SEIDENRAUPEN FÜR CAPRI -  VON ANDREAS DONATH

                                                                                                     

ERSTES KAPITEL

 

Arnold hatte niemals Lust aufzuwachen, wenn er geweckt wurde. Egal, wann er ins Bett gefunden hatte, zum Aufstehen war es immer eine dreiviertel Stunde zu früh. Das erholsamste Stück des Nachtschlafs hätte noch vor ihm gelegen, aber jetzt wurde er durch ein beharrliches Pochen an seine Hotelzimmertür daraus vertrieben. Wer wußte überhaupt, daß er hier war, in der jüngsten Sonderwirtschaftszone Chinas? Von draußen wurde heftiger gegen die Holztür geklopft. Sein Herz begann zu rasen. Ein Ausländer in China mußte immer mit dem Schlimmsten rechnen.

"Feldmann!" rief eine forsche Stimme auf Deutsch, "sind Sie da?"

"Komme!" brüllte er durch das Zimmer, erleichtert, daß es nicht der Staatssicherheitsdienst war.

Arnold fuhr sich schnell mit den Fingern durch die Haare. Als er die Tür öffnete, drängte sich ein Mann herein, den er gestern erst am deutschen Stammtisch des Hotels kennengelernt hatte.

 "Schwierigkeiten mit dem Aufstehen?" grüßte der frühe Gast leutselig.

Sein Besucher war Ministerialdirektor Wehrmeyer, der aus dem Zollreferat des Bonner Finanzministeriums nach China entsandt worden war, um den hiesigen Zoll über moderne Fahndungstechnologie zu unterrichten. Ein athletischer, kontaktfreudiger Mann, der draufgängerisch und zugleich gewinnend wirkte. Sein Haar war angegraut, ohne ihn alt aussehen zu lassen. 

"Es war spät geworden, gestern Abend," entschuldigte sich Arnold. Sein Kopf war noch zugeschnürt von den endlosen Getränkerunden am gestrigen Stammtisch der Deutschen. Das Alter, das beginnende Alter, forderte seinen Tribut. Die meisten anderen waren jünger gewesen, Ingenieure auf Montage-Projekten oder leitende Mitarbeiter von deutsch-chinesischen Joint Ventures. Arnold, der nur ein paar Tage Zwischenhalt machte, war als Bankbeamter ein willkommener Gast an ihrem Stammtisch gewesen. Er hatte einige Runden Bier ausgegeben und sich offen an den Gesprächen des Abends beteiligt, bei denen es um die Wachstums-Chancen im China-Geschäft ging.

"Sie sind Mitarbeiter des BMZ, nicht wahr?" wollte der anscheinend gut ausgeschlafene Beamte von Arnold wissen.

"Nicht direkt. Ich bin bei der Hausbank des Entwicklungsministeriums."

"Ihre Bank sitzt in Köln, und Sie fliegen morgen nach Deutschland zurück? Habe ich das richtig mitbekommen?"

"Ja. Warum?"

"Ich habe einen Anschlag auf Sie vor. Ich bin da einer Sache auf der Spur, zu der ich die Meinung eines China-Kenners hören möchte."

"Ich weiß nicht," sagte Arnold überrascht. Daß jemand von sich aus seinen Rat hören wollte, kam fast niemals vor, obwohl er dafür recht gut bezahlt wurde.

"In einer Viertelstunde am Frühstücksbüffet?"

Wehrmeyer ging, einen Anflug von guter Laune hinterlassend. Er war der seltene Typ eines dynamischen Beamten, der es vielleicht bis zum Staatssekretär oder Minister bringen würde. Es war beruhigend, daß Deutschland solche Männer hatte.

Arnold zerrte den dunklen Fenstervorhang zurück. Gleißendes Licht brach in den Raum. Der Meerwind trieb hoch aufgetürmte Wolkenballen in das Mündungsdelta des Perlflusses. Im siebzehnten Stock des Hotels befand er sich fast in Anflughöhe der Monsunwolken. Ihr Aufmarsch wirkte gefährlich, wie die Androhung von Wolkenbrüchen und Überschwemmungen, Chinas uralter Geißel.

Als Arnold aus dem Lift trat, sah er Wehrmeyer schon in der Lobby stehen.

"Ich dachte, wir gehen ein paar Schritte an die Luft," schlug der Beamte vor.

Ein Hoteldiener riß ihnen die Tür auf. Es gab einen breiten gefliesten Gehweg neben der vierspurigen Autostraße.

"Ist Ihnen schon aufgefallen," fragte Wehrmeyer, "daß man hier mehr BMWs der Siebener Klasse sieht als Dreier?"

"Was mir auffällt, ist, daß die meisten das Lenkrad rechts haben, wie in Japan oder Hongkong, aber China hat Rechtsverkehr, und da sitzt der Fahrer links, wie bei uns."

