brauche
eine offizielle Einladung, und die bestätigte Anmeldung zu einem Studiengang."
"Wo willst du wohnen?"
"Bei dir zunächst. Wenn du
Platz hast."
"Ich habe nur ein Bett. Ein
Meter fünfzig breit."
"Das reicht vollkommen."
Sie sah ihn erwartungsvoll an, eine Managerin, die ein Geschäft abschließen
wollte, in diesem Fall einen Exportabschluß über ihre eigene Person. War das
ihr Ziel von Anfang an gewesen? Hatte sie ihn hereingelegt? Nein, sie gab ihm
eine Chance. In Köln würde sich ihre Zukunft entscheiden. Wenn sie sich
erlaubte, die Leidenschaft, die er heute in ihr entdeckt hatte, in Deutschland
weiter wachsen zu lassen, würden sie nach wenigen Tagen eine völlig neue Beziehung
haben, so aufregend, wie er es sich vorgestellt hatte, als er sie zum ersten
Mal sah, auf den Treppenstufen vor dem Zollamt.
"Wann kannst du frühestens
kommen?"
"Bei Anfang eines
Studiengangs. Erster Juli, erster Oktober, das mußt du herausfinden."
Sie streifte sich den BH über,
bevor sie ihn umarmte. "Abgemacht?"
"Abgemacht."
Der nächste Vormittag war wieder
von den Zwängen des Sachlichen bestimmt. Zunächst mußte geklärt werden, was aus
den Zimmern wurde. Eigentlich sollten sie um zwölf geräumt werden, aber der
Empfangschef war damit einverstanden, daß sie Arnolds Zimmer zu zweit noch bis
sechzehn Uhr benutzten, wenn sie die 316 gleich nach dem Frühstück übergäben.
Meilan hatte schon gepackt. Er half ihr die wenigen Sachen in sein Zimmer zu
tragen. Es war das erste Mal, daß er ihre vier Wände zu Gesicht bekam, sie
glichen den seinen wie ein Ei dem anderen, nur war die Einrichtung spiegelverkehrt.
Nachdem sie das geregelt hatten,
gingen sie hinunter zum Fluß und mieteten ein Boot, das von einer kräftigen
alten Frau gerudert wurde. Sie trieben mit der Strömung, die ganz schwach war,
auf den Rüssel des Elefantenkopfberges zu. Es brächte Glück, sagte die Alte,
wenn beide den Rüssel gleichzeitig mit beiden Händen berührten. Dazu mußten sie
aufstehen. Das Boot schwankte heftig, und sie hatten am meisten damit zu tun,
sich gegenseitig zu stützten.
Dann gelang es der Alten, das
Boot so zu stabilisieren, daß sie ihre vier Handflächen nebeneinander auf den
Elefantenrüssel legen konnten, und der Stein fühlte sich vom vielen Anfassen
ganz speckig an, und als sie ihn losließen, machte das Boot einen Satz, und sie
fielen einander in die Arme, um nicht aus dem Boot geschleudert zu werden. Ein
Schicksal, das nicht wenigen passierte, die man naß, aber vergnügt, auf einem
Felsen weiter unterhalb kauern sah.
Nach dem Mittagessen schmusten
sie ein wenig in Abschiedsstimmung auf seinem Zimmer. Um halb drei verkündete
Meilan, daß sie baden müsse, und ließ Wasser in die Wanne laufen. Sie ging mit
einem Stapel Kleidungsstücke ins Bad und schloß die Tür fest zu. Es dauerte fast
eine Stunde, bis sie frischgeschminkt und vollbekleidet wieder herauskam.
An der Rezeption bestand sie
darauf, daß zwei getrennte Rechnungen ausgestellt wurden, eine auf ihren Namen
für ihr Zimmer und eine auf seinen Namen für sein Zimmer. Aber sie hatte nichts
dagegen, daß er beide Rechnungen mit seiner Kreditkarte bezahlte.
Am Flughafen stellte sich heraus,
daß es zwei getrennte Abflughallen für Inlands- und Auslandsflüge gab. Sie konnten nur einen
Augenblick auf einer Bank zwischen den beiden Hallen Platz nehmen, um sich die
Hände zu drücken. Arnold erzählte ihr schnell noch, daß er auf der Dachterrasse
seiner Kölner Wohnung einen großen Bambus stehen hatte, und das schien ihr Mut
zu machen. Dann mußte jeder zu seiner eigenen Abfertigung. Meilans
Maschine startete etwas früher. Arnold stand an der großen Glasscheibe seines
Wartesaals - den braunen Vorhang hatte er zur Seite geschoben - und beobachtete,
wie die Passagiere nach Tschungking zu ihrer Propellermaschine
geführt wurden. Meilan konnte er nicht ausmachen. Einen Augenblick später ging
sie ganz allein über das Rollfeld, sehr aufrecht. Er erkannte den langen Seidenrock,
den sie im Badezimmer angelegt hatte. Er besaß jenen satten Farbton, der in
der BMW-Werbung als
"brokatrot" bezeichnet wurde. Als sie am oberen Ende der Gangway angelangt
war, drehte sie sich nicht zu einem letzten Winken um, sondern begrüßte die
Stewardeß mit einem Scherzwort.
Gleich darauf mußte auch Arnold
zu seiner Boeing 737 wandern. Sie war ganz neu, erst vor wenigen Tagen in Dienst
gestellt worden, und innen roch alles noch nach Lack, Plastik und Schmieröl.
SECHSTES KAPITEL
Jedes Mal, wenn er über die Severinsbrücke nach Köln zurückkehrte, war es nicht die
Silhouette des Doms, die ihm bei der Fahrt über den Rhein das stärkste
Heimatgefühl schenkte, sondern das in sich ruhende Geviert von Sankt Martin.
Er war zwölf Tage weggewesen. Auf
seinem Scheibtisch hatte sich nichts bewegt. Dr.
Nagel hatte sich nicht entschließen können, auch nur einen einzigen der
Vorgänge, die bei ihm schon seit Wochen auf Entscheidung warteten, an Arnold weiterzureichen.
Conrad war über Pfingsten in den
Allgäu gefahren und hatte sich mit ihrem Mann alte Bauernhäuser angeschaut.
Die Unterlagen für Zhang Meilans Visumsantrag hätte er in sechs Stunden zusammenhaben
können, wenn er sich ausgekannt hätte. Auch so ging es sehr schnell. Da es in
Köln kein Goethe-Institut gab, und er sie auf keinen Fall außerhalb unterbringen
wollte, etwa im Sauerland, besuchte er die Leiterin der Berlitz
School, die im Zentrum von Köln Intensivkurse für Ausländer anbot. Er traf eine
kompetente, verständnisvolle und hilfsbereite Dame, die seine Situation besser
verstand als er selbst. Das Visa-Sonder-Kontingent
für Deutsch-Lernende gab es nicht mehr, und eine achtunddreißigjährige kaufmännische
Angestellte hätte auch nie eins erhalten. Keine Schwierigkeiten gab es, ein
Besuchervisum auf neunzig Tage zu bekommen. Darauf hätte seine Bekannte sogar
zwei Mal im Jahr einen Anspruch. Die Berlitz School
veranstaltete Ganztages-Intensivkure, in denen ein
Ausländer in drei Monaten hervorragend Deutsch lernen könnte. In knapp vier Wochen,
Anfang Juli, ging es wieder los.
Der nächste Gang führte ihn ins
Ausländeramt, wo die Besucher vor Türen mit Namens-Buchstaben warteten. Bei Z
saß niemand auf der Bank, und die Sachbearbeiterin unterbrach ihr Akten-Studium,
um ihn zu beraten.
Das wichtigste war eine
Verpflichtungserklärung, die er vor einem Beamten der Stadtverwaltung
unterschreiben und gebührenpflichtig abstempeln mußte. Darin garantierte er,
alle Kosten für die An- und Abreise, den Unterhalt in Deutschland und eine eventuell
erforderliche polizeiliche Abschiebung zu übernehmen. Er mußte eine
Krankenversicherung für seinen Gast abschließen, ein Flugticket für den Hin-und Rückflug kaufen und der Deutschen Botschaft in
Peking seine Gehaltsbescheinigung vorlegen. Auch war der Nachweis zu erbringen,
daß er in Köln eine Wohnung besaß, in der er Besuch aufnehmen konnte.
Bevor Arnold das Merkblatt mit allen diesen Vorschriften
einsteckte, fragte er noch, was für eine Möglichkeit es gäbe, nach der Einreise
das Visum zu verlängern. Nur durch Heirat, es genüge eine Bescheinigung des
Standesamtes, daß das Aufgebot bestellt sei.
Als erstes rief er Meilan an. Sie
war entsetzt, daß sie nur für neunzig Tage eingeladen werden sollte.
"Kannst du denn nichts durch
Beziehungen machen?"
"Man kann eine Menge tun,
aber erst mußt du da sein."
Er diktierte ihr, welche Daten er
für seinen Einladungs-Antrag brauchte. Dazu gehörte ihre Paßnummer.
"Ich habe keinen Reisepaß.
Der wird erst ausgestellt, wenn ich eine Einladung vorlege."
"Dann schreib die Nummer des
Personalausweises hin. Soll ich dir einen Flugschein für den 1.Juli
mitschicken, oder bekommst du so schnell keinen Paß?"
"Das macht sich gut, wenn
der Flug schon gebucht ist."
"Ich schicke dir alles wie
beim letzten Mal zu. Ich liebe dich."
"Ich dich auch."
Beim Mittagessen in der Kantine
der Bank steuerte Cornelia den Tisch an, an dem er alleine saß. Sie hatte ein
Mineralwasser und einen Salat Capricciosa auf ihrem
Tablett.
"Haben Sie Urlaub
gemacht?" fragte sie.
"Keine Zeitungen, kein
Fernsehen," erklärte er, um mögliche Wissenslücken zu entschuldigen.
"Ist der Vorstand mit dem Kanzler in Asien unterwegs, um Schecks zu verteilen?"
"Das können Sie ja nicht
wissen. Wir bekamen ganz plötzlich eine Einladung zur Sondertagung
der Weltbank in New York. Thema China." Die Weltbank tagte also tatsächlich.
"War das wichtiger als eine
Reise im Kanzlerflugzeug?"
"Na ja. Es war zugesagt, daß
er mit dem Kanzler mitfliegt. Aber dann hat die Flugbereitschaft das
Abfluggewicht der Maschine überprüft, und das Kanzleramt hat sich entschuldigt
und uns vorgeschlagen, über ein Bonner Reisebüro einen Linienflug zu buchen und
vor Ort zur Kanzlermannschaft zu stoßen."
"First Class
mit Singapore Airlines kann man aushalten."
"Es gibt keine First Class in den Anschlußflügen ab Singapur. Das müßten Sie
wissen. Und die Business Class auf diesen Strecken
ist Wochen im voraus ausgebucht. Dann in der Gluthitze der Tropen an
Paßkontrolle und Zoll Schlange stehen und von erpresserischen Taxifahrern zu
falschen Hotels gebracht werden, während das Kanzlerteam cool durchgewinkt wird
und in die wartenden Busse steigt. Würden Sie das machen?"
"Ich würde dem Kanzler kein
Geld mitgeben."
"Wohl wahr. Habe ich Ihnen
eigentlich gesagt, daß es bei der Weltbanktagung um
China geht? Wenn Sie da gewesen wären, hätten Sie für den Vorstand ein Exposee schreiben können."
"Ich war in China. Privat.
Ich habe die Zukunft gesehen, und ich habe eine Idee für unsere Arbeit hier
mitgebracht."
"Ja," sagte sie
erwartungsvoll und stützte den Ellenbogen auf, die Gabel verkehrt herum
zwischen die Zähne klemmend.
"Das ganze Wissen, das meine
Abteilung über Asien gesammelt hat, das wir für Exposees,
Länderberichte, Anfragen aus der Wirtschaft benutzen, das möchte ich alles in
eine Datenbank unseres Hauses einbringen, die öffentlich zugänglich ist, über
Compuserve etwa, in der Form von Hypertext."
"Ich bin dafür. Man sagt
aber nicht mehr Hypertext. Das ist Schnee von gestern. Was Sie wollen, ist eine
Webseite im World Wide Web. Es wird Einwände geben. Beraten Sie sich mit Hartmann,
der SAP betreut. Der kennt die Widerstandsnester am besten."
Sie spießte ein großes Stück
Thunfisch auf und schob sich den Rest eines widerspenstigen Salatblattes in den
Mund. "Wir bleiben in Kontakt."
Auf einmal ging es im Berufsleben
wieder aufwärts. Das war ein gutes Gefühl. Es würde ihm helfen, die Spannungen,
die mit Meilans Besuch sicherlich auf ihn zukämen,
besser auszubalancieren.
Als Conrad ihm ein Fax aus Tschungking brachte, fragte sie ihn, ob er sich ihre
Pfingstphotos ansehen wolle. Sie und ihr frühpensionierter Mann hatten sich
richtig Mühe gegeben, schön gelegene Bauernhäuser in Höhenlagen von achthundert
bis tausend Metern aus allen Perspektiven zu fotografieren. Es waren gut erhaltene
Anwesen, denen nur eins fehlte, Menschen und Tiere, die darin wohnten. Arnold
bekam Lust, über Almwege zu schlendern, den Harzduft der Tannen einzuatmen und
aus Trogbrunnen frisches Bergwasser zu trinken.
"Das könnte ein Hobby
werden," kommentierte Arnold. Er dachte ans Photographieren.
"Ja, nicht wahr?"
Conrads Augen glänzten. Arnold war sich nicht sicher, was sie sich dabei
vorstellte.
Am Hansaring hatte ein "Last-Minute"-Reisebüro aufgemacht, das verbilligte Linienflüge
anbot. Der Berater, der Arnold bediente, hatte jene persönlich verbindliche
Art, wie man sie oft bei früheren Osho-Anhängern
traf, auch wenn sein gut geschnittener Anzug darauf keine Rückschlüsse mehr
zuließ. Ein Ticket Peking-Frankfurt-Peking gab es für zwölfhundert Mark. Er
konnte es gleich mitnehmen, wenn er bar bezahlte. Der junge Mann wußte auch,
daß der ADAC im Schalterverkauf Krankenversicherungen für Ausländer ausstellte,
die Deutschland besuchen wollten. Am anderen Morgen ließ Arnold seine Garantie-Erklärung
auf dem Einwohnermeldeamt abstempeln, dann sagte er der Poststelle Bescheid,
daß er auf den Besuch des DHL-Boten wartete.
Der IT-Spezialist
Hartmann war ein alterslos wirkender Mittvierziger
mit schlanker Figur und kurzgelocktem graublondem Haar. Arnold sah ihn manchmal
an der Bushaltestelle stehen, wenn er mit seinem BMW aus der Tiefgarage herausgefahren
kam. Dann nahm Arnold ihn gewöhnlich bis zu einer Straßenbahn-Haltestelle mit.
Hartmann war der bescheidenste und höflichste Mensch, den Arnold je
kennengelernt hatte, und diese Eigenschaften brauchte man wohl auch, wenn man Abteilungsleitern,
die ihre Banklehre gewissermaßen noch am Stehpult absolviert hatten, hundertmal
am Tage klarmachen mußte, daß das SAP System R3 nicht nach den Regeln des
gesunden Menschenverstandes funktionierte, aber trotzdem brauchbare Resultate
lieferte.
Arnold hatte keine Probleme mit SAP. Es
befriedigte bei ihm jenen Spieltrieb, den andere Computernutzer auf karriereschädlichere
Weise mit "Minesweeper" oder importierten
Programmen auslebten. Arnold hatte sich von Hartmann sogar dazu überreden
lassen, auf seiner Etage als SAP-Nothelfer zur Verfügung zu stehen, was ihm
manchmal Überstunden am letzten Arbeitstag eines Monats eintrug, wenn die
Monatsabschluß-Eingaben gemacht werden mußten.
Hartmann hatte Zeit für Arnold.
Er begriff sofort, worum es ging, und er demonstrierte ihm, mit was für
Widerständen er rechnen mußte.
"Warum in alles in der
Welt," fragte Hartmann, "soll die Bank Hunderttausende, wenn nicht Millionen,
in ein Projekt stecken, das ihr keine Gebühren, keine Zinsen, keinen kalkulierbaren
Profit bringt?"
"Unser Geschäft ist es, Geld
zu bewegen. Es bewegt sich nicht von selbst. Es braucht Informationen dazu. Im
Augenblick beziehen unsere Kunden ihre Informationen von Dritten. Ich will
Entscheidungshilfe liefern, unsere finanziellen Dienstleistungen in Anspruch zu
nehmen. Mehr Information, schnellerer Umsatz."
"Vielleicht macht das
Sinn," sagte Hartmann, "vielleicht nicht. Ich habe keine Vorstellung,
wie Sie das durchbringen können. Ich kann Ihnen nur eines sagen. Im
Haushaltsplan sind für dieses Jahr zwei Millionen für sogenannte Pilotprojekte
elektronisches Banking fest eingeplant aber noch
nicht abgerufen. Ich schreibe Ihnen hier die Nummer des Haushaltstitels auf. Im
Augenblick blocken die EDV-Leute alles ab, aber wenn Sie Ihr Pilotprojekt
außerhalb des hauseigenen Netzwerks zum Laufen bringen, sehe ich gewisse
Chancen. Die Mittel sind da."
"Am Donnerstag," sagte
Conrad, "ist Fronleichnam. Ich dachte mir, wenn ich den Mittwoch davor und
den Freitag danach Urlaub nehme, könnte ich mit meinem Mann fast eine Woche im
Allgäu sein."
"Das wäre der zweite Besuch
in diesem Monat."
"Mein Mann platzt vor
Tatendurst. Ich weiß gar nicht, womit ich ihn zuhause noch beschäftigen
kann."
"Dann ist er wohl zu früh in
den Ruhestand getreten."
"Er hatte keine andere Wahl.
Abfindung und Frühpension oder arbeitslos. Wie hätten Sie sich entschieden?"
"Ich bin erst
zweiundfünfzig"
"Er ist auch gerade
Achtundfünfzig."
Als Dr. Nagel von dem offenen
Etatposten erfuhr, wurde er sehr aufmerksam. Auch der Prestigegewinn für seine
Abteilung wurde ihm sofort klar. Er beauftragte Arnold bis sechzehn Uhr einen Antrag
auf ein solches Pilotprojekt zu formulieren. Schriftlich und auf Diskette.
Auf zwei Kopien seines Entwurfs
schrieb Arnold "Vertraulich. Nur zur persönlichen Information",
steckte sie in noch unbenutzte Hauspostumschläge und legte sie auf der
Poststelle persönlich in die Fächer von Hartmann und Cornelia.
Am Fronleichnam wurde er früh
durch einen Anruf geweckt. Er erkannte das Satellitenpfeifen aus Tschungking. Aber Meilans Stimme
erkannte er nicht. Sie war vollkommen klanglos. Entmutigt.
"Ich war gestern auf der
Botschaft in Peking. Sie haben mir das Visum verweigert."
"Gestern? Du hast schon
einen Reisepaß? Sie können dich nicht ablehnen."
"Es ging ganz schnell mit
dem Paß, und ich hatte eine Möglichkeit, nach Peking mitzufliegen. Aber sie
wollen mich nicht in Deutschland haben."
"Das ist ein Mißverständnis.
Ich brauche dich hier. Du bekommst dein Visum. Ich muß nur anrufen. Heute ist
ein deutscher Feiertag. Morgen Abend kann ich dir alles erklären. Halte die Tränen
so lange trocken. Wir sehen uns am 1.Juli. Es wird alles gut. Ich verspreche es
dir. Ich liebe dich. Ich tue alles für dich."
Arnold kannte den Wirtschaftsattachee der Deutschen Botschaft, einen Graf Muskau. Er schickte ihm regelmäßig seine Ausarbeitungen
über China per AA-Courier und hatte mit ihm in Peking
schon auf einem Bankett mit den chinesischen Gastgebern die Gläser gekreuzt. Er
hatte sogar die Privatnummer seiner Pekinger Dienstwohnung in seinem Reiseadreßbuch.
Graf Muskau war ein häuslicher Mensch, er besuchte
weder die Große Mauer noch die Ming-Gräber. Arnold bekam ihn sofort an den
Apparat.
"Bei euch in Deutschland muß
doch noch Nacht sein. Bist du wieder auf dem Sprung hierher?"
"Es ist ein völlig privater
Vorgang, bei dem ich dich um Amtshilfe bitten will. Ihr habt doch eine
Konsularabteilung im Hause."
"Ja, aber nicht mehr hier,
sondern in einem anderen Gebäude, seit wir die DDR-Botschaft geerbt haben."
"Ich habe eine Bekannte.
Chinesische Unternehmerin. Die habe ich zu einem Neunzig-Tage-Besuch eingeladen.
Gerade ruft sie mich an und behauptet, die Botschaft habe ihren Visums-Antrag
abgelehnt."
"Die sind dazu gar nicht
berechtigt. Ich gehe gleich morgen früh hin und frage für dich nach.
Buchstabier mir den Namen."
Arnold verbrachte den
Fronleichnam wie in Trance. Er fuhr zwar mit der Straßenbahn zur Mühlheimer Brücke
und sah sich die Schiffsprozession an. Aber die Erinnerung an die
Penthaus-Kajüte auf dem Li Fluß mit den Schriftzeichen "Doppeltes
Glück" trieb ihn wieder zurück. Die Lindenbäume am Ubierring
rochen nach Autoabgasen. Der Spargel, den er sich in dem Feinkostladen an der Ecke
gekauft hatte, schmeckte nach zu selten abgetautem Kühlschrank.
In der Nacht träumte er von
fettleibigen Triaden-Gangstern, die ihre blauen Turnhosen auszogen, aber immer
noch etwas darunter anhatten. Das Telefon weckte ihn, bevor er das Schlimmste
sah.
"Muskau
hier. Da ist tatsächlich etwas dumm gelaufen. Ich habe mit dem Beamten
persönlich gesprochen. Er kann sich gut an die Bewerberin erinnern, er hat sich
lange mit ihr unterhalten. Was ihn nicht überzeugt hat, ist ihre Loyalität dir
gegenüber. Wir haben in letzter Zeit mehrere Fälle gehabt, daß gutmütige
China-Touristen eine Reisebekanntschaft eingeladen haben und die Frau dann nach
wenigen Tagen abgetaucht ist, ohne nach neunzig Tagen die Rückreise anzutreten.
Wenn sie geschnappt wird, darf der glücklose Gastgeber auch noch die Kosten der
Abschiebung übernehmen."
"Will mich die Botschaft
entmündigen? Mir jedes Risiko abnehmen?"
"Außerdem gab es
sicherheitsdienstliche Erkenntnisse. Man hat mir nicht gesagt, was für
welche."
"So ein Unsinn. Das kann nur
eine Verwechslung sein. Für euch sieht doch ein Chinese wie der andere
aus."
"Es war ein übereifriger
Beamter. Er wußte nicht, wer du bist. Ich habe es ihm gesagt. Deine Frau Zhang
bekommt ihr Visum jetzt. Sie muß es nur abholen. Bildhübsche Frau übrigens, auf
dem Antragsphoto. Viel zu gut für einen alten Papiertiger."
Arnold hatte das Bedürfnis, sich
erst die Zähne zu putzen, bevor er in Tschungking
anrief.
"Es war ein Mißverständnis.
Sie haben nicht gewußt, daß die Einladung von mir ausgeht. Sie haben alles in
Ordnung gebracht, Du kannst dir das Visum jetzt abholen"
"Weißt du, wie schwer es
ist, von Tschungking nach Peking ein Flugticket zu
bekommen? Du weißt es. Und weißt du, wie lange die Eisenbahnfahrt dauert? Über
einen Tag und eine Nacht."
"Ich habe nicht geahnt, daß
du sofort losfliegst, sonst hätte ich vorher in der Botschaft Bescheid gesagt.
"
"Du meinst, ich habe alles
falsch gemacht, weil ich schnell zu dir nach Deutschland kommen wollte?"
"Es ist nichts entschieden.
Das Visum liegt für dich bereit."
"Weißt du, wie mich die
Beamten behandelt haben? Wie eine Kriminelle. Das habe ich nicht erwartet."
"Ich will nicht auf dich
verzichten. Ich überweise dir Geld auf die Bank of China in Tschungking."
"Ich brauche kein Geld. Das
Schicksal ist gegen uns. Du kannst nichts gegen das Schicksal tun. Vielleicht
sehen wir uns in einem anderen Leben wieder, vielleicht in einem anderen Land.
Ich werde immer davon träumen."
Sie schluchzte und legte auf.
Er war enttäuscht und wütend
zugleich. Anstatt die Sache rational anzugehen, hatte sie sich in eine ihrer
Launen fallen lassen. Das würde vorübergehen. Bis zum ersten Juli war noch
Zeit. Notfalls müßte er nochmal nach Tschungking fliegen, um mit ihr zusammen das Konsulat zu
besuchen. Er war nicht bereit, seinen Traum vom Glück aufzugeben.
Arnold wurde eingeladen, vor dem
Ausschuß EDV-Projekte über das Pilotprojekt der Volkswirtschaftlichen Abteilung
zu referieren. Die Sitzung fand in einem klimatisierten Konferenzsaal statt, in
dem geraucht werden durfte. Die meisten Teilnehmer waren Arnold persönlich
nicht bekannt. Der Vorsitzende, ein Techniker, hatte seine eigenen Wertmaßstäbe.
"Wir wollen uns nichts
vormachen," sagte er, "die Sicherheit der Geräte und der Netze ist
noch so wenig erprobt, daß es verantwortungslos wäre, jetzt neue Gefahrenquellen
aufzumachen."
"Wenn Sie gestatten,"
sagte Arnold, "es geht bei diesem Projekt nicht um Zahlungsverkehr,
sondern um Informationsbrokering." Er hielt
einen Stapel Broschüren hoch. "Wir veröffentlichen jedes Jahr diese
Wirtschaftshandbücher über den ostasiatischen Markt. Ein Kunde, der hier
nachschlägt, liest Geschichten, die vielleicht ein Jahr alt sind. Wir wollen
die Dinge, die hier stehen, in tagesaktueller Form im World Wide Web
präsentieren. Wir wollen, mit anderen Worten, aus der Postkutsche umsteigen auf
den Telegrafen. Und wir wollen ein System, das wasserdicht abgeschottet ist
gegen unsere Hausnetze, damit kein Hacker aus dem einen in das andere springen
kann."
"Das wäre die
Mindestvoraussetzung." Es wurde noch lange darüber diskutiert, daß
Electronic Banking ein Widerspruch in sich sei und
keine Zukunft habe, aber es kamen keine Frontalangriffe gegen das Pilotprojekt.
Als er vor der Heimfahrt seinen
Schreibtisch aufräumte, erschien auf seinem summenden Telefondisplay eine
interne Nummer, die er nicht auswendig kannte. Er nahm ab. Es war Cornelia.
"Wenn Sie Lust haben, eine
Minute rauf zu kommen, kann ich Ihnen frisch erzählen, was die Weltbank beschlossen
hat."
Sie war allein in ihrem Zimmer.
Der Schreibtisch war leer. An der Seite stand wieder eine Flasche wertvollen
Cognacs, wie er ihn nur aus Anzeigen in teuren Zeitschriften kannte.
"Trinken wir einen
Schluck?" fragte sie, seinen Blick verfolgend. "Den habe ich
geschenkt bekommen." Sie hatte nur einfache Gläser und stieß mit ihm an. Der
Alkohol brannte in der Speiseröhre.
Sie goß beiden noch etwas nach.
"Was die Weltbank
beschlossen hat, wollte ich Ihnen erzählen." Sie setzte sich mit ihrem
Modellkleid auf die Schreibtischplatte und hob ihre Schuhe auf den Stuhlsitz.
"In China wird der Drei-Schluchten Staudamm am Yangtse
nicht unterstützt. Zu viele Umweltprobleme. Aber am Gelben Fluß wird ein Aufforstungsprojekt
am Mittellauf gefördert. Der Vorstand meint, wir sollten uns da in die
Vorstudien mit reinhängen. Klingt das nicht gut?"
"Ich unterstütze Sie
gerne."
"Auf gute
Zusammenarbeit."
Sie stießen wieder an.
Ihre Schuhe waren aus hauchzartem
Leder ohne jeden Schnörkel.
"Sie haben Schuhe, die
Kunstwerke sind," sagte er, "italienisch?"
"Was denn sonst?"
"Darf ich?" fragte er.
Sie hob den linken Fuß leicht an, und er nahm ihn in die Hände.
"Unglaubliches
Material," sagte er und führte das Leder an seine Wange. Dann streichelte
er aus einer plötzlichen Eingebung heraus ihr Fußgelenke. Sie trug keine
Strumpfhosen. Der Kontakt war viel stärker als erwartet.
"Mach keinen Scheiß,"
protestierte sie, "ich will mit dir reden."
Sie sprang vom Schreibtisch
herunter, das Cognacglas in der Hand. Sie hatte eine Sitzgruppe, die aus einem
kleinen Tisch und zwei unbequemen Armstühlen bestand.
Er erkannte, daß es ihr wichtig
war, sich mit ihm in einer Stimmung des Vertrauens auszusprechen, und er
schämte sich seines plumpen Annäherungsversuches. Sie hätte seine Tochter sein
können, 23 Jahre jünger als er, und er war immer noch auf Meilan
fixiert.
"Der Vorstand macht sich
Sorgen um die Zukunft unseres Hauses. Ich auch. Es hat sich eine Kampfgruppe
gebildet, um einen Abgeordneten im Finanzausschuß des Bundestages, die wollen allen
Geldhäusern, die eine Konkurrenzgefahr für die Großbanken bilden, das Lebenslicht
abdrücken. Zerschlagung verkrusteter Strukturen nennen sie das."
Er hörte ihr aufmerksam zu.
"Die Zahl der
Landeszentralbanken soll auf fünf reduziert werden. Die öffentlich-rechtlichen
Institute, wie wir, die Kreditanstalt für Wiederaufbau, die Lastenausgleichsbank
undsoweiter sollen erst fusioniert werden, unter
Entlassung von Zehntausenden von Mitarbeitern, und dann ganz geschlossen. Das
geht auch gegen die Sparkassen mit Massenentlassungen. Warum denken Menschen, Abgeordnete
unseres Volkes, sich so etwas aus?"
"Die Philosophie von Mao
Tsetung sagt - ich meine das ganz ernst - das Leben ist ein ständiger Kampf von
Widersprüchen. Wenn ein Kampf zu Ende ist, beginnt der nächste. Wir haben den
kalten Krieg gewonnen. Jetzt beginnt im Westen der Weltbürgerkrieg zwischen
sozialer Marktwirtschaft und Manchesterkapitalismus. Das hohe Maß an sozialer Balance,
das wir in Deutschland erlebt haben, Wohlstand für alle, ist weltweit die
absolute Ausnahme. In den meisten Ländern, die ich kenne, Indonesien, Philippinen,
lebt die Mehrzahl der Familien von hundert Mark im Monat, während ein paar
Superreiche in Luxussiedlungen hausen, die von Scharfschützen bewacht werden.
Das kann auch unsere Zukunft werden."
"Ich habe dir noch nicht
alles erzählt. Die gleichen Leute, die uns fusionieren wollen, planen auch, den
Vorstand durch einen Mann ihres Kalibers zu ersetzen, um dann handstreichartig
die Tarifverträge zu kündigen. Keine Betriebspensionen mehr, keine
Festanstellung auf Lebenszeit, nur noch Zeitverträge. Leute wie du sind davon
nicht direkt betroffen. Aber man will alle Angestellten ab Fünfundfünfzig in
den Vorruhestand drängen, und ihre Stellen mit jungen Leuten besetzen, die Verträge
mit zwei bis drei Jahren Laufzeit bekämen."
"Das bringt doch nur
Mehrkosten," widersprach Arnold. "Ich werde in zweieinhalb Jahren
Fünfundfünfzig. Als Vorruheständler bekäme ich achtzig Prozent meines jetzigen
Nettogehalts und mein Nachfolger fünfzig Prozent als Anfangsgehalt. Das macht
nach Adam Riese dreißig Prozent Mehrkosten."
"Aber nur bis du tot bist.
Vielleicht langweilst oder säufst du dich ja ganz schnell zu Tode. Ein
Deutscher lebt um zu arbeiten. Nimm ihm die Arbeit. Du nimmst ihm das Leben."
"Und wer profitiert
davon?"
"Niemand. Dein Nachfolger
kommt zu unserer Hypothekenabteilung und sagt, ich will ein Haus bauen. Gebt
mir eine Hypothek mit dreißig Jahren Laufzeit. Wir fragen: Wie lange läuft Ihr
Arbeitsvertrag? Zwei Jahre. Nein danke. Das Haus wird nicht gebaut, die Bank
macht kein Geschäft. Die Zukunft wird unberechenbar, niemand hat eine
Perspektive. Es ist wie im Krieg. Jeden Tag kann eine Rakete deine Existenz
zerstören. Du stehst vor dem Nichts."
Arnold hatte nicht erwartet, daß
Cornelia ähnlich dachte wie er.
"Was kannst du dagegen
tun?" fragte er.
"Ich weiß es noch nicht. Das
Schlimme ist, der Vorstand ist so von sich eingenommen, daß er die Gefahr nicht
erkennt. Im Grunde hat er auch nichts mehr zu befürchten."
Cornelia dagegen hatte noch
sechsunddreißig Berufsjahre vor sich, sechsunddreißig Jahre, in denen sie einen
Beruf ausüben konnte, sofern es eine Position für sie gab.
Was sie bei ihm suchte, waren
Orientierungshilfen für ihr künftiges Leben. Er durfte sie nicht enttäuschen.
Sie war eine Frau, die etwas leisten wollte und nicht im sozialen Netz schaukeln.
Es war gut, sie als Verbündete zu haben.
In seinem Arbeitszimmer wartete
Conrad auf eine Gelegenheit, ihn unter vier Augen zu sprechen. Wie einem Kind
mußte er ihr zusagen, ihren Wunsch nicht abzulehnen. Sie wollte ihn zum Abendessen
ins griechische Restaurant einladen. Nur sie beide und auf ihre Rechnung.
"Ich mag Sie sehr
gern," sagte er und legte den Arm um ihre Hüfte. Sie war fast so zierlich
wie Zhang Meilan, nur etwas gesetzter. "Ohne Sie kann ich mir die Arbeit
hier nicht vorstellen."
Sie senkte den Kopf und stieß ein
Keuchen aus, das wie Schluchzen klang. Dann riß sie sich los und knallte die
Tür hinter sich zu.
Beim Griechen gab es an diesem
Abend in Butter gebratenen Thunfisch mit jungen Kartoffeln aus dem Backofen und
Auberginen. Dazu hatte Conrad einen Krug mit trockenem Weißwein bestellt. Sie
prostete ihm zu, als wollte sie sein Bewußtsein einnebeln.
"Lassen Sie mich
raten," - sie siezten sich immer noch nach allen diesen Jahren der
Zusammenarbeit - "Sie wollen mir mitteilen, daß Sie sich ein Ferienhaus im
Allgäu gekauft haben."
"Das ist es nicht. Ich
meine, ja, wir haben etwas gefunden."
"Meinen Glückwunsch,"
sagte er und legte die Hand auf ihren Handrücken. Die Berührung war ihr unbehaglich.
"Sie müssen es wissen,"
unternahm sie einen zweiten Anlauf. "Ich habe mit meiner Ärztin
gesprochen. Sie hat festgestellt, daß ich eine Sehnenscheidenentzündung in
beiden Armen habe. Sie will mich krank schreiben, bis es wieder gut ist. Ich
darf eigentlich nichts anfassen. Ich habe sie gebeten, mit dem Attest zu warten,
bis ich mit Ihnen gesprochen habe."
"Wie kann ich Ihnen
helfen?"
"Man weiß nicht, wie lang es
dauert, bis ich wieder gesund bin."
"Die Bank bezahlt Ihr Gehalt
nur sechs Wochen weiter. Dann ist Schluß."
"Ich habe mit dem
Personalrat gesprochen. Er sagt..."
Arnold war froh, daß er den
Thunfisch schon gegessen hatte. Er hätte keinen Bissen mehr herunterbekommen.
Der Weißwein drehte sich in seinem Kopf.
"Die Bank als Arbeitgeber
zahlt so viel zu meinem Krankentagegeld dazu, daß ich auf achtzig Prozent meines
letzten Gehaltes komme. Und das Geld von der Krankenkasse ist nicht steuerpflichtig."
Jetzt legte sie ihre Hand auf
seine. "Man weiß nicht, wie schnell ich wieder gesund bin. Es kann zwei
Wochen dauern, es können zwei Jahre werden. Sie müssen sich eine Aushilfe suchen,
die meine Arbeit macht."
"Sie werden immer nur auf
zwei Wochen krank geschrieben. Wie soll ich da eine Aushilfe beantragen?"
"Sie schaffen das. Ich
dachte mir, vielleicht kann Ihre chinesische Freundin diese Aushilfe übernehmen."
"Sie bekommt keine
Arbeitserlaubnis." Mehr wollte er ihr von der jüngsten Entwicklung nicht
anvertrauen.
"Das ist ungerecht. Ich
komme morgen früh etwas später ins Büro, ja?"
Etwas später, begriff er, hieß
nie mehr. Jahrelang nicht mehr. Er hatte das Verlangen, Teller und Gläser an
die Wand zu werfen, wie das die Griechen bei Feierlichkeiten taten. Aber es gab
nichts zu feiern. Der saure Wein brannte ein Loch in seinen Magen.
Er hatte immer geglaubt, daß
Conrad gerne mit ihm zusammenarbeitete. Aber was war die Attraktivität eines
Chefs im Vergleich zu einem unausgelasteten Ehemann? Herr Conrad, den seine
Firma in den Vorruhestand wegrationalisiert hatte, suchte eine Aufgabe, die
seinem Leben noch einmal Bedeutung gab. Vom Instandsetzen eines verfallenden Bauernhauses
versprach er sich ein solches Erfolgserlebnis. Und seine Frau sollte bei ihm
sein, um seine Nützlichkeit zu bestätigen, seinen Erfolg zu teilen. Hätte er
bis zur gesetzlichen Altersgrenze von Fünfundsechzig in seiner Firma
weiterarbeiten können, käme Conrad noch jahrelang ins Büro. Arnold fragte sich,
ob er ihr Verhalten hinnehmen durfte, oder ob er etwas dagegen tun mußte und
konnte.
Am nächsten Morgen kam Frau
Conrad wirklich nicht mehr ins Büro. Da Arnold ihre Arbeit mit erledigte, mußte
er den Flug nach Tschungking verschieben, bis er eine
Vertretung gefunden hatte. Meilan war immer noch eingeschnappt, weil die
Deutsche Botschaft sie so herablassend behandelt hatte. Der erste Juli kam und
ging, ohne daß er sie am Flughafen abholen konnte. Der nächste Intensivkurs
begann am ersten Oktober. Weihnachten in Deutschland müßte ein unvergeßliches Erlebnis
für eine Chinesin sein.
Als er sich das nächste Mal mit
Cornelia traf, wollte er ihr von seinem Problem mit Frau Conrad erzählen, von
seiner Wut und seiner Trauer, aber sie war nicht in der Stimmung ihm zuzuhören,
in ihr steckten zuviel Spannungen, zu viele Probleme, über die sich aussprechen
wollte.
"Ich habe mir
überlegt," sagte sie, "wie wir die Bank gegen feindliche Übernahmen
und Zusammenlegungen schützen können. Wir müssen unattraktiv wie ein Seeigel
werden, keine freie Liquidität zeigen. Wir könnten Marketmaker
für ausländische Aktien an der Deutschen Börse werden. Dazu müßten wir erst
einmal Bestände im Werte von Hunderten von Millionen hinlegen. Wir könnten ins Derivategeschäft gehen. Für drei, vier Milliarden Mark
Standardaktien auf Kredit kaufen und darauf dann Optionsscheine emittieren, die
an der Börse gehandelt werden. Langfristig bringt das Gewinn, kurzfristig ist
der Ofen aus. Hörst du mir überhaupt zu?"
Am ersten heißen Augustabend fand
er in seinem Briefkasten einen pastellfarbenen Briefumschlag mit großen, bogenförmigen
Buchstaben. Der Poststempel enthielt keine chinesischen Schriftzeichen, er
entzifferte den Namen Rosebank. Aus der Briefmarke sprang ihn eine Gazelle an.
Schweiß floß über seine Stirn und bildete Tropfen in den Augenbrauen. Er
hastete die fünf Treppen hoch und öffnete den Briefumschlag behutsam mit einem
Küchenmesser.
"Lieber Arnold, ich bin
schon vier Wochen in Johannesburg, finde erst heute Gelegenheit zum Schreiben."
Der Brief fiel ihm aus der Hand.
Wieso hatte sie ihn nicht informiert? Sie mußte sich gleich nach dem
erfolglosen Besuch auf der Deutschen Botschaft für Südafrika entschieden haben,
spielte aber am Telefon die Beleidigte. Waren sie nicht ein Paar mit einem gemeinsamen
Lebensziel? Hatte man sie vielleicht gegen ihren Willen auf den schwarzen
Kontinent versetzt, und sie hatte sich bis zur letzten Minute dagegen gesträubt?
Er bückte sich und hob den Brief
auf, um weiter zu lesen. "Wir sind hier neu ins Geschäft gekommen. Ich
kann mich vor Arbeit nicht von der Stelle rühren. Besuch mich mal am Wochenende.
Von Deutschland ist es nur ein Sprung."
Drei Photos, die sie hineingelegt
hatte, zeigten sie vor einem klassizistischen Gebäude. "In Pretoria"
hatte sie auf die Rückseite geschrieben.
Er rief unter der Telefonnummer
an, die sie ihm angegeben hatte, aber niemand nahm ab. Am anderen Tag hatte er
mehr Glück. Sie wurde an den Apparat gerufen, war aber nicht allein.
"Wann kannst du
kommen?" fragte sie sofort.
Er hatte sich schon ein paar
Wochenend-Daten herausgesucht. "Wie wäre es am 30. August?"
"Warte mal." Sie deckte
die Mikrofonmuschel ab und unterhielt sich auf Chinesisch. Dann war ihr Atem
wieder zu hören. "Das geht. Drei Tage. Samstag, Sonntag, Montag. Sag mir Bescheid,
mit welchem Flug du ankommst."
Im "Last Minute"
Reisebüro am Hansaring hatte er noch die Gutschrift aus dem nicht benutzten
Peking-Ticket offenstehen. Der Berater, den Arnold schon kannte, klärte ihn darüber
auf, daß Südafrikaflüge genauso preisstabil waren, wie das Diamantenmonopol von
De Beers. Aber es gab einen Ausweg. Air Namibia bot im August verbilligte
Business und First Class Flüge nach Windhoek an. Mit Anschlußverbindung nach Kapstadt oder
Johannesburg. Arnold hatte ein nostalgisches Bild von Deutsch Südwestafrika und
fand es abenteuerlich, in Windhoek umzusteigen, ganz
unabhängig von der Ersparnis.
"Dieses Ticket,"
erklärte sein Gegenüber, "hat einen großen Vorteil. Es ist ein ganzes Jahr
gültig und kann jederzeit kostenlos auf einen anderen Termin umgebucht werden."
"Das habe ich nicht im
Sinn." Obwohl - auf dem Rückweg - ein Abstecher nach Lüderitz, Swakopmund, zum Caprivi-Zipfel... Das hing vom Ausgang
seiner Johannesburg-Reise ab.
Weil er jetzt im Büro die Geräte
mitbedienen mußte, sah er als erster das Fax aus Südafrika, das an ihn
persönlich gerichtet war. "Wir müssen den Termin 30.August
verschieben. Eine unerwartete Geschäftsreise. Ich melde mich, wenn ich wieder
zurück bin. M."
Zum Glück hatte er keinen Urlaub
beantragt. Er hatte Freizeitausgleich nehmen wollen, aber erst unmittelbar vor
der Abreise. Mit Cornelia hatte er auch noch nicht darüber gesprochen gehabt.
Er zerriß das Fax in viele kleine Stücke, und je winziger die Papierfetzen wurden,
die übrig blieben, desto kleiner wurde seine Enttäuschung. Als er schließlich
alles mit der Handkante in den angehobenen Papierkorb fegte, war er geradezu
erleichtert. Er hielt es jetzt für möglich, ja geradezu für wahrscheinlich, daß
Meilan ein falsches Spiel mit ihm trieb, - "Djia" nicht "Dschen"
- und daß ihr Interesse an ihm nur vorgetäuscht war, eine von mehreren
Optionen, die sich offen hielt. Er durfte sich nicht zum Narren halten lassen.
Das sogenannte Pilotprojekt Dr.
Nagel wurde viel schneller genehmigt, als Arnold es erwartet hatte. Schon zum
1.September durften sie einen Informatiker und eine Viertelsekretärin mit Fristvertrag
einstellen, um eine Webseite für den Testbetrieb aufzubauen
"Können Sie mir
erklären," fragte Arnold die Chefsekretärin seines Chefs, "wie eine
Viertelsekretärin aussieht? Was bekommen wir da? Die rechte Hälfte des
Oberkörpers? Oder das halbe Sitzfleisch mit einem Bein?"
"Keine
Anzüglichkeiten," rief Dr. Nagel aus dem Hintergrund. Durch seine
offenstehende Zimmertür hatte er alles mitgehört und kam jetzt persönlich
heraus. "Wir bekommen eine Kraft, die jeden Tag zwei Stunden für uns arbeitet."
"Wo soll sie sitzen? Der
Tisch von Frau Conrad ist jetzt frei."
"Nein, nein,"
korrigierte Dr.Nagel, "an Frau Conrads Tisch
sitzt ab Montag der Herr Paul, unser Informatiker. Er hat sich heute morgen bei
mir vorgestellt und seinen Vertrag gleich unterschrieben. Sie müssen ihn sich
mal ansehen, Feldmann, denn er arbeitet ja mit Ihnen zusammen."
Paul war nicht der Nach- sondern
der Vorname eines Informatikstudenten im elften Semester, der über ein Online-Bulletinboard von der Jobmöglichkeit erfahren und
sich sofort per e-mail beworben hatte. Er wollte, wie
er Arnold erzählte, sich noch nicht binden, aber das Leben einmal von der
institutionellen Seite kennenlernen.
Die Viertelsekretärin, die auch
auf der Stelle anfangen konnte, war überhaupt keine Bürokraft, sondern eine
3ojährige Sinologiestudentin, die gerade ihre Doktorarbeit abgegeben hatte und
darauf wartete, daß die Gutachter das Manuskript lasen und ihr den Termin für
die Abschlußprüfung, das Rigorosum, gaben. Sie hieß Sidney
und sprach Chinesisch ohne den typischen westlichen Satzrhythmus, an dem man
die Europäer sofort erkennt. Sie duzte sich mit Paul, und sie begriff schnell,
wie man das Archivmaterial datenbankgerecht aufarbeitete. Arnold konnte ihr die
Länder Ostasiens überlassen und sich selber auf Südostasien und die aktuelle
Arbeit konzentrieren.
"Aus der gemeinsamen
Gutachtertätigkeit mit der Weltbank wird nichts," erfuhr er von Cornelia.
"Die oberen Zehntausend gönnen dir das nicht. Sie haben Angst, daß du ein
zu großes Stück vom Reiseetat verbrauchst und für ihre First-Class-Ausflüge
nicht mehr genug übrig bleibt. Gut, daß es mit dem Internet klappt. Wir müssen
ständig in Bewegung sein."
Frühmorgens, wenn Arnold in
seinen BMW stieg, sah er schon die ersten gelben Linden- und Roßkastienenblätter auf der Straße. Er gab vorsichtig Gas. Die KFZ-Werkstätten
warben für eine kostenlose Adjustierung der Scheinwerfer.
Wochenlang hatte er nichts von
Zhang Meilan gehört und sich auch nicht bei ihr gemeldet. Er wollte ihrer
Ausstrahlung nicht verfallen bleiben. Aber der Klang ihrer Stimme am Telefon
riß alle alten Beunruhigungen wieder auf.
"Ich bin so froh, daß ich
dich erreiche," meldete sie sich. "In Südafrika beginnt jetzt der
Frühling, es wird jeden Tag wärmer. Ende August war es eiskalt. Es war gut, daß
du nicht kommen konntest." Er erkannte jenen suggestiven Klangreichtum in
ihrer Stimme wieder, der ihm aufgefallen war, als sie im Sheraton-Hotel in Guilin mit dem Maler Ma
telefoniert hatte, und er erinnerte sich, wie sie den Abend danach in seinem
Zimmer verbracht hatten.
"Ich habe das Flugticket
noch," sagte er, von Sehnsucht überwältigt. "Es ist nicht
verfallen."
"Das ist wunderbar. Ich kann
mir jetzt viel mehr Zeit für dich nehmen. Ein oder zwei Wochen, das liegt an
dir."
"Wie sieht es mit den Hotels
aus? Können wir uns ein Zimmer teilen?"
"Ja, natürlich. Mandela ist
Präsident geworden. Alle Menschen sind frei."
"Ich spreche mit meinem Chef
über den Urlaub."
"Ich habe im Augenblick kein
Telefon. Ich rufe dich in zwei Tagen wieder an."
"Ich freue mich."
Die Bereitwilligkeit Dr. Nagels,
ihn in Urlaub gehen zu lassen, war etwas völlig Unerwartetes. Er konnte von
Anfang November bis zum ersten Advent wegbleiben.
"Was hören Sie von Frau
Conrad?" fragte Dr. Nagel unvermittelt. Im Klang seiner Stimme lag Aggression.
"Nichts. Haben Sie
Informationen, die ich wissen müßte?"
Auf Dr. Nagels Gesicht las Arnold
das Schwanken zwischen Verschwiegenheitspflicht und Mitteilungsbedürfnis.
"Haben Sie wirklich nichts
gehört?" fragte Dr. Nagel noch einmal.
"Nein."
"Der Personalabteilung liegt
ein fachärztliches Gutachten vor. Der Krankheitsverlauf ist nicht absehbar."
"Das ist wenigstens
etwas."
"Wie bitte?"
"Sechs Wochenenden nach
Krankheitsbeginn endet die Gehaltsfortzahlung durch unser Haus, und sie bekommt
Tagegeld von der Krankenkasse. Das muß in diesen Tagen sein. Das Haus spart
eine Menge Geld, das uns zusteht. Wir könnten eine Aushilfe einstellen."
"Frau Conrad kann morgen
schon wieder gesund sein. Eine Aushilfe wird niemals bewilligt."
"Es ist unser Geld. Wir
können es auf Monatsbasis versuchen."
"Allein die Einarbeitung
dauert Wochen."
"Vielleicht hat Sidney Lust, ihre Viertelstelle vorübergehend
aufzustocken."
"Haben Sie das hinter meinem
Rücken eingefädelt?"
"Es war Ihre Entscheidung,
Paul und Sidney zu nehmen. Ich habe beide vorher nie
gesehen."
"Schon möglich. Halten Sie Sidney für fähig?" Arnold hatte auf einmal den
Verdacht, daß Dr. Nagel diesen Gesprächsausgang von Anfang an geplant hatte. Er
schaffte es nie, seinen Chef zu durchschauen.
"Ja, ich halte sie für
fähig," sagte er trocken.
SIEBTES KAPITEL
Die Reise nach Windhoek, der ehemaligen deutschen Kolonialhauptstadt, fiel
weniger nostalgisch aus, als Arnold es sich vorgestellt hatte. Er hatte den
ganzen Tag in der Bank gearbeitet und war mit dem Spätzug nach Frankfurt
gefahren. In der Boeing der Air Namibia bekam er einen Fensterplatz. Die Maschine
schaukelte aufs Rollfeld hinaus, mußte dann aber über eine Stunde auf Starterlaubnis
warten. Durch das gespannte Stillsitzen im Flugzeugsessel bekam Arnold Muskelkrämpfe
in der Brust, und zwar in jenem Teil des Brustkorbs, der durch die Arbeit am
Schreibtisch verspannt wird. Er dehnte und streckte sich und massierte die
Haut, ohne daß der Krampf wegging. Von den Flugbegleiterinnen ließ sich keine
blicken. Schließlich kam er auf die Idee, ein paar Tabletten Triazolam trocken zu zerkauen und mit Spucke herunterzuschlucken,
um sich Linderung zu verschaffen. Tatsächlich wirkte das Präparat sehr schnell.
Als sie die Flughöhe erreichten, in der serviert werden durfte, war er schon so
schlaftrunken, daß er nur ein Käsebrötchen zu sich nahm und immer wieder ein
Glas Weißwein, bis die Stewardeß eine dünne braune Decke über ihn ausbreitete.
Bei der Ankunft in Windhoek war sein Ich-Bewußtsein noch wenig aufnahmefähig.
Die Übergangszeit für den Flug nach Johannesburg war so kurz bemessen, daß
Arnold den Transitbereich nicht verlassen durfte und von niemandem nach seinem
Paß gefragt wurde. Über den Hinweisschildern, die einreisende Fluggäste zum
Ausgang leiteten, fiel ihm ein handgemaltes Begrüßungs-Plakat auf:
"Willkommen Teilnehmer der Namibisch-Südafrikanischen
Sicherheitskonferenz." Wie ein Roboter bestieg er die Maschine nach
Johannesburg, schlief sofort wieder ein und sah nichts von der Kalahari.
Beim Aussteigen in Johannesburg
folgte er der Masse, bekam seine Aufenthaltserlaubnis in den Paß geklebt und passierte
unkontrolliert den Zoll.
Meilan hatte ihn schneller
entdeckt als er sie. Er nahm sie in die Arme. Sie war zierlicher, als er sie in
Erinnerung hatte, aber die Wiedersehensfreude verlieh ihrem Körper Spannung.
Sie erkannte, daß er reisemüde war, und behandelte ihn so fürsorglich wie eine
Schwester oder Tochter. Er fühlte sich nicht nur zu Hause angekommen, sondern
auch angenommen.
"In Johannesburg,"
erklärte sie, während sie gemeinsam seinen Koffer über den Vorplatz rollten,
"gibt es jetzt von Schwarzen gesteuerte Minibusse, die als Sammeltaxen alle
Stadtteile ansteuern. Die sind viel billiger als reguläre Taxis. In Tschungking haben wir das schon lange."
Bei der über eine Stunde
dauernden Fahrt im halbvollen Bus bekam Arnold von der Stadt kaum etwas mit. Er
hielt Meilans Hand und ließ ihre Nähe auf sich einwirken.
Der Minibus-Fahrer war so hilfsbereit, sie direkt vor ihrem Hotel im Ortsteil
Rosebank abzusetzen. Das "Protea Inn" war
ein gepflegtes Drei-Sterne-Hotel für Geschäftsreisende.
Protea, lernte Arnold im Hotelprospekt,
ist der Name einer Blume, die an der Spitze eines hohen Triebes einen schuppigen
Kelch voll goldener Staubgefäße trägt und als südafrikanisches Nationalsymbol
gilt. Eine nach dieser Blume benannte Hotelkette unterhielt gepflegte Häuser im
ganzen Land. Arnolds Zimmer war groß und hell mit einem Wandschrank und einem
zwei Meter breiten Bett. Der Balkon war nur ein Stehbalkon, von dem man hinausschauen
konnte auf die üppigen subtropischen Pflanzen des Hotelgartens. Eine Protea sah Arnold nicht darunter.
Meilan wollte wissen, ob er
Hunger hatte. Es war bereits ein Uhr mittags, und sie schlug ihm einen Lunch in
einem Restaurant der Umgebung vor. Sie machten einen Spaziergang rund um den
Platz, an dem das Hotel stand. Er sah einen Supermarkt, der genau das gleiche SPAR-Namensschild führte, das er aus Deutschland kannte.
Offenbar ein internationaler Ableger.
Das Restaurant, in das sie ihn
führte, war auf angenehme Weise altmodisch. Weiße Tischdecken, weiße
Servietten, Kupferkessellampen über den Tischen. Arnold bestellte als erstes ein
Kännchen Kaffee. Meilan wählte als Vorspeise Weinbergschnecken in Kräutersauße.
"Ich habe in der Pekinger
Abendzeitung gelesen, Chinesen ekeln sich davor, Weinbergschnecken zu essen,
obwohl sie sonst nichts fürchten," wunderte er sich.
"Das ist wahr, aber man muß
sich der Welt öffnen. Ich habe das hier kennen gelernt und bin ganz verrückt darauf."
Zu Arnolds Erstaunen ließ sie
auch den Geschmack der Knoblauchbutter auf sich einwirken und verzichtete
darauf, alles mit einer Schicht Chili abzudecken.
Nach dem Essen zogen sie sich zur
Siesta auf sein Zimmer zurück. Sie streckten sich auf dem breiten Bett aus. Ihr
Kopf ruhte auf seiner Schulter, und ihre Körperhaltung kündigte an, daß sie ihm
eine Menge zu erzählen hatte.
"Ich habe jetzt Zeit für
dich, weil ich meine Stelle gekündigt habe und im Augenblick keine Arbeit habe.
Der Chef unserer Niederlassung hier, mußt du wissen, war Taiwanese. Die Republik
Südafrika hat immer nur zu Taiwan diplomatische Beziehungen unterhalten. Jetzt
will Mandela China anerkennen und die Beziehungen zu Taiwan abbrechen. Alles
muß neu geordnet werden. Vielleicht mache ich mich auch selbständig. Ich
bräuchte nur ein kleines Darlehen für Geschäftsräume, Fax, Telefon und ein gebrauchtes
Auto. Das wäre doch kein Problem für dich."
"Gewiß nicht. Aber hast du
nicht gerade gesagt," fragte er, "daß Südafrika im Augenblick noch
Beziehungen zu Taiwan unterhält und nicht zu China? Wieso hast du dann eine Aufenthaltsgenehmigung?
Wieso kannst du hier arbeiten und dich selbständig machen?"
"Weil ich pro forma mit
einem Südafrikaner verheiratet bin."
"Verheiratet?" Er
setzte sich erschrocken auf. "Seit wann?"
"Seit ich hier bin. Mein
Chef hat das arrangiert. Alles nur auf dem Papier."
"Von einem Tag auf den
anderen?"
"Es gibt eine Gesetzeslücke.
Die früheren Homelands, in denen es eine schwarze Selbstverwaltung gab, dürfen
noch Eheschließungen vornehmen, auch wenn sie als politische Einheiten nicht
mehr existieren."
"Zeig mir deinen
Trauschein."
Sie holte ein zusammengefaltetes
Papier aus der Handtasche, das tatsächlich die Eheschließung von Frau Zhang Meilan
mit einem Mann dokumentierte, dessen Name aus lauter Konsonanten bestand.
"Wie gut hast du deinen
Ehemann kennengelernt?"
"Ich habe ihn nur auf dem
Standesamt gesehen, und ich weiß nicht einmal ob er wirklich der Mann war, dessen
Name hier steht."
"Hat es kein
Hochzeitsbankett gegeben?"
"Natürlich nicht. Ich habe
ihm zwei Flaschen Weinbrand geschenkt. Warum fragst du?"
"Es gibt einen
taiwanesischen Spielfilm "Das Hochzeitsbankett." Dort fragt der
Schein-Ehemann die Schein-Ehefrau: Was machst du da unter der Bettdecke? Sie
erwidert: Wo jiefang ni -
ich befreie dich."
"Ja, das habe ich auf
Kassette gesehen. Ich habe mich halb totgelacht. Vor allem über den
amerikanischen Liebhaber, dessen Chinesisch genauso klingt wie deins."
"Wenn du jetzt Ehefrau bist,
was wird aus unserer Heirat?"
"Das ist doch nur ein Stück
Papier."
"Ich bin nicht aus Papier.
Ich bin ein echter Tiger. Kennst du das Sprichwort vom Ritt auf dem
Tiger?"
Sie drückte ihn. "Man sagt,
der Tiger schleicht sich langsam an. Ich habe mir vorgestellt, daß wir eine
Reise durch Afrika machen und das Land zusammen kennen lernen. Ich habe fast
nichts gesehen, weil ich soviel Arbeit hatte. Ich dachte mir, du mietest ein
Auto und wir fahren in aller Ruhe von einem Ort zum anderen."
"Ich bin Linksverkehr nicht
gewohnt."
"Das lernst du in einer
Stunde. Alle lernen das. Der Verkehr ist hier ganz dünn. Der Hotelmanager hat
Beziehungen zu einem Autoverleih. Durch ihn können wir günstig mieten."
Sie gingen hinunter zur Rezeption
und ließen sich eine Mietwagenliste zeigen. Wenn er schon auf der falschen Straßenseite
fahren mußte, wollte Arnold wenigstens in einem Auto sitzen, das ihm vertraut
war. Also ein Golf oder ein Dreier BMW.
Ein 316er mit Klimaanlage und
automatischer Schaltung war im Angebot. Der Mietpreis lag weit unter dem, was
man in Deutschland für einen einfachen Golf bezahlen müßte. Arnold entschloß
sich, den Wagen für zwei Wochen zu mieten. Morgen früh um zehn würde er vor der
Tür stehen.
Als das geregelt war, gingen sie
mit einer Südafrika-Karte, die sie auf der Rezeption gefunden hatten, auf sein
Zimmer zurück, um die Reiseroute zu besprechen. Sie schwärmte von dem neu eröffneten
Hotel "Palace of the Lost City" in Sun
City, dem zur Zeit beliebtesten südafrikanischen Urlaubsort. Er wollte in die
entgegengesetzte Richtung fahren, zum Indischen Ozean. Auf der Landkarte sah Richardson Bay unweit der Grenze zu Mozambique wie ein Ort
aus, an dem man im Meer schwimmen konnte.
Um ihn von den Vorzügen von Sun
City zu überzeugen, reichte Meilan ihm einen Stapel Photos, die sie bei einer Geschäftsreise
aufgenommen hatte. Die Photos waren mit einer Billigkamera geschossen, die das
Datum automatisch einblendet. Den Palace of the Lost
City hatte er schon in einer Fernsehreportage gesehen. Es war ein teures Haus
mit kitschigem Wüsten-Ambiente. Auf einem der Photos stand Meilan neben einem
riesigen Container mit der Aufschrift "Evergreen". Er blickte auf das
eingeblendete Datum. Es war der 29.August dieses
Jahres.
"Ist das dein
Kleiderwagen?" fragte er.
"Oh, wir transportieren
alles," erwiderte sie, "nicht nur Mode. Jede Art von Textilien, die
sich in Shopping Centern und auf Märkten verkaufen läßt."
"Der Container hier trägt
den Namen einer Schiffahrtslinie aus Taiwan. Ist Sun City nicht viele hundert
Kilometer vom nächsten Hafen entfernt?"
"Das ist richtig. Wir landen
in Durban an, der Hafenstadt am Indischen Ozean. Dann
transportieren wir die Ware im versiegelten Container nach Gaborone
im Nachbarland Betschuanaland. Wenn du von Windhoek kommst, mußt du Betschuanaland
überflogen haben. Dort liegt die Kalahari."
"Das habe ich bemerkt."
"In Gaborone
haben wir Näherinnen, die unsere Ware überarbeiten."
"Warum macht ihr das?"
Meilan lächelte belustigt.
"Sie nähen in jedes Stück ein Etikett "Made in Betschuanaland".
Du kennst das Internationale Textilabkommen und die Quotenregelung?"
"Danach kann China nicht so
viel exportieren, wie es produzieren möchte."
"Diese Bestimmung umgehen
wir mit der Umarbeitung in Gaborone. Was wir von dort
in die Republik Südafrika bringen, gilt als Produkt des Betschuanalandes.
Wir müssen nicht einmal Zoll bezahlen."
"Glaubst du, daß ihr das
auch machen könnt, wenn es bald gute Beziehungen zwischen Peking und Pretoria
gibt?"
"Es gibt kein Problem, das
sich nicht lösen läßt."
Arnold wußte, daß Länder ohne
eigene Textilindustrie die ihnen im Textilabkommen zugesprochene Ausfuhrquote
an exporthungrige Länder verkaufen durften, aber dann brauchten sie nicht auf
diese Weise vorzugehen.
Offenbar hatte Meilan sich einer Schmugglerorganisation angeschlossen.
Eine Aktivität, die sie von einer Minute zur andern ins Gefängnis bringen
konnte. Die Unbefangenheit, mit der sie das alles ausplauderte, verschlug ihm
dem Atem. War es möglich, in wenigen Wochen so viel zu erreichen, ohne eine
persönliche Gegenleistung anzubieten? Er suchte in ihrem Gesicht nach Zeichen
einer Veränderung. Hatte sie Schlimmes durchgemacht? Er fand nichts. Sie sah
immer noch umwerfend aus.
Daß sich die Heirat mit dem
schwarzen Ehemann so und nicht anders abgespielt hatte, glaubte er sofort. Kein
Grund zu Eifersucht oder Ekel. Er war lange genug mit ihr in Guilin zusammen gewesen, um nichts zu befürchten.
"Was hältst du davon,"
fragte sie, während sie die Photos einsammelte, "wenn wir als erstes nach Durban fahren? Du willst ja ans Meer. Ich kenne mich in Durban aus, weil dort die Container mit unserer Ware
ankommen. Durban ist in einem Tag zu machen. Der
Strand ist berühmt."
Der Rest war schnell besprochen.
Diese Nacht sollte er noch allein im "Protea
Inn" schlafen, weil sie zum Packen in ihre Wohnung mußte. Aber morgen
würden sie in Durban gemeinsam ein Zimmer beziehen.
Er war mit allem einverstanden und begleitete sie ein Stück zu Fuß in die
Richtung ihrer Wohnung. Sie wollte, daß er wieder umkehrte, bevor es dunkel wurde.
Er blieb stehen und blickte ihr nach, wie sie
schnell und zielstrebig vorwärts eilte, um Vorbereitungen für ihr gemeinsames Unternehmen
zu treffen. Was trieb sie dabei an? Suchte sie Hilfe oder die Gesellschaft
eines vertrauten Menschen in einem fremden Land?
Sie hatte ihre Stellung verloren,
sie war eine verbotene Scheinehe eingegangen und hatte illegale Geschäfte
betreut. Nur gut, daß sie bei ihrer Firma gekündigt hatte. Dadurch befand sie
sich jetzt nicht mehr im Visier der Zollfahndung. War sie - fragte er sich beklommen
- nur deshalb unter die Pascher gegangen, weil ihr in
Peking das Deutschland-Visum verweigert worden war? Oder hatte sie schon in Zhu Hai dazu gehört? Hatte sie etwa auf ihn gewartet, auf
den Stufen vor dem Zollamt, in dem Wehrmeyer starb?
Unmöglich! So miserabel war seine
Menschenkenntnis nicht. Meilan war bestimmt
unverschuldet in den Schatten krimineller Machenschaften geraten. Gut, daß er
in Johannesburg war.
Eine Gruppe von Demonstranten
hatte sich vor dem Spar-Supermarkt versammelt. Es waren alles junge Schwarze,
mehr Frauen als Männer. Sie hielten Transparente und rezitierten Sprechchöre,
die mutlos klangen. "Kauf nicht bei Ausländern!" stand auf einem Plakat.
"Excuse
me," sagte Arnold zu den Leuten, die den Eingang
verstellten, "this shop
is from my
country." Sie ließen ihn durch. Er fand im
menschenleeren aber gut bestückten Laden ein Stück Schnittkäse, eine Schachtel
Cracker, eine Flasche Südafrikanischen Weißweins, und zur Probe nahm er noch
einen halbe Flasche einheimischen Weinbrands der Marke "KWV" mit. Als
er den Supermarkt verließ, die prägnante SPAR-Tüte in
der Hand, belästigte ihn keiner der Demonstranten, obwohl er ein paar Rufe hörte,
die sich auf ihn bezogen. Es war vorstellbar, daß die Spannungen, die es hier
gab, sich auch in einer Geschäftsplünderung entladen könnten. Aber alles wirkte
sehr diszipliniert. War das der Mandela-Bonus?
Im Hotelzimmer stellte er den
Cognac in den Kleiderschrank und sah dabei den hellblauen Anorak hängen, in dem
Meilan ihn am Vormittag auf dem Flughafen begrüßt hatte. Er griff die Taschen
ab, ob sie nichts Wichtiges vergessen hatte, die Haustürschlüssel etwa, aber er
fand nur eine angebrochene Packung Monatsbinden.
Das Gewitter, das sich schon den
ganzen Nachmittag angekündigt und ab und zu ein paar dicke Regentropfen vorausgeschickt
hatte, brach nach Einbruch der Dunkelheit mit lauten Donnerschlägen und
Wassergüssen los. Empörte Schreie stimmgewaltiger Vögel quittierten kreischend
die Lärmbelästigung.
ACHTES KAPITEL
Arnold saß noch beim Frühstück,
als der BMW gebracht wurde. Es war das neueste Modell, dessen Rundungen nicht
recht zur Geltung kamen, weil der Wagen knallrot lackiert war. Arnold ließ sich
die Funktion der Schlüssel und die Automatik erklären. Die Klimaanlage konnte
man für beide Vordersitze getrennt einstellen. Der Wahlhebel für die
automatische Gangschaltung lag links vom Fahrersitz, war also mit der linken
Hand zu bedienen. Gut, daß er die Gänge nicht per Hand schalten mußte. Er fuhr
einmal um den Parkplatz herum und unterschrieb den Mietvertrag.
Er hatte sein Gepäck schon im
Wagen verstaut und die Hotelrechnung bezahlt, als Meilan ihn abholen kam. Sie
wohnte nur wenige Kilometer entfernt in einem eingezäunten Parkgrundstück mit
einem alten Herrenhaus. Ein großer Schäferhund kam angerannt, als Meilan das
Tor öffnete, damit er hineinfahren konnte. Sie gab dem Hund einen Klaps auf den
Hals, und er trollte sich wieder. Meilan wohnte in einem kleinen Satteldachbungalow,
der nur einen großen Wohnraum mit Kamin und angrenzender Küche enthielt. Ihre
Bettcouch war mindestens anderthalb Meter breit. Als er ihr Gepäck zum Wagen
schaffte, gab es ein unerwartetes Problem.
Jeder von ihnen besaß einen
Schalenkoffer - sie grün, er schwarz - von der Größe, wie ihn Flugreisende in
der Touristenklasse ohne Schwierigkeiten aufgeben können. Aber sie paßten nicht
zusammen in den Kofferraum. Weder übereinander, noch nebeneinander, noch
verkehrt herum. Hergottsakrament, hatte er einen
Reisewagen gemietet oder einen Gartenzwerg? Es blieb ihnen nichts anderes
übrig, als den schwarzen Koffer auf die hinteren Sitze zu stellen. Was die
Sicht nach hinten behinderte und Autoknacker auf Ideen bringen konnte. Außerdem
hatte sie dort eine Tasche mit Getränken griffbereit abstellen wollen. Es wurde
noch voller im Viersitzer, als sie beim Einsteigen eine große Plastiktüte in
ihren Fußraum hob.
"Kann das nicht nach
hinten?" fragte er.
Sie zeigte ihm, was drin war.
Eine riesige Sammlung von Musikkassetten. Die erste schob sie gleich in den
Rekorder des Autoradios.
"Das hören wir
unterwegs." Fröhliche Operettenmusik erklang.
"Ich habe alles. Oper,
Konzerte, Musical, Schlager." Begleitet von den Klängen der "Leichten
Kavallerie" setzte der BMW sich in Bewegung. Sie mußten nur der
Ausschilderung N3 folgen, um die Autobahn nach Durban
zu finden. Johannesburg als Stadt erinnerte an das alte Ruhrgebiet. Rostende
Industriehallen und riesige Abraumhalden. Es dauerte fast eine Stunde, bis sie
grünes Farmland erreichten.
Die erlaubte
Höchstgeschwindigkeit auf südafrikanischen Autobahnen betrug einhundert
Stundenkilometer. Deshalb überraschte es Arnold, daß etwa anderthalb Stunden
hinter Johannesburg ein großer Geländewagen ihnen immer näher an die Stoßstange
rückte, als wollte er sie zum Spurwechsel zwingen. Arnold tippte ein paar Mal
das Bremspedal an, um den Wagen hinter ihnen durch das Aufleuchten der Bremslichter
zu erschrecken, aber der Geländewagen schob sich näher und näher an sein Heck
heran, bis er im Rückspiegel überhaupt keinen Zwischenraum mehr erkennen konnte.
Er blinkte rechts und bog auf die rechte Fahrspur ab, die in Südafrika eigentlich
die Überholspur war. Da er dort nicht zu langsam fahren wollte, drückte er
kräftig aufs Gas. Den Geländewagen verlor er aus den Augen. Als er den Kopf
nach links drehte, um zu sehen, ob er auf die Langsamfahrspur zurück könnte,
sah er den Geländewagen im spitzen Winkel von links auf sich zurasen. Mit der
Ecke seines stählernen Rammschutzes hatte er fast schon die Beifahrertür erreicht,
an der Meilan saß. In weniger als einer Sekunde mußte Meilans
Leben in einer Explosion aus Glas, Blut und Blech enden. War er nur deshalb von
Köln nach Johannesburg geflogen, um hier auf der Autobahn an Meilans Seite den Tod zu finden? Er riß das Lenkrad scharf
nach rechts herum. Der Wagen machte einen Bocksprung hoch durch die Luft und
landete wieder auf allen vier Rädern. Sein alter BMW hätte das nicht geschafft,
er hätte sich überschlagen. Was aus dem Wagen wurde, der sie rammen wollte,
konnte er nicht sehen. Alles, was er wahrnahm, war ein gewaltiges Hupkonzert.
Arnolds BMW rollte wieder in die richtige Richtung. Sein Herz hämmerte Fehlzündungen.
"Die Schwarzen können nicht
Auto fahren," sagte Meilan gelassen.
Ihm war nicht klar, ob die Fahrer
des Geländewagens an alkoholseliger Sorglosigkeit gelitten oder einen gezielten
Versuch unternommen hatten, ihn und Meilan ins Jenseits zu befördern. An der
ersten Ausfahrt fuhr Arnold links raus und fand eine Raststätte im Rancherstil.
Er parkte den BMW so, daß man ihn von der Straße aus nicht sehen konnte. Sie
waren die einzigen Gäste im geräumigen Restaurant. Eine riesengroße Negerin mit
hochtoupiertem Haar brachte ihnen eine Anderthalbliterflasche
Cola und zwei Strohhalme.
"Habt ihr keine
Gläser?"
"Muß ich erst waschen."
Aber sie tat es, und Meilan wischte ihres sorgfältig mit einem
Papiertaschentuch nach.
"Was können wir essen?"
"Ihr müßt euch im Minimarkt
an der Tankstelle etwas aussuchen. Ich habe nichts." Dabei lag eine dicke,
in Kunstleder gebundene Speisekarte auf dem Tisch.
Sie zeigte ihnen den Weg, und
beim Anblick des spärlichen Angebots im Shop ging Arnold zurück in die
Gaststätte und fragte die Bedienung, ob sie ihm Spiegeleier mit Schinken aufbraten
könnte.
"Für dich mach ich alles,
Baby."
Als er ihr die Einkaufstüte in
die Hand drückte, flüsterte er ihr zu: "Mach drei Portionen daraus, für
dich auch eine."
"Danke," erwiderte sie
und quetschte seinen Arm.
Er kehrte an seinen Tisch zurück.
Als der Geruch des angebratenen Schinkens in seine Nase drang, drehte sich ihm
der Magen um. Er schaffte es gerade noch, die Toilettentür hinter sich zuzumachen
und den Klodeckel hochzureißen. Die Todesangst hatte ihn eingeholt. Er spuckte
und würgte, bis nur noch grüne Galle kam. Dann wusch er sich den Mund mit kaltem
Wasser, bis er kein Gefühl mehr in den Fingern hatte.
"Ist dir nicht gut?"
fragte Meilan besorgt. "Du siehst blaß aus."
"Es ist nichts. Im
Gegenteil, ich bin froh, daß ich hier sitze. Hast du in China Auto fahren
gelernt? Hast du deinen Führerschein gemacht?"
"Ich besitze einen
chinesischen." Sie holte eine Plastikkarte aus der Handtasche. "Der
ist gefälscht, aber das sieht hier niemand. Das Problem ist, ich habe keine
Fahrpraxis. Ich dachte mir, wenn wir zusammen diese lange Reise unternehmen,
kannst du mir unterwegs ein paar Fahrstunden geben. Dann kann ich mir ein Auto
kaufen und selber fahren."
Die Serviererin, die bemerkt
hatte, daß Meilan Arnolds Finger drückte, setzte die Teller mit einem Knall auf
den Tisch.
Auf der Weiterfahrt kamen sie
durch weit gewelltes Gelände, vorbei an Ortschaften mit anrührend altmodischen
Namen wie Harrismith und Ladysmith.
Dann fuhren sie in eine Nebelwand hinein.
"Der Nebel ist immer
hier," kommentierte Meilan. "Jedesmal so dicht."
Es war nicht so schlimm, wie auf
Arnolds Hochzeitsreise, von der er Meilan auf dem Li Fluß erzählt hatte, aber
die Ungewißheit, wie langsam die Autos vor einem fuhren, und wie schnell die Wagen
hinter einem aufrückten, zerrte an den Nerven. Der Nebel war im Grunde eine
Wolkenbank, die der Monsun, aus der Weite des indischen Ozeans kommend, gegen
die Gebirgskontur des afrikanischen Kontinents drückte, ähnlich wie er es im Anaga-Gebirge von Teneriffa tat.
Als der Nebel sie freigab,
schimmerte am Horizont das blaue Band des Indischen Ozeans. Kurz vor Durban teilte sich die Autobahn, um als als
N2 sowohl nach Süden als auch nach Norden an der Küste des Ozeans entlangzuführen. Arnold hatte keine Lust sich als
Linksfahrer in den Feierabendverkehr einer Millionenstadt zu stürzen. Und weil
auf der südlichen Hälfte der Erdkugel das Meerwasser immer wärmer wird, je
weiter man nach Norden kommt, folgte er der Beschilderung, die zu den Stränden
der Delphin-Küste im Norden führte. Auf den Hängen links von der Autobahn lagen
erbärmlich elende Slumsiedlungen - Shantie-Towns -
mit rostigen Blechdächern, Plastikfolien als Fensterersatz und in der Sonne
trocknenden knallbunten Wäschestücken.
Die erste Ausfahrt hinter Durban führte zum mondänen Seebad Umhlanga
Rocks, dessen Hotelhochhäuser in vielen Reiseprospekten abgebildet waren. Bevor
Arnold darüber nachdenken konnte, ob er hier absteigen wollte, hatten sie die
Ausfahrt schon passiert. Das Meer war jetzt ihr ständiger Begleiter. Die Sonne
warf schon lange Schatten und legte ihnen das Halmmuster der Zuckerrohrfelder
auf die Fahrbahn.
"Ich habe einen
Riesenhunger," erklärte Meilan. Arnold fuhr an der nächsten Ausfahrt - sie
hieß Toongat Beach - von der Autobahn runter und
erblickte an einer zum Meer führenden schmalen Asphaltstraße das Hinweisschild Westbrook Hotel. Das Schild führte sie zu einem etwas
altmodischen, aber gut gepflegten mehrteiligen Hotelkomplex direkt über dem
Meer. Sie konnten ein Doppelzimmer mit Meerblick und Halbpension bekommen. Als
Arnold die Koffer aus dem Auto hob, kam die Hausdienerin, um ihnen ihr Zimmer
zu zeigen. Sie war eine dicke Negermammi, die sich gegen Arnolds Protest Meilans grünen Schalenkoffer auf den Kopf wuchtete und
freihändig zur Zimmertür balancierte, eine Erscheinung aus einer längst vergangenen
Epoche.
Ihr Zimmer hatte ein solides
Doppelbett und französische Fenster, die sich auf eine Terrasse zum Meer hin
öffneten. Arnold gab der Trägerin ein Trinkgeld und ließ sich auf einen Rattansessel
der Terrasse fallen. Die Luft war von starker Frische. Der Meerwind wühlte in
seinen Haaren und drückte Meilans Rock gegen ihre Beine.
Dann bemerkte Arnold, daß er eins nicht sah. Das Meer. Der kurzgeschnittene
Rasen fiel so sanft zum Strand ab, daß man die Brandung zwar hören aber nur
grünes Gras erblicken konnte. Arnold suchte die Treppe zum ersten Stock und
stieg hinauf. Von hier aus sah er die hohen Brandungswellen am felsigen Ufer
aufschäumen.
"Wenn ich schon am Meer
wohne," sagte er zu Meilan, die ihm zögernd gefolgt war, "will ich
auch auf das Wasser blicken." Sie überzeugten sich davon, daß die Zimmer
im ersten Stock große Balkone mit Korbstühlen hatten. An der Rezeption bekam
Arnold problemlos den Schlüssel für das Zimmer über ihnen. Die Koffer trug er
alleine hoch. Als er die Balkontür öffnete, spürte er den Monsun noch stärker als
unten. Er war warm und weich, wie der Fallwind, der in den Alpentälern die Holzchalets
ächzen läßt. Meilan bestand darauf, noch vor dem Abendessen ihren grünen Koffer
auszupacken und die Kleider in den Schrank zu hängen. Ihr Nachthemd legte sie
auf das linke Kopfkissen.
"Der wievielte Tag ist es
heute bei dir?" fragte er.
"Der vierte. Morgen ist es
wahrscheinlich vorbei.
Das Abendkleid, das sie zum
Dinner tragen wollte, hatte einen langen Reißverschluß im Rücken. Meilan warf
ihm einen hilfesuchenden Blick zu. Er küßte sie auf den Nacken, während er den
Zipp hochzog, und sie erschauerte.
"Wie bekommst du ihn sonst
zu?" fragte er.
"Ich verrenke mich."
Das Abendessen war so
reichhaltig, daß es allein schon den Halbpensionspreis wert war. In fast
völliger Finsternis kehrten sie auf ihr Zimmer zurück. Meilan leistete Arnold
nur kurz auf dem Balkon Gesellschaft. Dann verschwand ihr Körper unter der breiten
Bettdecke, in der er nur eine schmale Ausbuchtung bildete. Arnold war zu
aufgeregt, um zu schlafen. Er holte sich den KWV-Weinbrand
auf den Balkon. Er schmeckte ihm besser als der feinste Cognac, den er je auf
Langstreckenflügen genossen hatte. Über ihm funkelten die Sternbilder des
südlichen Himmelsgewölbes, fremde Konstellationen, deren Namen er sich nicht vorstellen
konnte. Er versuchte vergeblich, das Kreuz des Südens zu erkennen.
Am Horizont schwankten die gelben
Positionslichter der Containerschiffe mit Fracht für Durban.
Der Monsun wehte stoßweise und packte ihn wie mit hundert weichen Händen. Arnold
war trunken von Meerluft und Glück. Die Frau, die er liebte, schlief in seinem
Bett. Es war nicht nötig geworden, ihre Leiche aus einem zerquetschten PKW
herauszuschweißen. Die Zukunft war noch nicht zu Ende.
NEUNTES KAPITEL
Als sie in den Speisesaal zum Frühstück
gingen, wies ihnen der dicke indische Kellner, der eine kunstvoll gebundene Leibbinde
trug, einen Tisch in einer Nische mit Meerblick an. Bedeutungsvoll las er ihnen
das Menü vor:
"Kaffee oder Tee, Obstsalat,
Porridge, gebackenen Fisch, gebratene Eier mit Speck, Wurst und Tomaten, Toast
mit Butter und Orangenmarmelade, Kuchen."
"Was davon nehmen wir?"
fragte Arnold.
"Sie haben die Wahl zwischen
Kaffee und Tee. Alles andere servieren wir komplett."
Arnold sah Meilan ungläubig an.
"Ich habe Appetit,"
erklärte sie mit einem zufriedenen Lächeln.
Arnold hatte noch nie ein so
reichhaltiges Frühstück am Tisch serviert bekommen. Er handelte mit Meilan aus,
daß sie ihm ihren Teller Porridge überließ, das Lieblingsgericht seiner
Kindheit. Dafür verzichtete er auf den gebackenen Fisch, für den es ihm zu früh
war.
Mit Begleiterstolz und
Beschützerwärme sah er ihr zu, wie sie sich über das Frühstück hermachte. Als
sie auch noch seine gebratenen Eier mit Wurst und Schinkenspeck wegputzte, fragte
er sich, wie ihre Figur wohl am Tag ihrer Silberhochzeit aussehen würde.
"Was ist los?" fragte
sie besorgt.
"Ich mag dich."
"Später." Ihre Stimme
wies ihn zurück, als seien Gefühle für sie nicht mit Öffentlichkeit vereinbar.
Am Nachbartisch saß ein älteres
Ehepaar, das wohlwollende Blicke über sie streifen ließ. Der Mann mochte an die
Achtzig sein. Er hatte ein beeindruckendes, von Lebenserfahrung und Weisheit
gezeichnetes Gesicht, das Arnold an das Porträt des Frankfurter Kunsthändlers
Dr. Sakon erinnerte, das Max Beckmann in den
Zwanziger Jahren gestochen und als "Bildnis Dr. S." veröffentlicht hatte.
"Entschuldigen Sie,"
sagte Arnold zu ihm, als sie vom Tisch aufstanden, "ich habe Sie vorhin so
angeschaut, weil Sie mich an jemanden erinnern."
"Sie können Deutsch mit mir
sprechen," sagte der Alte, "ich freue mich meine Muttersprache zu
hören." Er hieß Simon, nicht Sakon, besaß ein
Geschäft auf dem Highveldt und machte jedes Jahr mit
seiner Frau in diesem Hotel ein paar Tage Urlaub.
"Sie müssen an den Strand
gehen," riet Simon ihnen, "jeden Vormittag um zehn kommt ein Schwarm
von Delphinen am Hotel vorbeigeschwommen. Das ist die große Sehenswürdigkeit
hier. Deswegen heißt diese Gegend Delphin-Küste."
Strahlender Sonnenschein lag über
dem Indischen Ozean. Die Brandung war so hoch, daß sie auf einen Felsen
klettern mußten, um die Meeresoberfläche besser zu überblicken. Kurz nach zehn
sahen sie die verspielten Tiere, die aus dem Wasser schnellten, als wollten sie
einen Blick auf die Menschen werfen.
Sie versuchten am Ufer den Delphinen
zu folgen. Aber der Sandstrand war mit bizarren Felspartien durchsetzt, die mühsam
zu überklettern waren, und nach einer Weile hatten sie und die Delphine
einander aus den Augen verloren.
"Hier kann ein Mensch nicht
schwimmen," bemerkte Arnold, "die Brandung ist viel zu stark."
"Der Monsunwind ist schuld.
Ich habe den Ozean schon ganz ruhig gesehen."
Das Mittagessen mußten sie im
Hotel einnehmen, weil es in der näheren Umgebung kein Restaurant und keinen
Schnellimbiß gab. Als Vorspeise wünschte Meilan sich Weinbergschnecken in Knoblauch.
Zu trinken gab es frischen Guaven-Saft in großen Gläsern.
Nach dem Mittagsschlaf wollte
Meilan das Schwimmbad des Hotels ausprobieren. Sie trug einen einteiligen
schwarzen Badeanzug, der ihren Busen etwas verkleinerte, aber ihre schlanken
Beine noch länger wirken ließ. Arnold war es gewohnt, in der Wärme tropischer
Meere zu schwimmen, zwischen Südchina und Singapur, und das Wasser des Swimmingpools
war für sein Körpergefühl viel zu kalt. Er drehte ein paar Anstandsrunden und
zog sich in seinen Bademantel zurück. Aber Meilan legte unermüdlich ihrer
Bahnen zurück, Viertelstunde um Viertelstunde, langsam, gewissenhaft, zielstrebig.
Arnold hatte Angst, daß sie sich im kühlen Wasser erkälten könnte, aber sie
ließ sich nicht beeinflussen. Erst als ihre Lippen schon blau waren, stieg sie
aufs Trockne. Danach saßen sie auf einem Felsen über der Brandung. Die Luft war
viel wärmer als das Wasser des Pools.
Arnold kannte die Gewohnheit der
Chinesen, unmittelbar vor dem Schlafengehen zu duschen. Er wollte es auf dieser
Reise auch so halten, ließ Meilan aber den Vortritt. Als er frisch rasiert und
nach Armani duftend ins Schlafzimmer trat, hatte Meilan das Licht schon
gelöscht. Die schweren Vorhänge bauschten sich im Monsunwind. Er blieb an ihrer
Bettseite stehen und suchte mit den Augen nach der Lage ihres schwarzen Haars
auf dem Kopfkissen.
"Ich möchte dir einen
Gutenacht-Kuß geben," sagte er. Sein Herz pochte bis in die Lippen und ins
Zahnfleisch hinein. "Ich kann dich riechen," erwiderte sie. "Ich
mag das."
Er legte sich neben sie. Ihr
Gesicht suchte sich einen Platz an seinem Hals. "Ach Arnold,"
flüsterte sie, "ich weiß nicht, was los ist."
"Ni shi
zhen hao," sagte er,
"du bist richtig gut." Er hatte diesen Satz oft in Liebesfilmen
gehört. Ihr Atem ging unregelmäßig. Er fuhr mit der rechten Hand über ihren
Rücken, preßte den Stoff ihres Nachthemdes gegen ihre Haut, tastete nach den
Muskeln rechts und links von der Wirbelsäule.
"Erinnerst du dich,"
fragte sie, "wie du mir gestern Abend das Kleid zugemacht und mich dabei
geküßt hast? Glaubst du, du findest die Stelle wieder?" Sie setzte sich
auf und zog sich das Nachthemd über den Kopf. Dann streckte sie sich wieder
aus, ihm den Rücken zuwendend.
"War es hier?" fragte
er, "oder hier?"
Ihre Haut bewegte sich unter
seinen Lippen, als führe ein Schauer von Gänsehaut darüber. Sie nahm seine
Liebkosung an.
"Etwas tiefer." Das war
bestimmt nicht dieselbe Stelle. Er versuchte es trotzdem. Aber je weiter er
kam, desto schwächer wurde ihr Empfinden, und als er sich etwas mehr Mühe gab,
war sie wie erstarrt. Die sanfte Zuneigung, die er für sie empfand, sprang
nicht auf sie über.
Es war, als hätte sich ihr
Bewußtsein mit ihrem ganzen Empfindungsvermögen in einer Meditationsübung von
ihrem Körper getrennt und blickte von hoch oben im Himmel unbeteiligt auf sie
herab, unerreichbar für ihn. Er wußte nicht, was er falsch gemacht hatte, aber
er begriff, daß er mit diesem Spiel aufhören mußte. Er streckte sich der Länge
nach neben sie aus und sagte: "Heute wird nichts daraus. Danke dir."
Mitten in der Nacht wachte er
davon auf, daß sie sich in seine Arme schmiegte. Er hatte im Schlaf geschwitzt
und spürte einen schlechten Geschmack im Munde. Er fand sich in diesem Zustand
als Partner nicht annehmbar. "Eine Sekunde," sagte er und ging ins
Badezimmer, um sich frisch zu machen. Als er zurückkam, war sie fest
eingeschlafen und wurde auch nicht wach, als er sie streichelte.
ZEHNTES KAPITEL
Beim Frühstück trafen sie die
Simons wieder.
"Ich bin Anfang der
Zwanziger Jahre mit meinen Eltern nach Südwestafrika gekommen," erzählte
Simon. "Das war damals südafrikanisches Mandatsgebiet. Aber die Chancen
dort waren nicht so groß, wie in der RSA. So kam ich hierher."
"Für Sie muß es ein Glück
gewesen sein," sagte Arnold, "daß Sie im November 1938 nicht mehr in
Deutschland lebten."
Simon nickte schweigend. Meilan
führte mit seiner Frau ein Gespräch über Mode.
"Ich hatte in Frankfurt
einen väterlichen Freund," fuhr Arnold fort, "er hieß Walter Maria Guggenheimer. Der hat im Zweiten Weltkrieg in einer Einheit
De Gaulles gegen Hitler gekämpft. Das habe ich sehr bewundert."
"Ich habe mich bei
Kriegsausbruch auch zur südafrikanischen Armee gemeldet. Aber sie haben mich
nicht genommen, weil ich Deutscher gewesen bin. Den Millionär Harry Oppenheimer,
dessen Familie aus Deutschland stammt, haben sie gleich zum Offizier gemacht,
und Rommel hätte ihn um Haaresbreite geschnappt."
Nach dem Frühstück hielten Arnold
und Meilan nach den Delphinen Ausschau. Eine besonders lange Welle schwappte
über ihre Füße, obwohl sie erschrocken in die Höhe sprangen. Sie stellten ihre
Schuhe zum Trocknen in die Sonne und warteten unter einem Schirm aus Schilf auf
den Eintritt der Wirkung.
"Wußtest du," fragte
Arnold, "daß es bei euch im Yangtse auch Delphine gibt?"
"Man sagt, nur glückliche
Menschen bekommen sie zu Gesicht."
"Ich bin glücklich. Ich habe
sie gesehen."
"Wie soll das möglich sein?
Der Yangtse ist so verschmutzt."
"Es ist über zwanzig Jahre
her. Damals lebten Mao Tsetung und Zhou Enlai noch."
"Zu der Zeit,"
behauptete Meilan, "gab es keine glücklichen Menschen."
Als die Schuhe trocken waren,
fuhren sie mit dem BMW ins Hinterland und besichtigten die Kleinstadt Toongat, deren Bewohner fast ausschließlich Inder waren. An
einem Hindutempel studierten sie die knallbunt lackierten Reliefs heiliger Kühe
und vollbusiger Frauen, ohne die Symbolik zu erfassen. Meilan hatte keinen Appetit
auf die indische Küche. Sie zog es vor, im Westbrook
Weinbergschnecken, Austernsuppe und Scampi zu
genießen. An anderen Tischen wurden riesige Hummer serviert.
"Wieso steht der Lobster nicht auf der Speisekarte?" erkundigte sich
Arnold.
"Das ist Crayfish,"
erklärte der Kellner, "viele Gäste kommen nur zum Crayfish-Essen
zu uns."
"Morgen gehören wir
dazu," versprach Arnold. Crayfish stand auf der
Karte, aber der Name hatte keinem von ihnen etwas gesagt.
Zum Mittagsschlaf kam Meilan mit
einem um die Hüften gewickelten Badehandtuch aufs Bett. Als seine Finger entdeckten,
daß das ihr einziges Kleidungsstück war, drückte sie seine Hand weg und sagte:
"Nicht mit den Fingern. Willst du oder willst du nicht?"
Er wußte nicht, was er erwidern
sollte. Ohne Zärtlichkeit lief für ihn nichts, und während er noch nach Worten
suchte, ihr das zu erklären, merkte er an ihren tiefen Atemzügen, daß sie eingeschlafen
war. Er bewunderte die Fähigkeit der Chinesen, unter allen Umständen an ihrem
Mittagsschlaf festzuhalten. Er hatte in China Großraumbüros in der
Mittagsstunde besucht, deren ganze Belegschaft mit auf der Schreibtischplatte ruhendem
Oberkörper in Schlaf versunken war. Nach einer Weile wurde Meilans
Atmen durch das Prasseln eines heftigen Regengusses übertönt, der auf die
Dachziegel über ihrem Balkon trommelte. Der schwere Regen hielt den ganzen
Nachmittag an und machte jeden Ausgang unmöglich. Das drückte auf die Stimmung.
Sie entdeckten einen unterirdischen Gang, der zum Wirtschaftsgebäude führte. In
der Bar trafen sie mit den Simons zusammen und tranken mit ihnen Kaffee.
"Wissen Sie, wer Caprivi
war?" fragte Simon.
"Deutscher Außenminister
unter Kaiser Wilhelm," mutmaßte Arnold, "hat er nicht Sansibar gegen
Helgoland weggetauscht?"
"Nicht Außenminister.
Reichskanzler als Nachfolger Bismarcks. Im sogenannten Caprivi Abkommen von
1890 hat das Deutsche Reich nicht nur Helgoland gewonnen, sondern auch einen
vierhundertfünfzig Kilometer langen Landkorridor zwischen Angola und Betschuanaland im Nordosten von Deutsch Südwest. Durch ihn
erhielt die Kolonie Zugang zum Sambesi, dem drittgrößten Strom Afrikas. Diesen
Landstreifen nennt man heute noch den Caprivizipfel."
"Der Sambesi mündet doch in
den Indischen Ozean, nördlich von hier. Deutsch Südwest liegt am Atlantik."
"Richtig. Die Akquisition
hat nie Sinn gemacht. Der Caprivizipfel ist so gut wie unbesiedelt. Der größte
Ort, Katima Mulilo am Knie
des Sambesi, hat vierzigtausend Einwohner. Politisch ist das Gebiet ein Teil
von Namibia. Aber die Leute wollen weg von Windhoek.
Dafür kämpft seit neuestem eine Unabhängigkeitsbewegung, die sich
"Befreiungsfront Katima Mulilo"
nennt."
"Für vierzigtausend
Einwohnern," wiederholte Arnold, "das muß man sich vorstellen. Dabei
ist ganz Namibia ein Vielvölkerstaat mit weniger als anderthalb Millionen Angehörigen."
"Nicht Völker, sondern
Stämme sind die Grundeinheit des Kontinents, und die Stammesgrenzen sind immer
fließend gewesen."
"Man sagt, die
Kolonialmächte hätten ihre Länder zu früh in die Unabhängigkeit
entlassen."
"Was ist richtig? Was ist
falsch? In der Zeitung steht heute, daß die namibische Armee ein Camp der
Befreiungsfront Katima Mulilo
mit Kampfflugzeugen angegriffen und dabei zwei Migs
verloren hat. Eine ist über dem Caprivizipfel abgestürzt, die andere bei der Landung
zu Bruch gegangen."
"Sagt der Bericht, daß die
Maschinen abgeschossen wurden?"
"Darüber habe ich nichts
gelesen. Ich nehme an, es waren Pilotenfehler. Wie sollen die Buschmänner zu
Flugabwehr-Kanonen gelangen?"
"Ich habe gehört,"
erinnerte sich Arnold, "daß ein südafrikanischer Minenkonzern den Rebellen
in Angola heimlich Diamanten im Wert von Hunderten von Millionen Dollar abkauft.
Ein amerikanischer Waffenhändler soll in dieses Geschäft verwickelt sein. Für eine
Handvoll Diamanten müßte man schon eine Stinger-Rakete
erhalten."
"Das wäre schrecklich. Soll
unser Kontinent nie zur Ruhe finden?"
Vor dem Einschlafen saß Arnold
noch lange auf dem Balkon und horchte auf das Rauschen des Indischen Ozeans,
dessen Brandung nach dem Regen noch lauter klang als zuvor. In seiner Brust
wechselten starke Stimmungen. Ein Flugzeug bewegte sich langsam über den
Nachthimmel, immer wieder von Wolkenfetzen verschlungen. Jedes Verschwinden
seiner Positionslichter erfüllte Arnold mit Sorge. Es gab amerikanische Stinger, russische Sams und chinesische Seidenraupen-Raketen.
In diesem Augenblick sah Arnold
wieder, wie Wehrmeyers brennende Notiz im
Aschenbecher Wellen schlug. War es möglich, daß er mit Capri nicht die italienische
Mittelmeerinsel gemeint hatte, sondern den Caprivizipfel? Dann waren seine Seidenraupen
keine Insekten, sondern Boden-Luft-Raketen. Aber wie waren sie nach Katima Mulilo gelangt?
In dieser Nacht träumte Arnold
mehrere Male, daß Meilan hinter ihm lag, sich an ihn schmiegte und ihn mit
ihren Armen umfaßte. Jedes Mal, wenn er erwartungsvoll wach wurde, ließ der
Druck ihrer Arme nach, und er entdeckte, daß sie ein Stück von ihm entfernt
lag.
"Wann willst du
weiterfahren?" fragte Meilan, als sie nach dem Frühstück zum Strand
hinuntergingen. Er hörte aus ihrer Stimme die gleiche Ungeduld heraus, die sie
schon in Guilin gezeigt hatte.
"Für heute Mittag haben wir Crayfish bestellt."
"Ich weiß."
"Wir sind an einem der
schönsten Plätze der Welt. Wenn wir hier als Mann und Frau richtig glücklich werden,
haben wir eine wunderbare Erinnerung für unser ganzes Leben."
"Du kannst ja nicht,"
sagte Meilan, "ich war immer bereit."
"Das habe ich nicht
gespürt."
"Benötigst du etwa eine
handschriftliche Einladung?"
"Ich brauche das Gefühl,
willkommen zu sein."
"Das bist du. Laß uns
raufgehen, ich beweise es dir."
Bei Richard Wilhelm heißt das
dritte Hexagramm im Buch der Wandlungen: "Dschun,
die Anfangsschwierigkeit". Es besteht aus den Trigrammen
Dschen, Bewegung, und Kän,
Gefahr. Der Kommentar sagt: "Es handelt sich um Bewegung inmitten der Gefahr.
Die Bewegungen des Donners und Regens erfüllen die Atmosphäre. Es ist Aussicht
auf großen Erfolg vorhanden, wenn man Beharrlichkeit hat."
Es war das Ende der
Schüchternheit. Erwartungen wurden wahr. Wie improvisierende Jazzmusiker arbeiteten
sie an der Feinabstimmung ihres Zusammenspiels, ohne immer den richtigen Takt
zu treffen.
Diese Unstimmigkeit im
Zusammengehen erzeugte ein ganz eigenes Glücksgefühl. Es war wie ein
fortwährendes gegen die Strömung Anschwimmen. Schließlich wurde aus Meilans Verlangen, schneller voranzukommen, ein atemraubendes,
sich ständig steigerndes Creszendo.
"Shufu
bu shufu?" fragte er
in ihrer Muttersprache.
"Tai
shufu," erwiderte sie, "äußerst
angenehm." Sie wiederholte dieses Bekenntnis ein paar Mal. Dann sah er ihr
Gesicht. Ganz gelöst, ohne jede Härte, wunderschön und glücklich.
Es war gut gegangen. Von nun an
mußte es jeden Tag besser werden. Ein chinesisches Sprichwort sagt: "Einen
Tag Mann und Frau - hundert Jahre Gunst."
Während sie im Restaurant auf das
Mittagessen warteten, das trotz des bestellten Hummers wieder mit Weinbergschnecken
in Kräuterbutter beginnen sollte, durchblätterten sie gemeinsam die lokale
Tageszeitung. Als Bankmensch sah Arnold sofort die Schlagzeile
"Asiatischer Geschäftsmann in Johannesburg vor Geldautomat erschossen
aufgefunden". Er machte Meilan darauf aufmerksam. Sie zog das grobgerasterte
Bild des Toten näher an ihre Augen, ließ die Zeitung fallen und sagte:
"Ich muß mal telefonieren."
Den Kellner, der die Vorspeise
brachte, bat Arnold, die Weinbergschnecken noch etwas warm zu stellen. Er
studierte den Zeitungsbericht mehrmals, aber das einzige, das Meilan beunruhigt
haben könnte, war die Information, daß es sich bei dem Toten um einen
Geschäftsmann aus Taiwan handelte. Als Meilan an den Tisch zurückkam, bestellte
sie als Aperitif zwei Gläser Weinbrand. Er hatte sie außer bei Maler Ma nie etwas Scharfes trinken sehen, und das Glas, das sie
auf einen Zug leerte, verschlug ihr auch den Atem. Trotzdem trank sie gleich
hinterher noch die Hälfte von Arnolds Glas.
"Es ist wahr, was ich
gedacht habe" erklärte sie, "der Tote ist mein früherer Chef, bei dem
ich letzten Monat aufgehört habe. Er war so ein lebenslustiger Mensch. Es paßt
gar nicht zu ihm, daß er tot ist. Warum mußte er auf diese sinnlose Weise
sterben?"
Später, beim traditionellen
Nachmittagsschlaf preßte sie sich mit einer Intensität an ihn, die mehr als nur
Ausdruck frischer Verliebtheit war.
Er hielt sie so fest in den
Armen, als könnte er sie vor allem Unheil dieser Welt beschützen. Nach wenigen
Minuten war sie tief eingeschlafen, und er spürte den regelmäßigen Luftzug ihres
Ausatmens auf seinem Hals. Sie war bei ihm geborgen, und er wachte über ihren
Schlaf.
Ihm ließ der Gedanke an ihren
toten Chef keine Ruhe. Es war statistisch möglich, daß verzweifelte Kleinkriminelle
einen Mann erschossen, der sich aus einem Geldautomaten Geld besorgte. Aber
wenn dieser Mann der Boß eine Schmugglerfirma war, sah das schon weniger nach
Zufall aus. Aber wer sollte einen Textilschmuggler töten? Konkurrenten? In diesem
Niedrig-Preis-Geschäft unwahrscheinlich. Die Polizei? Die brauchte ihn lebend,
um seine Organisation auszuhebeln. Also doch bloß Zufall?
Ein Wort sprang ihn an.
"Blutdiamanten." In jedem zweiten Südafrika-Krimi spielten der weiße
Kohlenstoff-Kristall die Rolle des gefragtesten
Schmuggelgutes. Aber waren chinesische Konsumgüter es wert, mit Diamanten
aufgewogen zu werden? Wohl kaum. Er hatte auch nicht bemerkt, daß Meilan sich für Edelsteine interessierte. Schon am Tag der
Ankunft war ihm aufgefallen, daß sie ihn so schnell auf diese Rundreise hinausgedrängt
hatte. Aber die Landschaft hier war es wert.
Beim Abendspaziergang auf der
Uferstraße, der North Coast Road, nahmen sie Abschied
von diesem Fleck Erde. Hohe Bougainvillea-Büsche,
deren Blütenkaskaden wie Vorhänge in Lila, Rot, Rosa und Orange auf die Straße
fielen, dienten als Tarnung für die Drahtzäune, die das Immobilieneigentum
rechts und links von der Straße schützten. Etwas weiter nördlich überragten
Apartmenthäuser die Steilküste. Jede Wohnung hatte eine große Terrasse mit
Meerblick. An einigen Fensterwänden klebten Verkaufshinweise von Maklern. Eine
Terrassenwohnung mit hundert Quadratmetern war schon ab umgerechnet
fünfzigtausend Mark zu bekommen. Dafür gab es in Köln nicht einmal mehr ein
Apartment mit Kochnische. Ganz abgesehen davon, daß die Luft in der Kölner
Bucht nicht so frisch war, wie an der Küste des Indischen Ozeans, wo die Brandung
Salz und Sauerstoff mischte.
In Johanneburg hatte sie ihm
vorgeschlagen ein Büro mit Auto für sie zu mieten. In den letzten Tagen war
nicht mehr die Rede davon gewesen.
"Hast du immer noch vor, dich
selbständig zu machen?"
"Warum fragst du?"
"Ich überlege mir, wo ich in
Zukunft leben soll. In zweieinhalb Jahren kann ich bei meiner Bank aufhören zu
arbeiten. Wenn du dann eine Firma in Durban hast,
könnten wir eine von diesen Wohnungen kaufen. Du würdest tagsüber in dein Büro
fahren und nach der Arbeit hierher zurückkommen. Ich könnte mir über einen
Satelliten die aktuellsten Wertpapierkurse aus aller Welt holen, Aktiencharts plotten und etwas Geld an der Börse einsetzen."
"Ich glaube nicht mehr, daß
ich mich selbständig machen will. Das war nur so eine Idee. Wenn jetzt die
diplomatischen Beziehungen zwischen Peking und Pretoria aufgenommen werden, habe
ich gute Chancen, Leiterin der Südafrika-Niederlassung meiner alten Firma zu
werden."
Also brauchte sie seine Hilfe
nicht mehr. Sollte er das bedauern oder froh sein, daß sie von ihm nicht
erwartete, ihre Art von Geschäftstätigkeit zu finanzieren? Sein Angebot, hier gemeinsam
zu wohnen, schien sie völlig überhört zu haben.
Wie beiläufig fragte er:
"Hast du hier in Südafrika schon mal echte Diamanten gesehen?"
"Ich weiß nicht, was da
Besonderes dran sein soll. Mir gefällt Gold." Ihre Finger streichelten die
Glieder der Goldkette, die er ihr geschenkt hatte.
Nach dem Abendessen nahmen sie
Abschied von den Simons, die ihnen gute Freunde geworden waren. Meilan ließ
sich von ihnen ihre Telefonnummer aufschreiben.
In der Nacht schliefen sie bei
offenem Fenster. Der Monsun bauschte die Vorhänge.
ELFTES KAPITEL
Am anderen Morgen brachen sie
gleich nach dem Frühstück auf. Sie hatten sich vorgenommen, an der Küste des Indischen
Ozeans bis zum Kap der Guten Hoffnung hinunterzufahren. Für die Strecke von
nahezu zweitausend Kilometern würden sie einige Tage brauchen. Das erste Stück
dieser Route führte sie auf der Autobahn N 2 nach Süden, vorbei am Hafen von Durban mit seinen Öltanks, Kranbäumen und Containerportalen.
Hinter Durban fuhren sie wieder am Meer entlang. Ein
kleiner Badeort lag neben dem anderen. Die Sonne schien durch die
Windschutzscheibe auf seine Oberschenkel. Die Klimaanlage des Wagens kühlte
seinen Kopf. Die Erinnerung an den gestrigen Vormittag teilte sich seinem ganzen
Körper mit.
Meilan drückte ein Band mit
Opernmusik in den Kassettenspieler, und die Stimme Pavarottis ließ den Palmenstrand
wie ein Bühnenbild aussehen. Die Strandabschnitte südlich von Durban hatten poetische Namen. Erst fuhren sie die Strelizien-Küste entlang, dann kam die Hibiskus-Küste und
weiter im Süden erwartete sie die Wilde Küste. Das Automatik-Getriebe brauchte
wenig Aufmerksamkeit.
Nach etwa zwei Stunden Fahrt
knickte die Autobahn nach rechts ab, um ins Gebirge mit seinen Wolkenbänken
hinaufzusteigen. Der BMW folgte der Uferstraße. Als sie die Wilde Küste erreichten,
zerfranste sich die Asphaltstraße in ungeteerte Zufahrten zu einzelnen
Bananenplantagen. Arnold erkundigte sich an der Tankstelle nach dem richtigen
Weg.
"Wo wollen Sie hin?"
"Nach Kapstadt."
"Sie müssen fünfzig
Kilometer zurück zur N 2."
"Mir ist die Uferstraße
lieber."
"Es gibt keine. Sie können
auf das Fährschiff warten, wenn sie über Wasser weiter wollen."
Auf der Regionalkarte, die an der
Wand der Tankstelle hing, war eine Abkürzungsroute zur N 2 eingezeichnet, die R
61.
"Das bringt Ihnen keine
Zeitersparnis," sagte der Tankwart. Er überprüfte Luftdruck und Ölstand
und tankte voll.
Die R 61 war eigentlich eine ganz
normale Landstraße, bis sie nach wenigen Kilometern die Grenze zum ehemaligen Homeland
Transkei erreichte. Homelands, das hatte ihnen Simon erklärt, waren
ursprünglich Reservate für Schwarze. Auf insgesamt dreizehn Prozent der
Bodenfläche Südafrikas sollten 76 Prozent der Bevölkerung ein isoliertes Leben
führen, ohne Zugang zu industriellen Arbeitsplätzen und den Fortschritten der Zivilisation.
Beim Übergang in die Transkei
verwandelte sich die R 61 in eine Schlaglochpiste aus festgefahrener Erde und
Kies. Es hatte nicht geregnet, und der Himmel war blau. Arnold nahm den Fuß vom
Gas, packte das Lenkrad mit beiden Händen und schaukelte den BMW durch die
nächsten Krater.
Meilan fragte: "Willst du
das wirklich riskieren?"
"Soll ich umkehren? Wäre dir
das lieber?"
"Ich weiß nicht. Es kann ein
Abenteuer werden. Vielleicht treffen wir wilde Tiere."
Arnold schaffte es, im zwanzig-Kilometer-Tempo zu fahren. Nach der Küstenebene mit
ihren Bananenplantagen, Tabak- und Zuckerrohrfeldern, die tief unter ihnen lag,
wirkte das Gebiet der Transkei unwirtlich und unfruchtbar. Ab und zu stand
etwas Mais am Wegrand. Dann gab es nur noch eine dünne Graskrume auf
ansteigendem Weideland. Das Außenthermometer des BMW zeigte acht Grad über Null
an. Die Region der ewigen Wolken begann. Pastellfarbene Häuser, die wie Schuhkartons
aussahen, lösten sich aus dem Nebel, hellgrün, rosa und hellblau gestrichen.
Dazwischen weiße Rundhäuser mit Strohdächern. Junge Männer standen fröstelnd zwischen
den Hütten herum, die Hände in den Taschen der Anoraks vergraben, dicke
Strickmützen auf dem Kopf. Den BMW ließen sie teilnahmslos vorbeiziehen.
"Ich möchte wissen, wovon
die Leute hier leben," fragte Arnold.
"Den Menschen hier geht es
nicht richtig schlecht," widerprach Meilan.
"Hast du nicht gesehen, was für schöne Wollmützen sie aufhaben?"
"Weil es hier niemals Sommer
wird."
"Du müßtest Armut in China
sehen. Es gibt Bergdörfer, dreihundert Kilometer von Tschungking.
Aber dort darf ich dich nicht hinbringen. Wir kämen beide auf die Polizeiwache.
Hier können wir machen, was wir wollen."
Sie fanden die N 2, die sehr gut
ausgebaut und fast völlig autofrei war. Immer wieder liefen Ziegen und Rinder
über die Fahrbahn. Sie zwangen Arnold, auf der Autobahn Schritt zu fahren.
Die Straße führte durch
uneingezäuntes Weideland. Einzelne Häuser oder Dörfer blieben am Horizont
stehen. Eine große Zahl toter Hunde lag auf der Straße. Waren es Hirtenhunde,
die ihre Herden von der Straße zu treiben versucht hatten, oder waren es
herrenlose Hunde, die sich auf den Weg gemacht hatten, ein besseres Leben zu
finden? Einmal erhob sich ein großer Vogel, der an einem toten Hund hackte,
ganz langsam vor dem herannahenden Auto. Sein riesiger Flügel berührte fast die
Kühlerhaube. Ein blutiger Fetzen Fleisch fiel auf die Windschutzscheibe.
Am späten Nachmittag kamen sie
nach Umtata, der Hauptstadt der Transkei. Die
Autobahn wurde zur Stadtdurchfahrt. Stellenweise hatten sie Mühe, zwischen
überladenen Marktständen eine Fahrrinne zu finden. Umtata
war eine ausschließlich von Schwarzen bewohnte Großstadt mit modernen Gebäuden
im Zentrum, einer Universität, einem Flughafen und Vier-Sterne-Hotels. Am Wegweiser
zum Holiday Inn bog Arnold ab. Meilan legte die Hand
auf seinen Arm.
"Wo willst du hin?"
"Fragen, ob sie ein Zimmer
frei haben."
"Ich kann hier nicht
übernachten."
"Wir sind sechshundert
Kilometer gefahren."
"Laß uns weiter
fahren."
"Wir sollten uns Umtata ansehen. Eine typisch afrikanische Stadt. Vielleicht
können wir heute Abend eine Pop-Gruppe mit Original Xhosa-Musik
hören. Wär das nichts für dich?"
"Ich ekle mich vor den
Schwarzen. Sie sind aufdringlich. Ich kann ihren Geruch nicht ertragen."
"Dieses Hotel ist ein
internationales Haus. Wir werden stundenweit kein besseres finden."
Sie lächelte ihn betörend an:
"Ich könnte mich in meiner Haut nicht wohlfühlen, wenn ich hier
übernachten müßte. Du hättest nichts von mir."
"Wenn wir noch länger
fahren, bin ich zu nichts zu gebrauchen."
"Nur ein kurzes Stück,"
bat sie.
Es wurden dann doch zweihundertfünzig Kilometer. Beim Verlassen des früheren
Homelands Transkei kamen sie an einen befestigten Grenzübergang, der an den
Checkpoint Charlie erinnerte, aber jetzt, genau wie die Berliner Mauer, nur
noch ein verwaistes Denkmal war, das eine Politik der Verirrtheit anklagte.
Mit Einbruch der Dunkelheit
erreichten sie die Industrie- und Hafenstadt East London. Am Stadtrand entdeckten
sie die Leuchtschrift "Airport Hotel". Es war ein Betonklotz auf
freiem Felde. Kein Meerblick, kein Seewind, nur eine Wohnmaschine. Konnte ein
Liebespaar in so einer Maschine zärtlich zusammenliegen?
Arnolds Wunsch nach Romantik war stärker als seine Erschöpfung. Er steuerte den
Wagen in die unübersichtliche, schlecht beleuchtete Stadt. Nach der fünfzehnten
roten Ampel bekam er einen Krampf im rechten Bein. Er stellte mitten auf der
Straße den Motor ab und machte das Warnblinklicht an.
"Ich kann nicht mehr,"
stöhnte er. Auf Meilans Miene nahm er einen
zweifelnden Ausdruck wahr, als hätte er in ihren Augen sein Gesicht verloren,
weil er Schwäche zeigte. Es mußte sich um eine Sinnestäuschung im flackernden
Gelblicht handeln. Sie war sein Reisekamerad.
Er öffnete die Wagentür und trat
ins Freie. Um den Krampf wegzutreten, humpelte er die Straßenfront entlang. Er
sah den Notausgang eines Kinos. Ein Geschäftshaus aus den Gründerjahren. Dann
eine winzige Leuchtschrift: "Hintereingang Hotel Esplanade."
Mit seiner Front lag das Hotel an
der Uferpromenade. Sie bekamen ein großes Zimmer unter dem Dach, das ein
breites Doppelbett und Meerblick hatte. An der Seite war ein Wintergarten abgetrennt,
in dem eine Art Kinderbett stand. Meilan hüpfte begeistert in den Wintergarten
und rief: "Hier schlafe ich. Alles andere kannst du haben."
Arnold hatte hauptsächlich Lust
auf ein Bier. Im Hotel gab es kein Restaurant, aber gleich nebenan lag ein
gutbesuchter Pub. Castle-Bier
vom Faß wurde ihnen unaufgefordert hingestellt. Die Tischplatte war so klein,
daß man nur Tellergerichte essen konnte.
"Wir müssen uns
angewöhnen," sagte Arnold, "schon nachmittags um drei oder vier ein
Hotel zu suchen. Das war heute sehr ungünstig."
"Ich mag mich nicht mit dir
unterhalten, wenn jemand uns zuhören kann." Tatsächlich standen die Tische
sehr eng.
"Rang women
jiang zhongwen - sprechen
wir Chinesisch."
"Ich kann deinen Akzent im
Chinesischen nicht ertragen. Es macht mich krank, ihn zu hören."
Meilan war heute wirklich kein
guter Reisekamerad. Aber Arnold war zu müde, um aufzustehen und wegzugehen. Er
trank sein Bier und sagte den ganzen Abend kein einziges Wort mehr. Schweigend
ging jeder in sein Bett.
Er war viel zu erschöpft, um
Schlaf zu finden. Vor seinen Augen spulte sich immer wieder das hellgraue Band
der Autobahn nach Umtata ab, mit den toten Hunden,
irrenden Ziegenherden und langsam trottenden Rindern, zwischen denen er seinen
Wagen hindurchsteuern mußte, wie bei einem Videospiel, bei dem früher oder
später das eigene Gefährt sich in einem Explosionsstern auflöste. Die Fahrt
nach Umtata war das erste Videospiel, aus dem er als
Sieger hervorgegangen war.
Im Wintergarten ging ein gelbes
Licht an. Er hört tappende Schritte, seine Decke wurde zurückgezogen und die
Matratze schwankte unter Meilans Gewicht. "Es
tut mir leid," sagte sie, nahe an seinem Ohr, "ich war heute Abend
nicht freundlich zu dir." Der Ärger schmolz ab von ihm, aus Mißverständnis
wurde Einverständnis.
Als sie ins Badezimmer ging und
er dem Knacken und Schnappen des Schlüssels in der Tür nachlauschte, kehrte die
Erschöpfung von der langen Autofahrt in seinen Körper zurück. Er war ihr auch
durch die verschlossene Tür so nahe, wie es nur vorstellbar war. Der Schlaf
überfiel ihn mit dem schwarzen Flügelschlag eines von einem zerrissenen Hund
aufflatternden Geiers.
ZWÖLFTES KAPITEL
Von East London führte der Weg
sie durch ein weiteres Homeland, die Ciskei, nach Port Elizabeth in der
Östlichen Kap-Provinz. Die Ciskei machte keinen so ärmlichen Eindruck, wie die
Transkei. Das war wohltuend. Aber Port Elizabeth erwies sich als eine Stadt,
die vom Meerwind durchweht war, einem unangenehm kalten Wind, viel kühler als
der starke Passat in Durban. Sie fanden Unterkunft im
Marine Protea, vor dessen protziger Fassade eine
lange Reihe von Fahnen im Ostwind flatterte.
Bei der Rückkehr von einem
Stadtbummel bemerkten Arnold und Meilan an der Hotelauffahrt einen nervösen
Sicherheitsbeamten in einem frisch gebügelten Konfektionsanzug mit einem Hörsprechgerät
in der Hand.
Als sie in der Hotelhalle in den
Lift stiegen, gesellte sich ihnen ein schwarzes Hausmädchen zu, das einen
Stapel gelber Badetücher trug.
"Bitte warten Sie einen
Augenblick," sagte ein weiterer Sicherheitsbeamter und stellte sich vor
die Lichtschranke der Lifttür. Ein dicker fröhlicher Mann trat ein und schaute
ihnen allen in die Augen. Auf Meilan verweilte sein Blick am längsten. Arnold
suchte nach Worten, um ein Gespräch mit ihm anzufangen, aber der Mann stieg
schon im zweiten Stock aus.
"Wer war das?" fragte
Arnold das Zimmermädchen.
"Das ist unser Vizepräsident
de Klerk. Er hält hier einen Vortrag."
"Hast du ihn nicht
erkannt?" wandte sich Arnold an Meilan. "Du lebst schon ein paar
Monate in diesem Land. Das ist der frühere Präsident von Südafrika, der Mandela
befreit und nach oben gebracht hat. Er macht auf mich einen sehr guten Eindruck."
"Wenn wir mal Zeit zum
Fernsehen haben, schauen wir uns Kassetten mit Serien aus China an."
Ihr Zimmer lag im sechsten Stock.
Es bot nur eine einzige Schlafgelegenheit. Zum Abendessen blieben sie wegen des
kalten Windes im Hotel. Meilan zog ihr schönstes Kleid an und brauchte lange
für ihr Makeup. Die Gäste im Speisesaal waren beeindruckt.
Zum ersten Mal in seinem Leben aß
Arnold Straußenfilet. Die Textur des Fleisches erinnerte an Rinderfilet, aber
der Wildgeschmack war sehr intensiv. Meilan kostete davon und erklärte ihm, daß
das Aroma von Herde zu Herde unterschiedlich
ausfiele. Als es ans Bezahlen ging, schickte er sie voraus nach oben, damit sie
nicht mitbekam, was für ein Arrangement er für das morgige Frühstück traf.
Sie hofften im Fernsehen etwas
über den Besuch von de Klerk zu erfahren, aber dann schlug sie ein
abendfüllender Dokumentarfilm über die Massai in
seinen Bann. Meilan kuschelte sich an ihn, und sie schmusten beim Fernsehen wie
zwei Teenager, die zum ersten Mal das Petting entdeckten. In der Nacht lag sein
Arm auf ihrer Hüfte, und das war gut.
Als sie zum Frühstück nach unten
gingen, wurden sie an einen Tisch geführt, auf dem rote Rosen standen und Geburtstagskerzen
in zwei üppigen Tortenstücken steckten. Arnold zündete die Kerzen an und sang:
"Happy birthday to you,
dear Meilan."
Sie umarmte ihn und küßte ihn in
aller Öffentlichkeit auf die Wange.
"Du mußt dir etwas wünschen,
wenn du die Kerzen auspustest", sagte er ihr.
"Ich will die Kerzen noch
lange brennen sehen." Sie nahm die Rosen in die Hand, ohne sich zu
stechen. Tränen standen in ihren Augen.
Die dünnen Kerzen brannten
schnell herunter.
"Jetzt," sagte Arnold,
"blas sie aus, bevor eine von selber ausgeht."
Sie löschte die Lichter mit einem
langen Atemhauch und klatschte wie ein Kind in die Hände.
"Willst du mir sagen, was du
dir gewünscht hast?" fragte er.
"Ich habe mir gewünscht,
meine Eltern wiederzusehen. Ist das in Ordnung?"
"Es ist richtig, gerade
heute an sie zu denken."
"Leben deine Eltern
noch?"
"Mein Vater wird nächsten
Monat neunzig. Wir haben uns vorgenommen, genau neunzig Geburtstagskerzen für
ihn anzuzünden."
"Du wirst bestimmt genauso
alt." Sie runzelte die Stirn, als zählte sie die Jahre, die noch vor ihnen
lagen. "Dann werde ich Siebenundsiebzig sein. Kannst du dir das vorstellen?"
"Ja," sagte er."
Meilan zog die kalten
Kerzenstummel aus dem Kuchen und packte sie in ein Papiertaschentuch ein.
"Glaubst du, wir schaffen es, die Torte aufzuessen?"
Es gelang ihnen ohne Mühe.
Die sogenannte Garden Route, die
hinter Port Elizabeth begann, erwies sich als eine Route der Nationalparks. Ein
Naturschutzgebiet folgte dem anderen. Mal lag eine schillernde Seenplatte zu
ihrer Rechten, dann ragten bizarre Felswände in den Himmel. Eine Verkehrstafel
warnte vor kreuzenden Elefanten, aber sie sahen nicht einmal die Losung dieser Tierriesen
auf der Straße liegen.
Gegen Mittag las Meilan auf einem
Ortseingangsschild: "Knysna, die Stadt der
Austern." Arnold hatte nichts für diese Delikatesse übrig. Er hatte in
seinem ganzen Leben erst zwei oder drei Mal rohe Austern gegessen.
"Hier soll es in der Lagune
die größte Austernbank Südafrikas geben," informierte ihn Meilan. Arnold genoß immer die Ausstrahlung guter Laune,
die Meilan beim Essen um sich verbreite, und da die Restaurantpreise in
Südafrika gerade halb so hoch wie in Deutschland waren, erfüllte er ihr gerne ihre
kulinarischen Wünsche.
In einem kubistischen
Einkaufszentrum aus Sichtbeton fanden sie ein Spezial-Austernrestaurant. Es gab
Riesenportionen, und die Muscheln waren so frisch, daß sie nach nichts
schmeckten und kräftig mit Zitrone und Worcestersauce
beträufelt werden mußten. Meilan war so begeistert, daß sie noch eine Portion bestellten.
Nach dem Essen entdeckten sie im gleichen Gebäude einen Modesalon, der Kleider
führte, die Meilan gefielen. Arnold wollte ihr eins zum Geburtstag schenken,
und sie probierte über ein Dutzend aus, ohne die Ladenbesitzerin zu verärgern,
weil sie die Sachen mit Grazie vorführte und in jedem Kleid eine andere,
anmutige Frau war. Sie entschied sich für ein dunkelblaues Modell, das mit winzigen
Gänseblümchen gemustert war.
Auf der Weiterfahrt kamen sie an
einem verlassenen Campinggelände vorbei, auf dem Arnold seine Mitfahrerin über
eine Stunde mit dem BMW üben ließ. Vorwärts, rückwärts, um die Ecke. Auf dem
grasigen Untergrund konnte man nur langsam fahren, und Meilan wurde schnell mit
der Handhabung des Wagens vertraut. Arnold hatte keine Bedenken mehr, die
Anfängerin auf einer verkehrsarmen öffentlichen Straße ans Steuer zu lassen.
Vielleicht schon morgen.
Am Nachmittag kamen sie zum
Badeort Mossels Bay. Es gab ein Protea
Hotel direkt am Strand, und sie bekamen ein Zimmer mit Meerblick, aber ohne
Balkon. Meilan legte gleich ihren Badeanzug an. Der
Strand lag direkt vor der Hoteltür. Es war das erste Mal, daß sie auf diesem
Kontinent im Meer schwammen, übermütig vor Vergnügen. Das Wasser war warm und
anheimelnd, der Wind sanft. In den flachen Wellen tummelten sich Kinder mit
Gummitieren. Ein Riff weiter draußen hielt riesige Brecher und Haifische ab.
Schon vor hundertsechsundsechzig tausend Jahren, behauptete eine Informationstafel
im Hotel, hatten hier Menschen gebadet, und sich von Crayfish
und den Muscheln der Bay ernährt, Zehntausende von Jahren vor dem Erscheinen
der paläontologischen Peking-Menschen, Meilans
Vorgängern, die das Herdfeuer zähmten.
"Ich muß duschen,"
erklärte sie oben, "ich habe überall Salz auf der Haut kleben."
"In Deutschland,"
behauptete Arnold, "gehen Liebespaare meistens zusammen unter die
Dusche."
"Dann komm," sagte sie
überraschend.
Sie war in verspielter Stimmung,
und sie hatten es plötzlich eilig, sich trockenzureiben und die Fenstervorhänge
zuzuziehen. Obwohl Liebespaare das immer glauben, waren sie nicht das erste und
einzige Paar auf der Welt. Schon vor hundertsechsundsechzigtausend Jahren
hatten hier Männer und Frauen zu einander gefunden. Und es schien immer noch zu
funktionieren. Arnold hatte ununterbrochen ein starkes Glücksgefühl. Daher
dauerte es eine Weile, bis er bemerkte, daß Meilans
Atem gepreßt ging, ihr Hals verspannt war.
"Shufu
bu shufu?" fragte er.
"Bu
shufu - nicht angenehm."
Er respektierte das sofort und
wich zur Seite aus. Es war immer noch ihr Geburtstag.
In der Nacht gab ihm wieder die
Festigkeit ihrer Hüfte unter seiner Hand bis in den Schlaf hinein Selbstvertrauen.
DREIZEHNTES KAPITEL
Das Ziel ihrer Reise, das Kap der
Guten Hoffnung, war ihnen so nahe gerückt, daß sie es in einer Tagesfahrt
erreichen konnten. Der Kassierer, bei dem Arnold seine Hotelrechnung beglich,
warnte ihn, daß am Wochenende in Kapstadt Hotelzimmer schwer zu finden seien und
bot sich an, für ihn bei einem Schwesterhotel etwas zu reservieren. Es dauerte
eine Weile, bis er mit einer Skizze von Kapstadt zurückkam, in der die Lage des
Ritz Protea direkt am Antlantik
eingezeichnet war.
Hinter Mossels
Bay endete die Uferstraße. Es gab keine Möglichkeit, an der Küste bis zum
südlichsten Punkt Afrikas zu fahren, dem Kap Anguilas.
Sie mußten auf jeden Fall der N 2 folgen, die eine Abkürzung in Richtung Kapstadt
einschlug.
Nach einer Stunde Fahrt
erblickten sie das Ortsschild Heidelberg, das sie beide neugierig machte. Doch
hinter diesem romantischen Namen verbarg sich nicht viel mehr als ein Straßendorf
mit einer Feldsteinkirche.
Dafür entdeckten sie eine Straße,
die versprach, nach Norden das Küstengebirge zu überklettern und ihnen eine
wüstenähnliche Hochebene, das Kleine Karoo, zu
erschließen. Kaum hatten sie die letzte Scheune von Heidelberg hinter sich gelassen,
da verwandelte sich der Weg in eine Schotterpiste. Arnold hielt an, um Meilan
das Steuer zu überlassen. Auf dieser Strecke konnte man nicht viel falsch
machen. Aber nach ein paar Kilometern kamen sie wieder auf Asphaltbelag, und
die Straße begann sich in vielen Kurven einen hohen Bergpaß hinaufzuschlängeln.
"Halt an," sagte
Arnold, "wir haben das Kurvenfahren noch nicht
geübt. Ich übernehme."
"Wir üben es jetzt,"
sagte Meilan.
Arnold überlegte, den
Zündschlüssel aus dem Schloß zu ziehen. Aber bei einem Wagen mit Rechtssteuerung
sitzt der Beifahrer links, das Steuer befindet sich vor dem rechten Sitz, und
man muß von links aus ganz um die Lenksäule herumfassen, vor dem Leib des
Fahrers, ohne überhaupt die Position des Zündschlosses sehen zu können. Während
jeder Sekunde handgreiflicher Meinungsverschiedenheiten legt ein fahrender
Wagen fünfzehn Meter zurück. Und das auf kurviger Bergstrecke mit einem Abgrund
links und einer Felswand rechts. Zu gefährlich.
Das Hauptproblem an Meilans Anfängerstil war, daß sie beim Fahren zu große
Lenkradausschläge machte, die den Wagen um etwa einen halben Meter von seiner
Ideallinie nach links oder rechts abweichen ließen. Diese Abweichungen konnte
Arnold vermindern, indem er das Lenkrad mit der linken Hand stabilisierte. Die
rechte brauchte er, um mit der Handbremse die Geschwindigkeit zu reduzieren.
"Es geht doch sehr
gut," sagte Meilan. Da sie rechts saß, konnte sie nicht sehen, wie nahe
die linke Wagenseite manchmal den steinernen Begrenzungspfeilern am Straßenrand
kam. Wegen eines Kratzers im roten Lack machte Arnold sich keine Sorgen. Aber
was, wenn das Karosserieblech in einen Reifen gepreßt würde? Was mußte und was
konnte er aus Verantwortung für die Partnerin tun?
"Du machst das immer
besser," lobte er, und sie begann etwas entspannter zu steuern. Er sagte
ihr metergenau, wo sie stärker bremsen mußte, und wo sie wieder ein wenig Gas geben
durfte. Je länger es gut ging, desto deutlicher näherte sich Arnolds Herzschlag
wieder seinem Normalwert an. Hinter der Paßhöhe führte eine lange Gerade in das
Kleine Karoo hinunter, und dann ging es durch ein
Wüstenhochtal in Richtung Kapstadt. Sie schienen das einzige Fahrzeug zu sein,
das diese Straße benutzte. Das karge Land besaß eine Eintönigkeit, in der alles
Wiederkehr des ewig Gleichen war. Ein auffälliges Gebäude, das sie schon von
weitem sahen, erwies sich als die Brennerei, in der der von Arnold so geschätzte
KWV-Weinbrand hergestellt wurde. Es stand wie ein Maurenschloß
in der Wüste. Meilan war nicht dafür, daß er ein paar Flaschen zum Fabrikpreis
erstand. Sie weigerte sich, an der Destillerie anzuhalten.
Ein Wegweiser gab ihnen die Wahl,
nach rechts zur Autobahn Johannesburg-Kapstadt, der Hauptverkehrsader Südafrikas,
oder nach links zur N 2 weiterzufahren. Sie gaben ihrer alten Weggefährtin den
Vorzug. Hinter der Gabelung wurde die Landschaft grüner, die Straße breiter,
und im Rückspiegel leuchteten die Blinksignale überholender Lastautos. Meilan,
die Fahrerin ohne Erfahrung, steuerte jetzt den Wagen drei Stunden ohne eine
Minute Pause.
"Ich habe Hunger,"
sagte Arnold.
Meilan hielt am ersten Wirtshaus,
das sie sah. Es war die Alte Mühle in Swellendam, die
von außen und innen wirkte, als sei sie aus dem Gemälde eines barockzeitlichen
holländischen Meisters hierher versetzt worden. Nach dem Essen übernahm Arnold
wieder das Steuer. Es waren auf der N 2 noch zweihundertvierzig Kilometer bis
Kapstadt. Als sie zwei Stunden später an einem Rastplatz hielten, um den Blick
auf den wieder in der Ferne schimmernden Ozean auszukosten, flackerten die vier
Blinklichter des BMW so heftig, wie zuletzt vor dem Hintereingang des Hotels Esplanade in East London. Arnold drückte auf den Knopf des
Warnblinklichts am Armaturenbrett. Nichts änderte sich. Er ließ den Motor an
und betätigte den Schaltknopf erneut. Die gelben Warnleuchten blinkten unverändert
schnell und machten dabei ein klickendes Geräusch. Auch wenn er den Richtungsanzeiger
nach rechts oder links stellte, flackerten alle vier Lichter gleichzeitig.
"Laß uns fahren," sagte
Arnold, "wer weiß, was noch passiert."
Schon beim Losfahren entdeckte er
den nächsten Defekt. Die elektrischen Fensterheber funktionierten nicht. Arnold
konnte das offene Fenster in der Fahrertür nicht schließen. Eine mechanische
Kurbel gab es nicht. Hirnrissig nannte man so etwas in Bayern. Arnold würde auf
die nächste Hauptversammlung gehen und dem Vorstand der Firma die Entlastung verweigern.
Als Berufsanfänger hatte er hundert BMW-Aktien gekauft, die sich auf wundersame
Weise vermehrt hatten. Er war jetzt beinahe Großaktionär.
Die Abfahrt nach Kapstadt war
lang und schwungvoll, wie die Abfahrt der A 3 aus dem Spessart nach Offenbach.
Der Fahrtwind toste durch das offene Fenster. Meilan wickelte sich auf Arnolds
Vorschlag einen dünnen Schal um den Kopf, der sie wie eine in Seidenpapier
verpackte Orange aussehen ließ. Kapstadt hatte eine unübersichtliche City mit
chaotischem Verkehr, in dem niemand auf ihre Blinklichter achtete. Nach der
Kartenskizze fanden sie den Weg zum Hotel. Arnold schleppte das Gepäck in die
Halle und ließ sich den Weg in die Hotelgarage erklären.
Als er den Motor abgestellt
hatte, blinkten die Warnleuchten immer noch weiter. In Kürze würden sie die
ganze Batterie leergesogen haben.
"Bitte warte einen
Augenblick," sagte er zu Meilan, die neben dem Gepäck in der Lobby saß,
"wir müssen erst die Batterie abklemmen." Er bat einen Hoteldiener,
ihn mit einer Zange in die Garage zu begleiten, um die Batteriekabel von den
Polen zu ziehen. Er öffnete die Motorhaube. Er wußte genau wo die Batterie saß.
In den sechzehn Lebensjahren seines Achtzehnhunderters hatte er oft genug
Starthilfe gegeben oder in Anspruch genommen. Aber dieser Wagen besaß keine
Batterie. Erst nach dem Studium des Wagendiagramms fand Arnold heraus, daß es
im Bereich des zu klein geratenen Kofferraums einen Aufenthaltsraum für die
Batterie gab. Der Hausdiener hatte kräftige schwarzbraune Handgelenke, und es
gelang ihm die Manschetten von den Polen zu ziehen. Die Blinker verstummten.
Meilan war die ganze Zeit in
ihrem Sessel in der Hotelhalle sitzen geblieben, ohne sich um die Anmeldung zu
kümmern. Der Rezeptionist, dem Arnold seinen Namen
nannte, blätterte in seinen Unterlagen und machte ein verlegenes
Gesicht: "Es tut mir leid, ich habe leider nur einen Twin-Room
frei, ein Zimmer mit getrennten Betten."
"Das ist meiner Frau
bestimmt recht."
Der Mann, der Meilan die ganze
Zeit vor Augen gehabt hatte, schien das nicht recht zu glauben, aber er war
erleichtert, daß seine Gäste keine Schwierigkeiten machten. Das Hotel hatte
zweiundzwanzig Stockwerke, ganz oben befand sich ein Drehrestaurant von dem aus
man einen Panoramablick auf Kapstadt und den Atlantik hatte. Ihr Zimmer war im
elften Stock.
Auf dem Schreibtisch lag das
Telefonbuch von Kapstadt. Arnold schlug die Nummer der BMW Generalvertretung
auf. Ein Anrufbeantworter teilte mit, daß man ab nächsten Montag wieder zu sprechen
sei. Auf einen Notdienst kein Hinweis. Bei allen Vertragswerkstätten liefen
vergleichbare Bänder. Als nächstes probierte es Arnold mit der Firma, bei der
er den Wagen gemietet hatte. Deren Anrufbeantworter informierte, daß ein
Vertreter am Flughafen zu erreichen wäre. Und dort fand Arnold einen Menschen,
der ihm helfen wollte.
"Ist es Ihnen recht,"
fragte er, "wenn ich Ihnen morgen früh um neun einen Austauschwagen ins
Hotel bringe?"
"Ich brauche keinen anderen
Wagen, es muß nur ein Relais ausgewechselt werden."
"Es ist uns lieber, Ihnen einen
frisch durchgecheckten Wagen zu geben. Wir ändern einfach die Wagennummer in
Ihrem Vertrag. Das machen wir immer so."
Jetzt erst hatte er Zeit sich
seiner Begleiterin zuzuwenden. Sie wollte sofort den Atlantik sehen. Die Küste
war nur zweihundert Meter entfernt. Der mehrspurige Verkehr machte das
Überqueren der Uferstraße schwierig. Doch dann übertönte das Brausen der Brandung
den Motorenlärm. Die Sonne war bereits untergegangen, und über dem hellen
Farbband des Abendrots türmten sich schwarze Wolken auf. Ein Westwind, der sie
frösteln machte, trieb die breiten Schaumbahnen der Wellen an den Strand, eine
Reihe hinter der anderen, eine Herde von Schimmelhengsten mit fliegenden Mähnen.
Sie sahen keinen die Schwingen breitenden Albatros, keine Möwen, keine
Robbenköpfe, nicht einmal den Umriß der Robbeninsel, auf der Mandela, der neue
Präsident des Landes, so viele Jahre als politischer Gefangener verbracht
hatte.
Auf dem Rückweg zum Hotel stießen
sie auf das Restaurant "Swiss Chalet".
Meilan wollte keinen Käsefondue probieren, aber sie aß sie zum ersten Mal in
ihrem Leben Berner Rösti, die ihr so gut schmeckten, daß Arnold ihr noch die
Hälfte seiner Portion überließ.
Er hatte es eilig, ins
Hotelzimmer zurückzukehren. Er wollte sie in seine Arme nehmen, aber sie wehrte
ihn entschieden zurück: "Heute nicht."
"Ich bin innerlich noch so
unruhig," sagte er, "ich brauche das Gefühl deiner Nähe."
"Wenn ich nein sage, habe
ich nein gesagt."
"Warum machst du daraus eine
Grundsatzgeschichte? Ich möchte, daß wir uns einigen."
"Es gibt nichts zu einigen.
Ein Nein ist ein Nein."
Er sah die Kampfeslust in ihren
Augen. Er hatte im Beruf genug mit aggressiven Kollegen und Chefs zu tun. Ihn
störte nicht ihre Verweigerung, die verständlich war angesichts ihres
Fahr-Abenteuers, das sie bestimmt erschöpft hatte. Ihn erstaunte die Härte in
ihrer Ablehnung. Gingen Liebende so miteinander um? Auf einmal war er
überzeugt, daß sie wirklich ein enttäuschtes Gesicht gemacht hatte, als er in
East London den Krampf im Bein bekam. Es war keine Sinnestäuschung gewesen. Sie
war kein guter Reisekamerad.
Vom Augenblick an, als er auf der
Treppe zum Zollamt seine Verabredung mit Wehrmeier vergaß, hatte er das Gefühl
gehabt, für sie etwas Besonderes zu sein, jemand, auf den sie ihr ganzes Leben
gewartet hatte. Aber vielleicht war das nichts Persönliches gewesen, nur ihr
chinesischer Instinkt, ein gutes Geschäftsklima zu schaffen, ein Verhalten, das
die Voraussetzung dafür war, daß zwölfhundert Millionen Menschen auf engem Raum
friedlich zusammenleben konnten. Wo das ganz Private begann, war sie weniger
anpassungsfähig.
Ihr Nein von heute war ein
Vorbote für endlose Uneinigkeiten in einem künftigen Zusammenleben. Das
Sprichwort mußte richtig heißen: "Ein Tag Mann und Frau, hundert Jahre
Streit." Wollte er sich dem ausliefern?
"Ich mache dir einen
Vorschlag," sagte er wütend. "Wir haben diese Reise nach Kapstadt
zusammen gemacht, und es war eine schöne Reise. Jetzt sind wir am Ziel. Du hast
Probleme mit mir, ich habe Probleme mit dir. Vielleicht ist es das Beste, ich
bringe dich morgen zum Flughafen und bezahle dir einen Rückflug nach Johannesburg.
Ich fahre alleine nach Namibia weiter und fliege von Windhoek
nach Deutschland zurück."
"Das ist ein guter
Vorschlag," erwiderte sie, ohne einen Augenblick zu überlegen.
"Ich muß noch mal an die
Luft," seufzte er. "Ich kann jetzt nicht ruhig sitzen."
"Nimm den Zimmerschlüssel.
Ich schlafe bestimmt schon, wenn du zurückkommst."
Er fuhr hinunter, um sein vom
Ärger erhitztes Gesicht in den kalten Wind zu halten, der über die Wasserwüsten
des Südatlantiks herangestürmt kam. Plötzlich stand er vor dem Swiss Chalet, in dem noch Hochbetrieb herrschte. Er fand einen
Platz an der Theke. Der Pächter erkannte ihn wieder und schien über die Begegnung
erfreut zu sein. Er ließ sich in ein langes Gespräch über Südafrika verwickeln.
Arnold bestellte eine Flasche Chardonnay, die sie gemeinsam
leerten. Der Pächter riet ihm zu einer Fahrt in die Namib-Wüste.
Kurz vor der Grenze, in einem Ort namens Springbok,
gäbe es ein von einem Deutschen geführtes Hotel, wo man abends unter freiem
Himmel sitzen und die trockene Wüstenluft genießen konnte. Nichts auf der Welt
ließe sich damit vergleichen.
Als er ins Hotel zurückkehrte,
lag ein weißer Briefumschlag in seinem Schlüsselfach.
"Ihre Telefonrechung,"
erklärte der Nachtportier.
"Soll ich gleich
bezahlen?"
"Es ist nur zu ihrer
Information."
"Darf ich mal sehen?"
Es war ein Computer Printout. Die Zimmernummer stimmte. Sein Name war
automatisch als der des gemeldeten Gastes aufgeführt. Die Zeit entsprach der seines
Aufenthaltes im Swiss Chalet. Die Vorwahl für
Johannesburg kannte er. Die große Zahl der Anrufe sprach dafür, daß es für
Meilan in Johannesburg Probleme gab.
Als er das Zimmer aufschloß,
wußte er nicht, welches Bett sie gewählt hatte. Er machte kurz das Licht an,
auch um die Lage der Badezimmertür zu erkennen. Ihre Hand zuckte vor ihre
Augen. Mit schlafschwerer Stimme sagte sie: "Gute Nacht. Schlaf gut."
ZWÖLFTES KAPIEL
"Ich habe über alles
nachgedacht," sagte Meilan beim Frühstück. Arnold hatte mit Absicht nicht
den ersten Schritt getan, um ihr keine Angriffsfläche zu bieten. Aber sie war
versöhnlich gestimmt.
"Ich finde, wir haben uns
diese Reise vorgenommen, weil wir ganz Südafrika sehen wollten, und nicht bloß
bis Kapstadt fahren. Was man sich vorgenommen hat, das soll man auch ausführen.
Wir haben gerade die Hälfte der Reise hinter uns. Laß uns auch die zweite
Hälfte gemeinsam unternehmen. Was wir dann in Johannesburg tun, ob jeder seinen
eigenen Weg geht, oder ob - das können wir dann entscheiden."
"Einverstanden," sagte
Arnold."
Sie griff nach seiner Hand und
drückte sie.
Der Austauschwagen, der ihnen
gebracht wurde, glich dem bisher benutzten wie ein roter Gartenzwerg dem anderen.
Nur die Kilometerzahl auf dem Tacho war niedriger. Arnold hatte den Wagen lieb
gewonnen, der ihn durch so haarsträubende Situationen getragen hatte, und es
irritierte sein Treuegefühl, daß man den Partner all dieser Abenteuer einfach
austauschen konnte, ohne überhaupt den Wechsel zu merken. Nach Probefahrt und Vertragsänderung legte Arnold unter dem Vorwand, alle
Fächer des alten Wagens zu durchsuchen, eine Erinnerungsminute ein, um sich die
besonderen Augenblicke der Verläßlichkeit des Gefährten zu vergegenwärtigen:
Der Bocksprung auf der Autobahn nach Durban, als der
Verrückte sie rammen wollte, das Videospiel mit den Ziegenherden vor Umtata, und die selbstmörderische Fahrstunde auf der
Kurvenstrecke ins Kleine Karoo.
"Thank
you, Bud," sagte
Arnold und klopfte abschiednehmend auf das Lenkrad.
Mit dem Austauschwagen
unternahmen sie in Kapstadt das übliche Touristenprogramm. An der Talstation
der Tafelberg-Seilbahn fanden sie ohne Mühe einen Parkplatz. Nur wenige Leute
standen unentschlossen vor der Kasse, an der ein Schild hing: "Betrieb wegen
Wind eingestellt". Der Tafelberg ragte majestätisch in den Himmel, so
hoch, daß man den Kopf in den Nacken legen mußte. Ein Wegweiser lockte zu einem
Wanderweg. Aber bei 1066 Metern Gipfelhöhe wäre eine Besteigung kein Vormittagsausflug,
sondern eine Tagestour. Sie fuhren zurück an den Atlantik und erreichten ganz
in der Nähe ihres Hotelhochhauses die Küstenstraße. Bis zum Kap der Guten Hoffnung
waren es noch achtzig Kilometer entlang einer dramatischen Steilküste. Die
südliche Hälfte der Kaphalbinsel war Naturschutzgebiet. Sie zahlten am Tor die
Eintrittsgebühr, und Arnold überließ Meilan den Fahrersitz. Auf dem 77 Quadratkilometer
großen Gelände durfte man nur Schritt fahren, um die wild lebenden Tiere nicht
zu erschrecken, darunter mehrere Gazellenarten, wie Springbock und Hartebeest. Die Tiere waren scheu und wollten nicht von den
Besuchern gefüttert werden. Meilan fand einen Parkplatz am Fuß der
Felspyramide, die als Cape Point bekannt ist. Sie kletterten zum alten
Leuchtturm hinauf und sahen im Süden, Osten und Westen die Unendlichkeit des
Ozeans. Der Ort wirkte wie das Ende der Welt. Hinter den hohen Brandungswellen
lagen die Wracks gestrandeter Schiffe im klaren Wasser. Der Wind war so stark,
daß er ihnen die Haare schmerzhaft um den Kopf schlug. Der Atlantik im Westen
war tiefblau mit weißen Schaumkronen, das Meer im Osten, das in den Indischen
Ozean überging, smaragdgrün. Auf dem Rückweg sahen sie große Proteabüsche, deren Blüten an vergoldete Artischocken
erinnerten, eine fröhliche Erscheinung in der grün-braunen Heidelandschaft des
Naturschutzgebietes.
Der Wind machte sie hungrig. In
einem Touristenrestaurant an der Büffel-Bucht wurden wie am Fließband Riesenportionen
von panierten Schweineschnitzeln mit Pommes frittes
herangetragen. Nach dem Essen fuhr wieder er. Sie wählten den Weg an der Ostküste
und mußten dann ganz Kapstadt durchfahren. Arnold fand es schwer, in der von
Bergen umstellten und um Klippen herumwuchernden City die Orientierung zu
behalten. Der Dreiklang von Bergen, Meer und Geschäftshäusern erinnerte Arnold
an Hongkong, wie es vor einem Vierteljahrhundert war.
"Stell dir vor," sagte
Meilan, "ich bin nie in Hongkong gewesen, dabei habe ich nur achtzig
Kilometer entfernt gewohnt."
Bei der Ankunft im Hotel ließ
Arnold für das Abendessen einen Tisch im Drehrestaurant reservieren. Sie fuhren
hoch, als die Dämmerung fiel. Es war der richtige Augenblick. Wolken und Berge
wurden dunkler, die Lichter der Stadt erstrahlten immer heller. Der Teil des
Restaurants, der sich drehte, war ein Außenring, auf dem Tische und Stühle
standen. Die Fensterfassade stand fest und ebenso der Raumkern mit den Liften,
Wirtschaftsräumen und den Tischen, auf denen das Selbstbedienungsbuffet
aufgebaut war. Durch diese Konstruktion änderte sich nicht nur der Ausblick auf
Stadt und Ozean ständig, sondern auch der Abstand zu den Selbstbedienungstischen
mit ihren Delikatessen. Man konnte auch a la Carte bestellen, aber sie fanden
beide, daß das Büffet den besten Gegenwert darstellte. Meilan holte sich eine
Auster nach der anderen.
"Sie kommen hier nicht
frisch aus dem Meer," warnte Arnold, "wir sind in einer
Großstadt."
"Wir haben den ganzen Tag
nichts anderes als das Meer gesehen," widersprach sie.
Er bestellte eine Flasche Chardonnay der Winzergenossenschaft Swellendam,
und sie trank soviel mit, daß er noch eine zweite kommen ließ. Als sie auf ihr
Zimmer hinunterfuhren, waren sie beide beschwingt und guter Dinge.
VIERZEHNTES KAPITEL
Beim Aufstehen war ihr schlecht.
Möglicherweise Austernvergiftung. Sie trank nur schwarzen Kaffee und Mineralwasser.
Einen Arzt wollte sie nicht konsultieren. Auch keinen Ruhetag einlegen. Sie
wollte so schnell wie möglich weiterreisen. Wäre im Kofferraum Platz für zwei
Koffer gewesen, hätte sie sich auf die Rückbank legen können, aber so kauerte
sie sich auf den Beifahrersitz, die Fäuste auf den Oberschenkeln geballt.
Arnold fand gut aus der unübersichtlichen Stadt heraus. Die Straße, die nach Springbok führt, hielt etwa fünzig
Kilometer Abstand zum Atlantik. Wer das Meer sehen wollte, mußte eine Stichstraße
hinunterfahren und auch wieder zurückkommen. Arnold wollte die Wüste. Gegen Mittag
hielt er an einem Minimarkt neben der Autobahn, um Sandwiches
und Getränke einzukaufen.
"Kannietverstaan,"
sagte die blonde Verkäuferin. Arnold wiederholte seinen Wunsch auf Deutsch, und
jetzt verstand sie ihn. Anscheinend war dies ein rein burisches Siedlungsgebiet,
in das Englisch als Umgangssprache noch nicht vorgedrungen war.
Auf der Weiterfahrt ließ Meilan
immer wieder eine Kassette mit hymnisch übersteigerter Marschmusik aus der
Kulturrevolution laufen, wie sie in den späten Sechziger Jahren in China
allgegenwärtig gewesen war. Als sie zum dritten Mal "Bei der Seefahrt
kommt es auf den Steuermann an" abspielte, fragte er: "Du hast so
einen entwickelten Musikgeschmack. Wie kommt es, daß dieses Zeug dir nicht auf
die Nerven geht?"
Sie sah ihn erstaunt an, und
bevor sie etwas sagen konnte, füllten sich ihre Augen mit Tränen.
"Diese Musik war die
einzige, die ich in meiner Kindheit gehört habe. Es gab keine andere Musik, die
ich lieben konnte. Ich habe sie von ganzem Herzen geliebt, und ich liebe sie immer
noch. Sie ist ein Teil von mir, ein Teil meines Lebens, auf den ich nie verzichten
könnte."
"Das verstehe ich. Es geht
mir bei Musikstücken aus meiner Kindheit genauso. In meinem Fall war das Beethoven."
Er stellte sich vor, daß sie mit
Hilfe dieser Musik versuchte, sich emotional in einen Winkel ihres früheren
Lebens zurückzuziehen, in dem es für sie noch nicht das Problem gab, in verbotene
Schmuggel-Geschäfte verwickelt zu sein. Vielleicht war eine verdorbene Auster
nicht die einzige Ursache dafür, daß sie sich schlecht fühlte.
Unternahmen sie diese Fahrt als
Reise zu sich selbst? Oder half er Meilan bloß, sich
vor Verfolgern in Sicherheit zu bringen, die ihren Schmuggel-Touren auf die
Schliche gekommen waren?
Als die Kassette zu Ende war,
kramte sie in ihrer großen Plastiktüte mit Musikvorräten und legte eine
Symphonie von Haydn auf. Die Harmonien des Wiener Meisters verblaßten bald vor
der Dissonanz der Wüstenlandschaft, in die sie hineinfuhren.
Nackt abgeschliffene Granitwülste mit über hundert Meter hohen Steilwänden
wechselten mit Talmulden voll vertrockneter Sträucher. Das Gebiet war ein
Hochland, höher als der Gipfel des Tafelberges.
Springbok, das sie nach sechs Stunden
Fahrt erreichten, erwies sich als ein langweiliges Städtchen mit breiten
Straßen und niedrigen Häusern. Das Hotel, das ihnen der Schweizer empfohlen
hatte, entdeckten sie nicht. In ihren Augen fehlte es dem Ort an Romantik. Auf
der Landkarte gab es 50 Kilometer nördlich von Springbok
einen Ort mit deutschem Namen, Steinkopf. Dort müßten sie ein deutsches Gasthaus
finden.
Meilan wollte immer noch nicht
ans Steuer. So waren sie in zwanzig Minuten in Steinkopf, das sich als reine Schwarzen-Siedlung entpuppte. Winzige Gärten mit kleinen
Einfamilienhäuschen. Kein Slum. Einen Gasthof gab es zu Meilans
Freude nicht. Im Zentrum von Steinkopf zweigte eine asphaltierte Straße nach
Port Nolloth am Atlantik ab, dem größten Hafen nördlich
von Kapstadt. Arnold war schon sechshundert Kilometer gefahren. Und jetzt noch
hundert? Die Straße war gut ausgebaut. Außer ihnen war niemand unterwegs.
Arnold drückte dem BMW aufmunternd aufs Gaspedal, und nach wenigen Minuten
stand der Tacho auf zweihundert. Das war natürlich hochgestapelt, Djia, nicht Dschen, aber wenn man
fünfzehn Prozent von der Anzeige abzog, war es immer noch beachtlich. Ohne zu
flattern und ohne zu trampeln hielt der Wagen seine Spur, als sei das die
einfachste Sache der Welt. Zum erstenmal in Südafrika hatte Arnold richtig
Freude am Fahren. Um Links- oder Rechtsverkehr mußte er sich nicht kümmern, da
er der einzige Straßenbenutzer war. Deshalb fuhr er genau in der Mitte und
schnitt alle Kurven in der Ideallinie. Viel schneller als ihm lieb, waren sie
in Porth Nolloth.
Direkt vor der Küste gab es
schöne, wachsgelbe Sanddünen, die mit Stacheldraht eingezäunt waren und das Warnschild
trugen: "Diamantensperrgebiet. Betreten verboten." Dann baute der
Atlantik eine Nebelwand vor ihnen auf, und als sie wieder in die Sonne kamen,
war es kalt und windig, wie an der belgischen Nordseeküste im Frühjahr.
Von einem großen Hafen keine
Spur. Ein paar Fischkutter, verrostete Bagger, ein Patrouillenboot der
Küstenwache. Direkt an der Uferstraße lag ein in die Jahre gekommenes, stattliches
Hotel. Die Nebelbank, die sie durchfahren hatten, war eine Zeitmaschine gewesen,
die sie in die erste Hälfte des Jahrhunderts zurückversetzt hatte. Sie sahen
die Welt in den Jahren vor ihrer Geburt. Das Hotel hatte noch Zimmer frei. Es
war ein altmodisches Haus, in dem Bad und Toiletten separat am Ende des Flures
lagen. Meilan wollte ein Zimmer für sich, weil ihr nicht gut war. Hinter der
ersten Tür, die sie aufschlossen, befand sich ein großer Raum zur Meerseite mit
zwei breiten Liegen. Eine verglaste Veranda war über die ganze Breite des
Zimmer vorgebaut.
"Hier schlafe ich,"
sagte Arnold spontan. "Wenn du willst, kannst du das zweite Bett benutzen,
sobald es dir besser geht."
Sie schüttelte den Kopf. Das
andere Zimmer war viel kleiner, hatte nur ein Fenster, keine Veranda und ging
zu Seite hinaus.
"Das reicht für mich,"
sagte Meilan. Er trug ihr den grünen Koffer hinein und ließ sie allein.
Nachdem er ausgepackt hatte,
suchte er die Toilette und stieß im Flur auf Meilan, die mit ihrer Zimmertür
heftig wedelte. Gleichzeitig war das Fenster weit geöffnet.
"Was ist los?" fragte
er.
"Hier hat ein Schwarzer
übernachtet. Der Geruch muß raus."
"Bei mir ist ein Bett
frei."
"Nein danke."
In seinem Zimmer entdeckte Arnold
am Ende der langen Veranda einen mit blauer Ölfarbe angestrichenen Schreibtisch,
der etwas romantisch Verführerisches hatte. Wer sich hier niederließ, konnte
erst wieder aufstehen, wenn er ein literarisches Werk vollendet hatte. Er holte
sein Time-System Tagebuch und legte es auf die mit
Sandkörnern bedeckte Tischplatte. An einem solchen Schreibtisch mußte Marcel
Proust in Deauville gesessen haben, den Blick auf den
Atlantik gerichtet, in der Erwartung, daß unten jeden Augenblick Albertine auf
ihrem Fahrrad vorbeikäme.
Die leichten Schritte, die er auf
den Holzdielen der Veranda hörte, waren Meilans.
"Was machst du?" fragte
sie.
"Ich schreibe einen Roman.
Die Geschichte unserer Liebe."
"Ist das ein Thema?"
"Für mich das wichtigste
meines Lebens."
"Du liebst Autos mehr als Frauen."
"Das behauptet man von allen
Deutschen. Aber es stimmt nicht. Ich lasse dich morgen den ganzen Tag fahren,
wenn du willst."
"Weißt du schon, wie dein
Roman heißen soll?"
"Ich habe noch keinen Titel.
Fällt dir etwas ein?"
"Nenn ihn "Brennende
Erwartung". Sie trat hinter ihn und legte das Kinn auf seinen Scheitel.
Die Fensterscheiben waren von
außen so mit Meersalz beschlagen, daß man den Sonnenuntergang nur als undeutliches
Glühen wahrnahm. Meilan schob eine Scheibe einen Spalt zur Seite und versuchte
das Salz mit einem Papiertaschentuch fortzureiben. Der Erfolg war, daß tausend
rote Kreise auf dem Glas erschienen. Als sie das Fenster ganz öffnete, raubte
ihnen der Seewind den Atem.
Das Abendessen nahmen sie in
einer Scheune ein, die wie eine Seeräuberhöhle wirkte, vollgestopft mit dem Messingzierat
gestrandeter oder abgewrackter Schiffe. An den Nachbartischen saßen bärtige
Gesellen in Seemannspullovern und alterslose Frauen mit braungegerbten Armen
voller Goldschmuck. Meilan hatte schon wieder Lust auf Hummer, der hier Lobster genannt wurde und seine letzten Lebensstunden in einem
Seewasseraquarium verbrachte. Arnold bestellte für sich auch einen, aber nach
kreolischem Vorbild als Ragout.
Beim Rückweg in der Dunkelheit
verfehlten sie den Plattenweg zum Hotel und wateten durch feinen Sand, der
weich wie Pulverschnee war. Im Flur zwischen den Zimmertüren gab Meilan ihm einen
Kuß auf die Wange. Er wollte noch einen zweiten, aber sie macht sich los,
knallte ihre Zimmertür zu und schob den Riegel von innen vor.
Als er im Bett lag und nicht
einschlafen konnte, weil er Meilan vermißte, holte er sich die Kissen aus dem
Nachbarbett und plazierte sie so, daß sein Arm auf ihnen ähnlich erhöht ruhte,
wie auf Meilans Hüfte. Er fühlte sich wie ein kleiner
Junge, der seinen Teddybär in den Arm nimmt. Als Kind hatte er keine Ahnung gehabt,
daß sein Teddy nur ein Vorläufer war, der später durch eine lebende Person
abgelöst werden sollte. Jetzt war er erwachsen und hatte mal eine richtige
Frau, mal einen Kopfkissen-Teddy im Arm.
FÜNFZEHNTES KAPITEL
Beim Auschecken im Strandhotel
bestand Meilan darauf, ihre Telefonrechung selbst zu
bezahlen. Sie faltete die Liste mit den angerufenen Nummern gleich zusammen und
streckte sie in ihre Handtasche.
Nachdem sie das Auto beladen hatten,
überließ Arnold ihr gleich den Fahrersitz. Sie fuhr vorschriftsmäßig auf der
linken Seite und nie über achtzig. Ein einziges Fahrzeug begegnete ihnen auf
den ersten hundert Kilometern, ein Geländewagen mit drei Mann Besatzung. Der
paramilitärischen Bekleidung nach zu urteilen, gehörten sie zum Werkschutz des
Diamantensyndikats.
Als sie nach Steinkopf kamen, bog
Meilan auf die Vorfahrtsstraße ab, ohne das Tempo zu verringern. Der Wagen kam
gefährlich ins Schleudern, hielt sich aber auf den Rädern.
"Was war das?" fragte
sie erschrocken.
"Fahr zurück und probier es
noch einmal."
Als sie wieder mit vollem Tempo
auf das Kreuzungsschild zuraste, rief er: "Stop!"
Sie brachte den Wagen mitten auf
der Kreuzung zum Stehen.
Sie übte noch zweimal, dann hatte
sie es begriffen.
"Jetzt mußt du den Wagen nur
noch wenden."
"Wieso?"
"Wir wollen nicht nach Springbok zurück, oder?"
Er breitete die Straßenkarte auf
dem Lenkrad aus. "Unser Tagesziel in Richtung Johannesburg ist der
Verkehrknotenpunkt Upington am Oranje-Fluß.
Es gibt zwei Verbindungen. Die Südroute über Springbok
und Puffotter. Und die Nordroute über Grünau und Karasburg
in Namibia. Diese Strecke führt mitten durch die Kalahari. Das ist viel
eindrucksvoller."
"Ich fahre nicht nach
Namibia.
"Was hast du dagegen?"
"Wir haben kein Visum."
"Ich als Deutscher brauche
kein Visum für das ehemalige Deutsch Südwestafrika, und du mit deiner
südafrikanischen Daueraufenthaltsgenehmigung auch nicht. Notfalls stempeln sie
dir ein Transitvisum in den Paß."
"Namibia ist ein
unberechenbarer Polizeistaat."
"Wer sagt das?"
"Ich lebe lange genug in
Afrika. Ich fahre nicht nach Namibia. Wenn du willst, steige ich aus und warte
auf einen Bus."
"Du bist die Fahrerin heute.
Das war abgemacht. Der Fahrer entscheidet, welche Route wir nehmen."
"Danke. Wenn ich entscheiden
darf, ist es die Südroute." Sie fuhr los in Richtung Springbok,
ohne den Blinker zu betätigen.
Da sie am Steuer saß, konnte er
die Landschaft stärker auf sich einwirken lassen als am Tag zuvor. Am Anfang
war es eine Felsenwüste mit Granitbuckelbergen und Steinhaufenbergen. Sie sahen
kein Kraftfahrzeug, kein wildes Tier. Wo Sandboden auftrat, konnte er keine
Wanderddünen bilden, weil er vollständig überwachsen war mit Gras und Euphorbienbüschen. Doch die Pflanzen waren so vertrocknet,
daß sie wie ausgebleichte Skelette wirkten. Meilan saß über sechs Stunden am
Steuer.
An einer Tankstelle kurz vor Upington übernahm er. Er ließ den Wagen auftanken, aber
nicht bis zum letzten möglichen Liter, wie das die Tankwarte hier gerne versuchten.
Upington war eine Geschäftsstadt ohne Charme. Die
Luft war angefüllt mit dem Sandstaub der nahen Wüste und dem beißenden Rauch
abgeflammter Felder, die vom Wasser des Oranjeflusses
lebten.
In Upington
gab es ein Protea-Hotel direkt am Oranje.
Es war ein unansehnlicher Fluß mit schlammigem Wasser. Arnold fand einen
Parkplatz im Innenhof des Hotels. Der Wagen stand mit den Hinterrädern etwas tiefer
als vorne, deshalb zog er die Handbremse fest an. Meilan wollte wieder
getrennte Zimmer. Arnold machte ein ablehnendes Gesicht. "Wir haben
vereinbart, schon vor meinem Abflug in Frankfurt, daß wir gemeinsame
Hotelzimmer nehmen. Daran halten wir uns, bis wir in Johannesburg sind."
"Es hat mir gestern so gut
getan. Laß uns heute noch mal eine Ausnahme machen. Ich besuche dich vor dem
Essen auf deinem Zimmer. Sagen wir um sechs. Dann hast du keinen
Nachteil." Ihr Lächeln löschte seinen Widerstand aus.
Vor dem Spiegel seines
Badezimmers föhnte er sein frischgewaschenes Haar. Es hatte eine seidenweiche
Struktur, und unter der Sonne Afrikas hatte es einen noch helleren Goldton angenommen.
Meilan ließ es manchmal spielerisch durch ihre Finger gleiten. Gestern Abend
zuletzt, am blauen Schreibtisch. Als Fahrschülerin und Fahrlehrer waren sie ein
gutes Team gewesen, aber auf dem Bougainvillea-Weg in
Westbrook hatte sie sich nicht auf seine Hilfe
stützen wollen. Vielleicht weil sie ahnte, daß er ihre Geschäftsideen nicht teilte?
Als Meilan
eintrat, machte sie ein entschlossenes Gesicht. Sie trug ein rotes Tuch in der
Hand. Er bot ihr Obstsaft an. "In wenigen Tagen sind wir in Johannesburg.
Hast du schon Pläne, was du dann tust?"
"Ich habe telefoniert. Die
Lage scheint sich zu entspannen."
"Will man dich nicht als
Nachfolger für deinen Chef?"
"Die beiden Container, die
beschlagnahmt wurden, einer in Durban - als wir dort
waren, deshalb bin ich auch nicht zum Hafen gefahren, der andere in Gaborone, sind wieder frei gegeben. Man hatte mir geraten,
bis dahin den Kopf ganz tief zu halten. So gesehen, war es ein Glück für mich,
daß mein Chef mich rausgeschmissen hat."
"Er dich?"
"Ja sicher, weil ich nicht
alles mitgemacht habe."
"Geschäftlich oder
privat?"
"Er hatte völlig den
Verstand verloren. Er glaubte, ich müßte ihm dankbar sein, weil er mein Chef
war. Dabei war er nur der Mittelsmann für unsere Organisation. Ich mußte ihm
immer öfter auf die Finger klopfen. Das konnte nicht lange gut gehen."
Sie faltete den roten Stoff
auseinander. Es war ein feiner langer Seidenschal. "Ich will dir dieses
Tuch um die Augen binden. OK?"
"Wozu?"
"Ich schäme mich, wenn du
mich ansiehst. Ich fühle mich so viel sicherer."
Als sie, viel später, das Tuch
von seinen Augen löste, ging die Sonne gerade unter. Der Himmel über der Wüste
war rot wie die Seide.
Beim Hinuntergehen zum Abendessen
bemerkten sie, daß sich am rechten Hinterrad des BMW eine Pfütze gebildet hatte.
Arnold nahm sich vor, das im Auge zu behalten. Das Protea
selbst hatte kein Restaurant, aber zum Gebäudekomplex gehörte die Gaststätte
"Totem Creek". Sie war Teil einer landesweiten Restaurant-Kette, bot
aber keine Fast Food an, sondern Qualitätsgerichte. Sie bekamen eine
Tellerkombination von Rinderfilet und Tintenfisch, die beide sehr zart waren.
Als sie wieder in den Hotelhof traten, hatte sich die Pfütze unter ihrem Auto
stark ausgeweitet. Arnold rieb mit dem Finger über die Flüssigkeit. Es war
Benzin. Nicht auszudenken, was eine weggeworfene Zigarette anrichten könnte. Er
sagte Meilan Gutenacht und schickte sie auf ihr
Zimmer, um sie in Sicherheit zu wissen. Dann setzte er sich in den Wagen, löste
die Handbremse und ließ den BMW ganz behutsam zurückrollen. Hinter dem Hotel
gab es einen völlig ebenen Parkplatz am Ufer des Oranjeflusses.
Sein Wasser floß trübgelb dahin. Notfalls konnte die Feuerwehr sich hier mit
Löschwasser eindecken.
Die starke Zufriedenheit, die ihn
während des Abendessens erfüllt hatte, ließ nach, als er in sein Zimmer
zurückkehrte, das sie beim Weggehen nicht aufgeräumt hatten. Wieder ein langer
Abend ohne sie. Das war nicht die Art von Beziehung, in der er mit einer Frau
leben wollte.
Als Arnold am nächsten Morgen
nach dem Wagen schaute, blieb sein Herz fast stehen. Der BMW stand in einer
riesigen Pfütze. Dann sah er, daß jemand auf der Wiese neben dem Parkplatz
einen Sprinkler in Gang gesetzt hatte. Aus seinem Tank war nichts mehr
ausgelaufen. Das hatte gestern Abend nur an der Neigung des Parkplatzes
gelegen. Dabei war der Tank nicht einmal ganz voll gewesen. In Berchtesgaden
hatte er seinen Achtzehnhunderter oft auf weit abschüssigeren Flächen
abgestellt, ohne jemals einen Tropfen zu verlieren.
Hinter dem Ortsausgang ließ er
Meilan wieder ans Steuer. Sie kamen durch die östlichen Ausläufer der Kalahari.
Geschwungene Sanddünen, deren Farbe ein einheitliches Orange war, tauchten die
Erde in ein unnatürliches Licht, wie zu Beginn einer Sonnenfinsternis. Meilan
hielt unter einem Kameldornbaum, um zu hören, ob es hier Singvögel gab, aber
das einzige Geräusch, das in der Stille zischte, war das schrille Zirpen unsichtbarer
Insekten. Am Nachmittag fuhren sie durch die grünen Weiden von Stellaland.
Schwarze Cowboys ritten elegant auf sattellosen Pferden.
"Wo bleiben wir heute
Nacht?" Arnold hatte eine Werbebroschüre der Protea-Hotelgruppe
bei sich, auf der alle südafrikanischen Häuser verzeichnet waren. "Kennst
du Mafikeng? Es liegt an der Straße nach Gaborone."
"Mafikeng
ist die alte Hauptstadt von Betschuanaland, bevor es
selbständig wurde. Jetzt ist das Gaborone. Mafikeng bildet eine Doppelstadt mit Mmabatho,
dem Regierungssitz des Homelands Bophuthatswana. Dort
war ich schon ein paar Mal. Sie haben ein sehr gutes Hotel, mit einem
Spielkasino, Swimmingpool, Kino und riesigen Zimmern. Da sollten wir hin."
"In einem Homeland leben
hauptsächlich Schwarze."
"Das merkst du nicht so. Sie
haben das Spielkasino speziell für internationale Gäste gebaut."
Hinter dem Ortsschild Mmabatho übernahm er das Steuer. Die Stadt hatte ein
Janusgesicht. Ein Drahtgitterzaun isolierte die ärmlichen Häuser der
ortsansässigen Schwarzen. An einem Prunkboulevard erhoben sich die unbenutzt
wirkenden Regierungspaläste.
"In diesem Haus,"
Meilan wies auf ein modernes Verwaltungsgebäude, "habe ich meinen
Trauschein bekommen. Und die Aufenthaltsgenehmigung."
"Was suchen wir hier?"
fragte Arnold. "Deinen Mann?"
"Das Kasino-Hotel."
Über einem Einkaufszentrum
flackerte die auch bei Tage lesbare Leuchtschrift "Mega-City". Nur
die Hälfte der Geschäfte war vermietet. Vor dem Eingang hatten fliegende
Händler ihre Waren auf Tüchern ausgelegt.
"Jetzt weiß ich es,"
sagte sie. "Du mußt hier abbiegen."
Es war die Straße nach Mafikeng. Das Kasino lag nicht daran.
In der Altstadt von Mafikeng sah er das Hinweis-Schild "Protea-Hotel". Es war direkt am Bahnhof. Ein einfaches
Haus, das nicht zur Protea-Kette gehörte. Arnold fand
einen Parkplatz schräg vor dem Eingang.
"Wollen wir nicht noch
weiter suchen?" fragte Meilan.
"Für heute reicht es."
Arnold haßte Spielkasinos. Er wünschte sich ein Bier, eine Dusche und ein
bescheidenes Essen.
Die Schwarze, die hinter der
Rezeption saß, mochte in Meilans Alter sein und trug
ein geschickt aufgetragenes Makeup. Ihr Gesicht nahm
einen ablehnenden Ausdruck an, als sie Arnolds Begleiterin sah. Sie schob ihm
den Anmeldezettel hin.
"Wir haben ein Doppelzimmer
mit Bad. Sie können gleich bezahlen."
Das Zimmer war klein und
renovierungsbedürftig. Dafür war das Bad gut ausgestattet. Es enthielt sogar
ein Bidet.
Meilan war unzufrieden. "Das
andere Hotel ist viel besser. Du hast es nur nicht gefunden. Es hat eine eigene
Sitzgruppe und zwei Doppelbetten im Zimmer. Mein Chef hat immer dort übernachtet,
wenn wir in Gaborone zu tun hatten."
"Hast du mit ihm ein Zimmer
geteilt?"
"Mein Gott, es war
dienstlich."
"Hast du ein Foto von
ihm?"
"Ich denke schon." Sie
ging zu ihrem Koffer und holte einen dicken Packen Erinnerungsfotos hervor, aus
dem sie ein paar Bilder herauszog und aufs Bett legte. Der "Chef" war
ein junger Mann, sehr gut aussehend, mit einem selbstgefälligen Zug um Augen
und Mund. Das auffälligste an ihm war seine gleichmäßig fette Haut. Er wirkte
wie jemand, der niemals Not gelitten hatte. Sein Aussehen erinnerte Arnold an
das gewinnend lächelnde Gesicht eines Auslandschinesen in Indonesien, der zu
den größten Wirtschaftskriminellen der Gegenwart gehörte. "Xiao you dao,"
hatte ein chinesischer Lyriker vor zwölfhundert Jahren gedichtet: "In
seinem Lächeln steckt ein Messer."
"Ein sympathischer
Mann," sagte Arnold vorsichtig. "Er liebte das gute Essen."
"Das ist wahr. Ich habe oft
für ihn Chinesisch kochen müssen. Er war ganz begeistert. Sonst konnte er nicht
viel. Er wußte nicht, was man in ein Fax schreibt, er wußte nicht, wie man eine
e-Mail aufgibt. Alles mußte ich für ihn erledigen."
Arnold griff ein weiteres Foto
auf, das den Chef und Meilan mit zwei jungen Männern in einem afrikanisch
dekorierten Restaurant beim Essen zeigte. Das unten eingeblendete Datum war der
31.August.
"Ist das in Gaborone?" fragte er.
"Sieht so aus."
"Wer sind die beiden
anderen?"
"Geschäftsfreunde,"
erwiderte Meilan und steckte das Foto weg. Arnold hatte sich das Bild genau angeschaut.
Die zwei jungen Kerle waren niemals Kaufleute. Sie konnten Gangster, Geheimdienstler
oder Kommandos sein. Sie blickten zufrieden in die Kamera.
"Machst du den Fernseher
an?" bat Meilan. "Vielleicht zeigen sie einen Spielfilm."
Das Gerät befand sich auf einem
Brett an der Wand. Es war schwarz-weiß und Arnold konnte nur ein einziges Programm
hereinschalten. Sie brachten gerade Regional-Nachrichten. Ein Sprecher des
Verteidigungsministeriums von Namibia gab bekannt, die Ursache für den Absturz
der zwei Mig-Maschinen über dem Caprivi-Zipfel sei
aufgeklärt. Die Kampfflugzeuge seinen durch Boden-Luft-Raketen der Rebellen von
Katima Mulilo abgeschossen
worden. Über Bauart und mögliche Herkunft der Raketen äußerte ein Experte...
Das Bild rollte weg, und der Ton
zerflatterte.
"Stell das wieder ein,"
sagte Meilan, "das will ich hören." Aber die Zeilen rollten weiter
und weiter, ohne die Kontur eines Bildes anzunehmen.
"Sag an der Rezeption, sie
sollen uns ein Ersatzgerät geben."
Arnold ging hinunter, aber die
mürrische Wirtin erklärte, heute Abend könne sie nichts mehr unternehmen. Als
er zurückkam, hatte Meilan das Fenster geöffnet.
"Ich halte es hier nicht
aus. Das Zimmer ist zu klein. Können wir nicht ein zweites mieten? Vielleicht
funktioniert dort das Fernsehen."
Arnold stieg wieder die Treppe
nach unten. Ein kleines Zimmer war noch frei, aber das Anmeldeformular mußte
von seiner Mitreisenden ausgefüllt werden.
"Sie behält das jetzige
Zimmer. Ich nehme das neue. Dann kann ich auch die zweite Anmeldung unterschreiben."
"Das ist gegen die Vorschriften."
Meilan war nicht bereit, einen
Meldezettel auszufüllen. "Ich laß mich nicht schikanieren," sagte
sie. "Dieses Zimmer ist groß genug für uns beide. Wir brauchen kein zweites.
Laß uns Essen gehen."
Das Hotel hatte eine Speisebar, in der ein Koch agierte, der eine witzige Mimik
besaß. Arnold fand ihn sofort sympathisch, und sie winkten sich ein paar Mal
zu. Als Arnold bezahlte, rief der Koch ihn noch näher heran. "Hey
man," flüsterte er, Meilan nachblickend, die schon in der Tür stand,
"some guys have all the luck."
"Don't
bet on it," erwiderte Arnold.
In der Halle saßen mehrere junge
Negerinnen in Korbstühlen, jede ein Stück von der anderen entfernt, wie im Wartezimmer
eines Zahnarztes. Der Behandlung, die ihnen bevorstand, schienen sie mit
Gleichmut entgegenzusehen.
Meilan prüfte alle Möglichkeiten,
ihre Zimmertür von innen zu verschließen und zu verriegeln.
"Ich gehe als erste ins
Bad," rief sie, "Ich bin todmüde. Wieviel Kilometer bin ich heute
gefahren?"
"Über fünfhundert. Ich
gratuliere."
"Morgen werden es weniger.
Wir fahren nach Sun City. Dort gibt es auch Kasinos."
"Hast du Geld zum
Spielen?" fragte er.
"Vielleicht leihst du mir
etwas."
"Hast du keine bessere
Geschäftsidee?"
Trotz ihrer Müdigkeit schlief
Meilan nicht gleich ein. Sie zog das Laken unters Kinn und grübelte, ohne sich
auf ein Gespräch einzulassen.
"Hast du genug Platz?"
fragte er.
"Ja."
"Weißt du noch, daß du mich
heiraten wolltest?"
"Das war ein Irrtum."
Arnold ging ins Badezimmer, wo er
noch einen Rest KWV-Brandy stehen hatte und goß ihn
in sein Zahnputzglas. Seine Reise mit Meilan war kein
Irrtum gewesen. Er hatte sie unendlich genossen. Aber die Reise war zu Ende.
Als er den Becher mit der rechten Hand an den Mund führte, sah er im fleckigen
Spiegel einen Mann, der das gleiche Glas in der Linken hielt. Der Mann sah
ziemlich gut aus. Es gab keinen Grund, ihn abzulehnen. Sie tranken beide einen
Schluck und schütteten den Rest ins Waschbecken. Eine Reise von tausend Meilen
beginnt mit einem Schritt. Von Johannesburg bis Mafikeng
hatten sie achttausend chinesische Meilen hinter sich gebracht, fast viertausendfünfhundert
Kilometer. Sehr weit waren sie nicht gekommen. Nicht weit genug. Nicht nah genug.
SECHZEHNTES KAPITEL
Beim gemeinsamen Frühstück hatte
Meilan immer noch so schlechte Laune, daß sie selbst die Worte Ja und Nein nur
mit Mühe herausbrachte. Die Spiegeleier waren die frischesten der ganzen Reise,
und der Filterkaffee glättete Arterien.
"Ich verstehe, daß du nach
Sun City fahren möchtest, dem Las Vegas Südafrikas," sagte Arnold.
"Das liegt an der Straße von Durban nach Gaborone. Hast du dort mit deinen Container-Transporten
Halt gemacht?"
Sie hob den Blick, ließ aber kein
Wort durch ihre Lippen.
"Es ist möglich, sein Glück
im Spielkasino zu finden. Ich habe mein Glück auf der Straße nach Mafikeng gesucht. Aber man findet es nur als doppeltes
Glück, als Glück für zwei. Das ist uns nicht gelungen."
"Du willst also nicht nach
Sun City," folgerte Meilan.
"Es sind dreihundertachtzig
Kilometer bis Johannesburg. Ich dachte, wir fahren das heute, wenn es dir recht
ist."
"Wir machen, was du willst.
Ich könnte zurück in meine Wohnung im Stadtteil Lyndhurst.
Das ist geklärt."
"Hast du Lust, heute Abend
in Johannesburg für mich Chinesisch zu kochen? Wie für deinen Chef? Zum
Abschied?"
"Das wäre zuviel Aufwand.
Ich werde mich um andere Dinge kümmern müssen."
Als sie aus dem Hotel
hinaustraten, stand der BMW noch auf seinen vier Rädern und nicht, wie Arnold
halb befürchtet hatte, auf Ziegelsteinen aufgebockt.
Meilan fuhr die ersten hundertzwanzig
Kilometer. Dann wurde der Verkehr sehr dicht, und Arnold übernahm. Als sie in
eine Senke kamen, erblickten sie ganz unten eine Art Konzentrationslager mit
Wachtürmen, massiven Außenmauern und einem Krematoriumsturm in der Mitte.
Männer mit Gewehren im Anschlag traten vor ein Stahltor, um einen gepanzerten
Transporter ausfahren zu lassen. Jetzt sah Arnold, daß die Krematoriums-Esse in
Wahrheit ein Förderturm war. Es handelte sich um ein Goldbergwerk, nicht ein Vernichtungslager,
aber die düstere Ähnlichkeit ließ ihn lange frösteln. Auch Meilan wirkte beklommen.
Nach Arnolds Stadtplan mußten sie
in Johannesburg als erstes den Flughafen erreichen, und er folgte der Beschilderung,
aber die Strecke zog sich endlos hin. Als sie am Flughafen ankamen, fuhr Arnold
direkt zur Abflugebene, hielt im Parkverbot und bat Meilan, bis zu seiner
Rückkehr im Wagen sitzen zu bleiben, damit er keinen Strafzettel bekam.
Am Schalter von Air Namibia
buchte er einen Flug nach Windhoek für morgen
Nachmittag, 16 Uhr 45. Ein Sticker mit den neuen Zeiten wurde in seinen
Flugschein geklebt. Als er aus der Halle hinaustrat, stand ein Polizist vor dem
BMW und schrieb die Nummer auf einen Block.
"Entschuldigung," sagte
Arnold, "ich parke nicht. Meine Frau wollte im Wagen sitzen bleiben.
"Ich sehe nichts,"
sagte der Polizist. "Der Wagen ist abgeschlossen."
"Lassen Sie mich den
Strafschein gleich bezahlen. In bar."
"Der Computer kann das nicht
verrechnen. Wir schicken Ihnen die Zahlungsaufforderung zu."
"Der BMW gehört mir nicht.
Es ist ein Mietwagen. Ich gebe ihn morgen an die Verleihfirma zurück und verlasse
das Land."
"So einen Fall hatten wir
noch nie. Ich werde mich erkundigen."
Als der Polizist ging, trat
Meilan hinter einer Säule hervor. "Ich habe dir gesagt, du sollst im Wagen
sitzen bleiben, bis ich wiederkomme," sagte Arnold böse. "Jetzt haben
wir einen Strafzettel."
"Ich mußte mal. Das läßt
sich nicht verhindern." Sie schloß die Beifahrertür auf und öffnete für
Arnold von innen.
"Was machst du nun?"
fragte sie.
"Ich fliege morgen
Nachmittag um diese Zeit zurück."
"Dann hast du noch
vierundzwanzig Stunden hier. Am besten fahren wir als erstes zu deinem Hotel
und nehmen ein Zimmer für dich. Dann besuchen wir das Shoppingcenter Rosebank
Mall, wo wir unsere Filme entwickeln und vergrößern lassen. Anschließend
bringst du mich mit meinem Gepäck in meine Wohnung und bist dann ein freier
Mann. OK?"
Das klang nach schneller
Abwicklung, aber ganz so rasch ging es dann doch nicht, weil Meilan überhaupt
kein räumliches Orientierungsvermögen besaß, wie sich schon in Mafikeng gezeigt hatte. Als Arnold auf der Suche nach
seinem alten Hotel "Protea Inn" zum zweiten
Mal durch dieselbe Allee fuhr, wurde er am Stadtplan von Johannesburg irre, den
er bei Gleumes am Ring gekauft hatte. Er verglich Straßennamen
und Himmelsrichtungen, bis er dahinter kam, daß auf diesem Plan der Süden oben
auf der Karte stand, und der Norden unten. Eine geographische Spielerei, die
ihn viel unnütze Fahrerei gekostet hatte. Sobald er den Stadtplan verkehrt
herum aufs Armaturenbrett legte, konnte er sich wunderbar orientieren. Im
"Protea-Inn" bekam er wieder ein Zimmer mit
einem Zwei-Meter-Bett. Meilan wartete im Auto, während er sich anmeldete. Das nahegelegene
Rosebank Mall war ein gewaltiges Shopping Center in aufgelockerter Bauweise mit
sonnendurchfluteten Innenhöfen, etwa doppelt so groß wie das Einkaufszentrum in
Chorweiler. Sie erfuhren, daß sie ihre Abzüge morgen Mittag abholen konnten.
Meilan wollte noch Kaffee und Cremetorte auf der Dachterrasse. Es war ihr
erstes Essen seit dem Frühstück. Dann brachte Arnold sie auf ihren
Mini-Landsitz.
Als Meilan
vor ihrem kleinen Satteldach-Bungalow ausstieg, kam wieder ein riesiger
Schäferhund schwanzwedelnd auf sie zugerast, sprang an ihr hoch und leckte ihr
mit seiner breiten Zunge über das Gesicht. Sie schien die Begrüßung gewohnt,
denn sie klopfte ihm leicht auf den Hals, und er ließ von ihr ab. Dafür stürzte
er sich auf Arnold, der inzwischen ausgestiegen war, und schnupperte an seiner
Hose. Ihm wurde dabei etwas bange.
"Hör auf, hör auf,"
rief er dem Hund zu, "das brauche ich alles noch, das mußt du doch
verstehen. Du bist selber ein Mann."
Der Hund jaulte und ließ sich auf
die Hinterläufe nieder.
"Wie ist das möglich,"
fragte Meilan, die stehen geblieben war und ihnen zugeschaut hatte, ohne Arnold
zu Hilfe zu kommen, "du sprichst Deutsch mit ihm, und er versteht
dich."
"Das ist ein deutscher
Schäferhund," erklärte Arnold ernsthaft, "selbstverständlich versteht
er Deutsch."
"Er ist in Südafrika
aufgewachsen," sagte sie zweifelnd.
"Er hat es in den
Genen," behauptete Arnold fest. Es amüsierte ihn, daß diese musikbegabte
Frau nicht mitbekommen hatte, daß er mit dem Hund über die Klangfarbe seiner
Stimme kommuniziert hatte. Tierliebe war in China nicht sehr verbreitet. Er
trug den grünen Koffer ins Haus und stellte fest, daß ihr breites Bett verschwunden
war. Er bot ihr an, bei ihm im Hotel zu schlafen.
"Ich schlafe gerne auf dem
Fußboden, wenn es nötig ist. Mir macht das nichts aus." Ihre Augen
blitzten vor Ärger. Es war das erste Mal, daß sie sich anmerken ließ, wie wenig
ihr dieses Ende der Reise gefiel. Arnold brachte ihr noch die Tüte mit den
Kassetten und was sonst noch in zwei Reisewochen im Auto abgelegt worden war.
Auf dem Rückweg fuhr er auf den
Parkplatz der Rosebank Mall, um in einer Buchhandlung Material über
Goldbergwerke zu finden. Es war Südafrikas wichtigster Industriezweig, und er
wollte etwas über die Mine herausbekommen, auf die er am Vormittag gestoßen
war. In der Mall gab es einen Buchladen, der zu einer Kette gehörte, die auf
aktuelle Bestseller und Geschenkwaren spezialisiert war. Über die
Goldproduktion hatten sie nicht einen einzigen Titel. Man riet ihm, es in der Finanzcity
zu versuchen. Doch die Erinnerung, daß Meilans Chef
beim Besuch eines Geldautomaten in der Innenstadt ums Leben gekommen war, ließ
sein Interesse schwinden. Wahrscheinlich bekam er das Buch auch am Flughafen.
In der Lobby seines Hotels lagen
Tageszeitungen aus, von denen er sich eine mit auf sein Zimmer nahm. Auf Seite
3 sah er die Schlagzeile "Seidenraupen am Sambesi", dazu Fotos eines
zerstörten Flugzeuges. Die Untersuchung durch Experten, las er, hätte
zweifelsfrei ergeben, daß die über dem Caprivizipfel abgeschossenen MIGs der namibischen Luftwaffe von in China produzierten Boden-Luft-Raketen
getroffen worden waren. Die Herkunft dieser im Volksmund als "Seidenraupen"
bezeichneten Flugabwehr-Raketen gab den Experten Rätsel auf, da sie bisher in diesem Teil Afrikas noch nicht aufgetaucht
waren.
Arnold ließ die Zeitung sinken.
Das Telefon auf seinem Nachttisch hatte eine automatische Durchwahl. Er tippte
die Nummer seines Büros ein. Sidney arbeitete noch.
"Hallo Chef. Wo stecken Sie?
Auf meinem Display lese ich null null
siebenundzwanzig. Welches Land ist das?"
"Ich bin in Südafrika. Ich
habe mir gerade eine Goldmine angeschaut. Was macht die Datenbank?"
"Ich komme gut voran."
"Ist Ihnen beim Eingeben
schon der Name Poly-Technologies begegnet?"
"Die kennen Sie doch, Chef,
die gehören zum militärisch industriellen Komplex".
"Das wird alles ziemlich
geheim gehalten."
"Ich mach mal eine
Suchwort-Recherche für Sie. Ich habe den Computer noch an. Gleich haben wir es.
Also, halten Sie sich fest. Die chinesische Volksbefreiungsarmee besitzt und betreibt
fünfzigtausend Produktions- und Dienstleistungsunternehmen mit zwei Millionen Angestellten
weltweit. Und nicht nur zum Stiefelputzen. Sie produzieren Autos,
Pharmazeutika, betreiben Hotels und Karaoke-Nachtklubs.
Die beiden größten Holdings sind Xinxing und China
Poly Group. In der Poly Group sind die Auslandsinteressen der Armee zusammengefaßt.
Sie hat zwei börsennotierte Tochtergesellschaften in Hongkong,
"Continental Mariner" und "Poly Investments".
"Continental Mariner" könnte eine Reederei oder Schiffahrtslinie
sein. Werden die jetzt auch in Südafrika aktiv, oder weshalb fragen Sie?"
"Ich glaube, sie drängen ins
Waffengeschäft."
"Das würde passen. Soll
unser Haus das etwa finanzieren? Da muß ich protestieren."
"Keine Sorge. Und vielen
Dank."
Er sprang auf. Sein erster Impuls
war, das Auto zu nehmen und zu Meilan hinauszufahren, um sie zur Rede zu stellen.
Sein Herz klopfte heftig. Sie schmuggelte nicht nur Textilien. Sie war auch in
Waffenschiebereien verwickelt. Sein zweiter Impuls war, den SPAR-Laden
aufzusuchen, um einer Flasche KWV-Brandy und sich
selbst auf den Grund zu kommen. Aber was er dort finden würde, war ihm
unheimlich. Dritte Möglichkeit: Alles abschalten. Einfach eintauchen in den
Lebensrhythmus dieses Erdteils, dieser sich neu formierenden Nation. Davon
hatte ihn ja seine Partnerin mit ihrer Rassenphobie abgehalten. Eine Nacht
blieb ihm noch, den besten Jazz, den traurigsten Blues und den originellsten
lokalen Pop von Johannesburg kennenzulernen. Er ging zum Portier, ließ sich
Empfehlungen geben und nahm sicherheitshalber ein Taxi.
Beim Erwachen hatte er
Schädelbrummen, aber unter der Dusche sang er, weil sein Kopf mit Rhythmen
vollgestopft war. Mit dem Autoverleiher machte er aus, daß er den Wagen am
Flughafen zurückgeben durfte.
Meilan traf er im Fotogeschäft
der Rosebank Mall. Sie hatte die Abschnitte, wartete aber darauf, daß er bezahlte.
Dann gingen sie in das Restaurant unter der Lichtkuppel, um die Bilder anzuschauen
und eine Kleinigkeit zu essen.
"Bestell schon etwas,"
sagte er zu Meilan. "Ich muß noch schnell auf die Bank." Er wollte
ihr Überbrückungsgeld dalassen. So enttäuscht er sich auch fühlte, sie war die
Frau, der er den ersten Platz in seinem Leben angeboten hatte. Im zweiten Stock
des Shopping Centers gab es eine Bankfiliale, die ihn das Formular für eine
Bargeldauszahlung auf Kreditkarte ausfüllen ließ, ihm dann aber nichts geben
wollte.
"Bitte holen Sie Ihren
Vorgesetzten. Das ist wichtig. Ich bin selber Bankangestellter." Er
überreichte seine Visitenkarte.
Es dauerte mehrere Minuten, bis
der Filialleiter kam, ein älterer Mann mit einem gebräunten, faltenreichen
Gesicht. Er reichte Arnold die Hand.
"Herr Feldmann, ich habe
Ihre Unterlagen durchgesehen. Sie wollen eine Cash Advance
über Eurocard/Mastercard. Alle Anfragen werden in der
Mastercard Zentrale in den USA bearbeitet. Von dort
erfahre ich, daß sie heute schon eine Mietwagenrechnung von über tausend Dollar
per Kreditkarte bezahlt haben. Damit ist ihr heutiges Limit erschöpft."
"Ich habe eine Mastercard Gold, für die ich eine höhere Mitgliedsgebühr
bezahle, damit es keine Cashprobleme gibt."
"Ich weiß, daß die Dinge in
Europa anders gehandhabt werden, aber wir arbeiten mit der amerikanischen
Zentrale zusammen, die allen ihren Kunden ein Limit von fünfhundert Dollar am
Tag setzt."
"Was für einen Weg schlagen
Sie vor, direkt von meiner Bank in Köln Bargeld abzurufen?"
"Erlauben Sie mir eine
persönliche Bemerkung," sagte der Bankier. "In den letzten zwanzig,
dreißig Jahren haben deutsche Firmen einen sogenannten Wirtschaftsboykott gegen
unser Land verfolgt, der uns Unannehmlichkeiten bereitet hat, der schwarzen Bevölkerung
mehr als der weißen. Und auf der Liste der deutschen Unternehmen, die diesen
sogenannten Boykott unterstützt haben, stand der Name Ihrer Bank immer ganz
oben."
"Ich bin
Ostasien-Spezialist. Ich habe mich nie mit Südafrika beschäftigt. Ich mache
hier Urlaub."
"Ich erzähle Ihnen das,
damit Sie verstehen, weshalb es zur Zeit keine normal entwickelten Beziehungen
zwischen Ihren Bankhäusern und unseren gibt. Haben Sie keine anderen Kreditkarten?"
"Diners Club."
"Damit arbeiten wir nicht.
Wir sind nur eine Shopping Mall hier. Geschäfte mit Kleinkunden."
"Danke," sagte Arnold.
Die Umstände waren gegen sie.
Meilan hatte inzwischen die Fotos
sortiert. Sie schob sie zusammen mit den Negativen in ihre Handtasche, als sie
ihn an ihren Tisch treten sah.
"Es tut mir leid,"
sagte er, "man gibt mir kein Geld für dich."
"Ich habe nicht damit
gerechnet," sagte sie gleichmütig.
Er legte das Bargeld, das er in
seiner Brieftasche hatte, auf den Tisch. Es waren ein paar hundert Rand. Er zog
einen Hunderter heraus.
"Das brauche ich für die
Flughafengebühr. Das andere ist für dich."
"Danke. Ich werde es
brauchen." Sie faltete die Scheine zusammen.
"Ich kann dir Geld aus
Deutschland schicken."
"Nicht nötig. Fliegst du
wirklich über Windhoek zurück?"
"Ja natürlich."
"Du mußt wissen, was du
tust. Ich habe inzwischen die Fotos sortiert." Sie schob ihm zwei Abzüge
hin.
"Hier, das sind die einzigen
Aufnahmen, auf denen du drauf bist."
"Ich will auch Bilder von
dir."
"Die brauche ich selber. Für
meine Zukunft."
"Dann gib mir die
Negative."
"Die brauch ich für weitere
Abzüge. Ich schicke sie dir später zu."
Er hatte den Impuls, ihr die
Handtasche zu entreißen und die Negative an sich zu nehmen. Jedes Foto hatte er
einzeln komponiert, als Erinnerungsstück für später, mit ihr nur als Dekor in
einer grandiosen Landschaft. Diese Bilder waren sein geistiges Eigentum. Er
atmete tief durch. Sie richtete ihren strahlendsten
Blick auf ihn, und seine Wut löste sich auf, wie Schaum auf den Wellen. Sie
hatte immer noch diese Macht über ihn.
"Verrat mir eins," bat
er sie, "als wir uns das erste Mal sahen, auf der Treppe vor dem Zollamt -
weshalb hast du mich angesprochen?"
"Weil du ein Fremder warst,
ein Gast in China, weil du wie ein Mensch aussahst, der Hilfe braucht."
"War Wehrmeyer
nicht auch ein Gast in China?"
"Wovon sprichst du?"
"Der deutsche Beamte, mit
dem ich im Zollamt verabredet war. Er wollte mich darüber informieren, daß ihr
Raketen an die Widerstandsbewegung in Deutsch Südwestafrika liefert ."
"Ich kenne diesen Mann
nicht."
"Warum starb Wehrmeyer in dem Augenblick, als du mich ansprachst?"
"Du bist verrückt. So
arbeiten wir nicht. Das ist nicht unser Stil."
"Seit wann weißt du von der
Raketenlieferung?"
"Ich importiere
Textilien."
"Die beiden jungen Männern
auf dem Foto vom 31. August in Gaborone waren Mitarbeiter von China Poly. Sie haben deinen
Container zum Waffentransport benutzt."
"Damit hatte ich nichts zu
tun. Sie haben ihn aufgemacht, als ich mit meinem Chef zum Essen war. Ich habe
nie wieder etwas von ihnen gesehen. Die Textilien, die im Container waren, habe
ich in Gaborone weiterverarbeitet wie immer."
"Und deine Geschäftsfreunde
haben ihre Lieferung auf dem Straßenwege durch Betschuanaland
zum Caprivizipfel im Nordosten Namibias gebracht."
"Das war ihr Geschäft, nicht
meins."
"Ohne dich hätten sie nicht
liefern können. Deshalb mußtest du meinen Besuch im August so plötzlich
absagen. Wußte dein Chef aus Taiwan Bescheid?"
"Ohne den lief nichts."
"Glaubst du wirklich, daß er
rein zufällig das Opfer eines Überfalls am Geldautomaten geworden ist?"
"Johannesburg steckt voller
Verbrecher. Wegen ein paar Rand schrecken sie vor nichts zurück."
"Dieses Land ist berühmt für
seine Verbrecher in Uniform. Ich meine jetzt Südafrika zur Zeit der Apartheid.
Und Deutsch-Südwestafrika, das heutige Namibia, ist
gleich nach dem Ersten Weltkrieg unter südafrikanische Verwaltung gestellt worden.
Seitdem arbeiten die Geheimdienste beider Länder eng zusammen. Bis auf den
heutigen Tag."
"Unter Mandela ändert sich
das."
"Das einzige, was sich
ändert, ist, daß die Zusammenarbeit der schwarzen Führungskräfte in beiden
Diensten enger wird. Die Rebellen im Caprivizipfel bekämpfen die schwarze Regierung
in Namibia. Ihr seid mit euren Raketenlieferungen in ein Schlangennest gesprungen."
"Gegen mich haben sie keinen
Verdacht. Das weiß ich hundertprozentig. Die beschlagnahmten Container sind wieder
freigegeben. Es war nichts drin, außer Textilien. Du bist der einzige, der sich
zuviel Gedanken macht."
"Weil ich mir Sorgen mache,
daß du dich mit den falschen Leuten einläßt."
"Du willst ein China-Kenner
sein, aber in Wirklichkeit weißt du gar nichts. Du siehst alles in veralteten
Schwarz-Weiß-Gegensätzen. Du glaubst, die Guten, das sind die Zollbeamten, die
Bösen die Schmuggler aus der Armee. Du weißt nicht, wie bürokratisch der
chinesische Zoll arbeitet. Alles bleibt Monate liegen, selbst wenn man
Beziehungen hat. Es sind die unbürokratischen Strukturen der Armee und der
Marine, die das schnelle Wachstum der chinesischen Wirtschaft erst ermöglichen,
weil sie alles durch ihre eigenen Kanäle befördern. Ohne die wirtschaftliche
Initiative der Armee würde unser Wachstum nicht bei bis zehn Prozent im Jahr liegen,
sondern bei zwei oder anderthalb. Das wird immer übersehen. Vergiß nicht, daß
ich als Kind fast verhungert bin. Wir brauchen Wachstum, Wachstum, Wachstum.
Und das bekommen wir durch die Allianz von Kapital und Armee. Die Jungens von
China Poly sind in Ordnung."
"Es ist ein Unterschied, ob
du mit Seidentüchern Umsatz machst oder mit Raketen. Waffenschmuggel ist ein
Verbrechen gegen die Menschlichkeit."
"Du hast recht. Das ist
nicht gut gelaufen." Sie sagte es glatt dahin, ohne einen Ton des
Bedauerns in der Stimme.
"Was war mit Wehrmeyer, dem deutschen Zollbeamten?"
"Er war dein Freund, nicht
wahr? Ich habe von ihm gehört. Er hat sich über die Bürokratie, über den
Schlendrian im chinesischen Zoll halb totgeärgert. Kann sein, daß er deshalb einen
Herzinfarkt bekommen hat. Eine andere Ursache sehe ich nicht. Wir behandeln
unsere Gäste mit Respekt."
Sie hatte ihre Rede beendet. Ihm
fehlten die Worte, auf diesen Ausbruch zu reagieren. Sie hatte sich so
hineingesteigert, sich im Recht zu fühlen, daß er verstummte. Er war nicht ihr
Ankläger. Er war der Mann, der sich gelobt hatte, sie ein Leben lang zu lieben.
Für ein paar Tage hatten sie das intensivste Glück gefunden, das Menschen
teilen können, aber dann hatte es - ihm war nicht klar, wieso - angefangen zu
bröckeln, bis zu diesem Showdown. Wenn alle Chinesen so dachten wie sie, würde
ein in der Welt erfolgreiches China ein schwieriger Partner werden.
Sie richtete sich auf, und die
Bewegung ließ ihre Brüste herausfordernd schwingen. "Ich habe für uns zwei
Filetsteaks bestellt. Sie müssen gleich fertig sein."
"Dafür reicht die Zeit
nicht. Ich muß zum Flughafen."
"Ich habe einen
Riesenhunger. Ich habe heute noch nichts gegessen." Ihre Zungenspitze kam
spielerisch zum Vorschein.
"Du mußt allein essen, wenn
dir das wichtiger ist."
"Ich esse beide Portionen,
wenn du wirklich weg mußt."
Fassungslos - aber auch etwas
erleichtert - registrierte er, daß ihr das wichtiger war als die in China so
gepflegte Formalität des Abschiedsgeleites. Eine Trennung wie ein Messerschnitt.
Er beugte sich dennoch vor, um
ihr einen Abschiedskuß zu geben. Sie hob ihm den Mund entgegen. Mit der Handfläche
klopfte sie leicht auf seinen linken Oberarm.
"Mach dir um mich keine
Sorgen," flüsterte sie.
Sie blieb sitzen und blickte ihm
nicht nach, als er zum Parkplatz ging. Er wollte ihr noch etwas zurufen, aber
er wußte nicht, was.
Der Verkehr auf der
Flughafenautobahn war chaotisch. Er wurde rechts und links überholt, fühlte
sich von einer Wolfsmeute gejagt und verfluchte die Trägheit des Sechzehnhunderter
Motors, der keinen Biß hatte. Das lag auch an der Automatik. Bald würde er zuhause
wieder seinen Achtzehnhunderter mit der rechten Hand in den zweiten Gang
schalten und die Kraft spüren, die er so lange vermißt hatte.
Als er am Check-in-Schalter das
braune Namensschild der Air Namibia leuchten sah, verspürte er plötzlich eine
lähmende Angst. Er war zwei Wochen mit einer Frau zusammengewesen, die Waffen
für die Rebellen transportiert hatte. Er sah, daß es in zwei Stunden einen
Nonstopflug der South African Airways von Johannesburg nach Amsterdam gab. Von
dort kam er im Handumdrehen nach Köln. Andererseits hatte er in Windhoek, wenn er nicht in die Namib-Wüste
wollte, nur fünfundsiebzig Minuten Aufenthalt bis zum Weiterflug nach
Frankfurt, und seine Papiere wurden nicht überprüft. Wie sollte er sich entscheiden?
Die Reise hatte genug Geld gekostet. Er überreichte der Bodenhosteß sein Ticket
und sagte: "Ich checke durch bis Frankfurt."
Sie gab seinen Code in den
Computer ein. "Sie haben keine Reservierung für den Weiterflug nach
Frankfurt. Aber Sie haben Glück. Es sind noch Plätze frei. Ich buche Sie
ein." Sie lächelte ihn an, als wäre er ein Mann, dem sie gerne einen Gefallen
erwiese.
In der Abflughalle, vor dem
Durchgang zur Paßkontrolle, sah er einen Geldautomaten der Diner's
Club Karten annahm. Er hätte jetzt für Meilan
zweitausend Rand ziehen können, wenn sie nicht die Filetsteaks dem
Abschiednehmen vorgezogen hätte.
Der harte Plastiksitz im
Warteraum am Gate erinnerte ihn an den Flughafen in Guilin. Dort hatte er durch die Scheibe geschaut und Meilan in ihrem brokatroten Seidenrock die Metalltreppe zu
ihrer Maschine nach Tschungking hinaufsteigen sehen.
Sie hatte sich nicht umgedreht, um ihm zuzuwinken, sondern die wartende Stewardeß
mit einem Scherzwort begrüßt.
Was immer diese risikofreudige,
umtriebige Frau als nächstes unternehmen würde, es betraf ihn nicht, er hatte
es nicht mit zu verantworten. Es kam ihm nicht in den Sinn, sie wegen ihrer Unbesorgtheit
zu verurteilen. Sie hatte erst in China und jetzt in Südafrika ein Glühen in
sein Leben gebracht, das auch nach dem Ende der Straße nach Mafikeng
in ihm weiter leuchten würde.
SIEBZEHNTES KAPITEL
"Wir hatten Sie nicht so
früh zurück erwartet," sagte Paul überrascht, "aber es ist gut, daß
Sie schon da sind. Wir haben Probleme mit den Technikern. Angeblich kann der
Server dieses Jahr nicht mehr aufgestellt werden. Sagen Sie ihnen, sie sollen
auf einem vorhandenen für uns Platz freischaufeln. Von mir nehmen sie das nicht
an."
Am schwarzen Brett las er, daß
die Stelle des Persönlichen Assistenten des Vorstands zum 1.Januar zur Neubesetzung
ausgeschrieben war. Er rief Cornelia in ihrem Büro an, um sie darauf anzusprechen.
"Das erzähl ich dir unter
vier Augen. Komm rauf."
Cornelia hatte schreckliche
Angst, daß alle Telefongespräche in der Bank mitgeschnitten und selektiv abgehört
wurden, allein schon um Beweismaterial in finanziellen Streitfällen zu haben.
Aber Belege dafür hatte sie nie gefunden, obwohl jemand in einer Position wie
der ihren eigentlich darüber informiert sein müßte.
Sie hatte schon eine Flasche Champagner
auf dem Schreibtisch, auf der sich Kondensationstropfen bildeten. Es gelang
ihm, den Korken so herauszudrehen, daß die Flasche leise seufzte.
"Es ist noch zu früh zum
gratulieren, aber es ist fünfundneunzig Prozent sicher. Ich bekomme zum
1.Januar die neu geschaffene Stelle als Leiterin der Abteilung Strategische Planung."
"Das ist großartig. Du hast
es geschafft. Ich glaube, für diese Position habe ich keine Ausschreibung am
Schwarzen Brett gesehen."
"Die Stelle ist
außertariflich."
"Dann bekommst du ein
höheres Gehalt als ich."
"Hoffentlich."
"Wie lange läuft dein
Vertrag?"
"Vier Jahre sind vorgesehen.
Das ist das Optimum. Laß uns anstoßen."
Die gefüllten Gläser gaben nur
einen matten Klang von sich.
"Weißt du noch," fragte
sie, "was wir alles für Pläne besprochen haben? Das meiste wird laufen.
Derivate. Wagniskapital. Marketmaker für ausländische
Aktien. Wir werden auch Investmentsfonds auflegen.
Das heißt, die Bank wird ein schwerer Brocken. Unverdaulich."
In ihrer Art, Freude zu äußern,
lag so viel Vertrauen und Intimität, daß ihm sein Afrika-Urlaub wie eine
endlose Irrfahrt erschien.
ACHTZEHNTES KAPITEL
In der Wirtschaftsabteilung der
größten Buchhandlung am Neumarkt entdeckte Arnold ein sechshundert Seiten
starkes Buch über südafrikanische Goldminenaktien. In Johannesburg hatte er
vergeblich danach gesucht. Das ganze Wochenende notierte er auf fliegenden
Zetteln die Lebenserwartung der verschiedenen Minen, den Goldgehalt des Erzes,
die zukünftige Entwicklung des Goldpreises und die Korrelation all dieser
Daten. Schließlich war es der Klang des Namens, der ihn bewog, die im Münchner
Freiverkehr gehandelten Aktien der Minengesellschaft Hartebeestfountain
zu ordern. Der "Brunnen der scheuen Gazelle", so übersetzte er diesen
Namen für sich, ein passendes Andenken an seine Reise.
Sidney arbeitete jetzt einen
dreiviertel Tag. Ihr Doktorvater und sein Koreferent hatten ihre Dissertation
noch nicht zu Ende durchgelesen. Abends nach der Arbeit kam sie oft noch in
Arnolds Büro, um sich mit ihm über China zu unterhalten. Sie war so schlank und
grazil, daß Arnold die Vorstellungen hatte, ihr Rückgrat müsse mehr Wirbel
enthalten als das anderer Frauen. Sie schlug ihm vor, für ihn chinesisch zu
kochen - was Meilan abgelehnt hatte. Er fühlte sich
in die Enge gedrängt, und obwohl es ihn gereizt hätte, ihre Wirbel zu zählen,
sagte ihm eine innere Stimme, daß sie in ihm nur einen Fürsprecher für ihre
Festanstellung suchte. Um sich abzugrenzen, brachte er Sidney
seine Fotos aus Guilin mit. Sie erkannte die Landschaft
im Hintergrund, denn sie hatte als Reiseleiterin in China gejobbt, aber sie sah
auch, daß er ihr die Bilder nicht wegen der Landschaft zeigte.
"Ich könnte mich nie in
einen Chinesen verlieben," kommentierte sie. "Chinesen sind unfähig,
eine echte Partnerschaft einzugehen. Sie haben zu viele Loyalitäten außerhalb
des Ichs und Dus einer Zweierbeziehung. Da kommt ihre Familie, ihre
Schulfreunde, das große Geld. Das alles hat Priorität. Ich meine das nicht negativ.
Ich liebe China und seine Menschen. Man muß nur wissen, wie sie sind. Man darf
nichts Unmögliches von ihnen verlangen."
"Jede Kultur hat ihre
Zwänge," erwiderte Arnold. Ihm war nicht klar, ob ihre Ausführungen als
Lebensweisheit oder als Eigenwerbung zu verstehen waren.
Die Webseite ging publik, und
Paul baute einen Zähler ein, der jeden Kontakt aufzeichnete. Das Ergebnis war beachtlich,
und Dr. Nagel überlegte sich - mit Pauls
Unterstützung - sogenannte Links zu anderen Organisationen mit ähnlichen
Interessen einzuarbeiten, etwa dem Asiatischen Verein in Hamburg oder der Bundesstelle
für Außenhandelsinformation in Köln. Dazu brauchte es Vorbesprechungen in guten
Restaurants.
Arnolds nächste Dienstreise
sollte auf die Philippinen führen. Er mußte aus erster Hand herausfinden, wie
gefährdet deutsche Investitionen dort waren. Vielleicht sollten sie ein
generelles Stop-Zeichen für dieses Land auf ihre Web-Seite setzen.
Schon wenige Wochen nach seiner
Rückkehr aus Südafrika zahlte ihm der "Brunnen der scheuen Gazelle"
einen vierstelligen Dividendenbetrag aus. Gold trägt keine Zinsen, hatte er
immer geglaubt.
Der Kurs seiner Goldminen-Aktie
wurde weder im "Handelsblatt" noch in der "International Herald
Tribune" aufgeführt. Er konnte ihn nur im Teletext des Bayerischen Fernsehens
finden. Er erwischte sich dabei, daß er jeden Abend, wenn er nach Hause kam,
als erstes die Fernbedienung in die Hand nahm. Diese Erfahrung vermittelte ihm
mehr als alles andere die Wichtigkeit der Computerkommunikation. Paul hatte
einen Internetanschluß auf Arnolds PC legen lassen, und mit Pauls Hilfe fand er
die Webseite mit den Schlußkursen der Johannesburger Börse.
Was Arnold nervös machte, waren
die Schwankungen des Goldpreises. Er sah immer öfters die Telebörse und
entwickelte geradezu väterliche Gefühle für den Moderator Raimund Brichta und sein verhaltenes Lächeln.
Trotz des Optimismus der ntv-Crew gab Arnold dem Goldpreis keine gute Prognose.
Einen Tag nach dem Ende der Spekulationsfrist verkaufte er seine Hartebeestfountain mit einem Gewinn von etwa zwölf Prozent.
Zwischendurch hatte das Papier schon mal höher aber auch bereits in der Verlustzone
notiert. Arnold entschloß sich, den gesamten Erlös in Aktien der Hongkonger
Firma Peregrine Investments Holdings zu investieren.
Dabei handelte es sich um ein dynamisches Brokerhaus, das sich darauf spezialisierte,
neue Aktien von Unternehmen der Volksrepublik China an der Hongkonger Börse zu
plazieren. China gehörte die Zukunft, nicht Südafrika. Peregrine
Investments konnte man einfach liegen lassen, ohne täglich den Kurs zu verfolgen.
Im Asian
Wall Street Journal las Arnold, daß eine weltumspannende
Schmugglerorganisation, in die die Zweite Sektion des Militärischen
Abschirmdienstes in Peking verwickelt war, aufgeflogen war. Der oberste
Drahtzieher war nach Kanada entwichen, aber es gab viele Verhaftungen und sogar
zwei schnell gefällte Todesurteile.
Ein paar Tage später, als er zu
Hause den Briefkasten aufschloß, weil er eine Brokerabrechnung erwartete, sah
er einen pastellrosa Briefumschlag. Die Anschrift war in großen, fröhlichen
Buchstaben aneinandergereiht, die sein Herz heftig schlagen ließen. Auf dem
kleinen schwarzen Poststempel las er unterhalb von zwei chinesischen
Schriftzeichen den Ortsnamen Chongqing, die amtliche
Schreibweise für Tschungking. Noch im Hausflur riß er
den Umschlag auf. Er enthielt ein Dutzend Farbfotos, die er in Südafrika
aufgenommen hatte, und einen Bogen rosa Briefpapier mit Rosenmuster.
"Lieber Arnold,"
schrieb sie, "das Geburtstagsfrühstück in Port Elizabeth war für mich
einer der schönsten Augenblicke meines
Lebens. Ich habe mich so behütet gefühlt. Ich weiß, daß du in Südafrika nicht
gefunden hast, was du gesucht hast. Das war Schicksal. Wenn du das nächste Mal
nach China kommst, melde dich. Ich arbeite jetzt wieder ständig hier. Die
Telefonnummer meiner Mutter hat sich nicht geändert."