"Gut beobachtet. Was schließen sie daraus?"

"Luxuswagen sind in Hongkong so teuer, das es kein Geschäft ist, sie nach China zu reexportieren."

"Nicht, wenn man sie bei der Werksniederlassung kauft. Es gibt Banden in Hongkong, die darauf spezialisiert sind, Luxuswagen zu stehlen und mit Schnellbooten nach China zu bringen. Seitdem ich hier neue Nachtsichtgeräte angeschafft habe, gehen uns immer mehr Schleichhändler ins Netz."

"Was machen Sie mit den erbeuteten Wagen?"

"Da sitzt des Pudels Kern. Nach hiesigen Vorstellungen ist Schmuggelware herrenlos. Die Wagen werden auf einem bewachten Parkplatz gesammelt, und von Zeit zu Zeit an einen begrenzten Kreis von Parteifreunden versteigert. Die greifen sich einen Siebener-BMW für einen Appel und ein Ei."

In diesem Augenblick hielt ein dunkelblauer VW-Schanghai vor ihnen am Straßenrand. Der Fahrer hupte kurz.

"Das ist mein Dienstwagen. Er holt mich immer ab, obwohl es nur acht Minuten zu Fuß sind. Würde es Ihnen etwas ausmachen, mich nachher im Hauptzollamt zu besuchen? Dann setzen wir unser Gespräch fort. Wissen Sie, wo es ist?"

"Ich denke, ja."

Wehrmeyer öffnete die hintere Wagentür und zwängte sich auf den Rücksitz. Der Fahrer hupte wieder und stieß in den laufenden Verkehr hinein, ohne den Blinker zu betätigen.

Arnold faltete seinen Stadtplan auseinander und suchte nach dem Weg zum Meeresufer, weil er den Seewind im Gesicht spüren wollte, um sich auszunüchtern. Das Meer war dunstverhangen. Er fand zwischen verfallenden Bunkeranlagen einen Fußpfad zu einer Felsgruppe, an der die graubraunen Wellen klatschend aufprallten. Der Gischt roch mehr nach Moder als nach Salz. Der typische Verwesungsgeruch tropischer und subtropischer Meere, den kein Fernreiseprospekt beschrieb.

Was für einen Grund hatte die deutsche Regierung, dem chinesischen Zoll Entwicklungshilfe zu leisten? Einem autoritären Staat, der sich das Massaker vom Tian Anmen und die Verfolgung religiöser Glaubensgemeinschaften leistete?

Der Gedanke an sein Frühstück trieb ihn zurück auf die Hauptstraße. Er fand ein nicht zu überfülltes Restaurant mit großen Fensterscheiben und hohen Decken, unter denen sich Ventilatoren drehten. Der Kellner wies Arnold einen Platz an einem großen runden Fenstertisch zu, an dem schon zwei alte Herren saßen.

Er bestellte eine Kanne Tee und eine Schüssel Reissuppe mit Hühnerfleisch. Die beiden Alten an seinem Tisch waren starke Raucher, aber sie bemühten sich, den Qualm nicht in seine Richtung wehen zu lassen. Er betrachtete ihre Gesichter: verrunzelte Haut, eingeschrumpfte Lippen, nur noch vereinzelte, nikotingebräunte Zähne, kurzgeschnittenes schütteres weißes Haar. Er schätzte ihr Alter auf über achtzig. Ihnen wurde das Essen zuerst serviert, dampfend heiße Tonschüsseln, gefüllt mit grauen Klumpen, dazu eine Flasche sechzigprozentigen Branntweins mit zwei winzig kleinen Stielgläsern. Der Alte, der weiter von ihm entfernt saß, drehte den Metallverschluß der Flasche auf und bemühte sich, trotz seiner ständig zitternden Finger beim Eingießen keinen Tropfen zu verschütten. Dann führten sie mit ihren Eßstäbchen die warme Speise an den Mund. Es waren Schweinefüße, die sie genußvoll benagten und ablutschten.

Hirseschnaps und gedämpfte Schweinefüße zum Frühstück. Sonst nichts. Wahnsinn, dachte er, sie holen sich ja den Tod. Und dann sah er mit großer Klarheit, daß diese beiden lebenslustigen Greise ja nichts anderes mehr vor sich hatten. Ihre Sanduhren waren leergelaufen, ihre Lebenszeit tief in die roten Zahlen geraten. Nichts konnte sie mehr hindern, sich endlich das zu leisten, was ihnen wichtig war, nach Jahrzehnten, angefüllt mit den Risiken des Bürgerkriegs, des Zweiten Weltkriegs, des Großen Sprungs Vorwärts, der Kulturrevolution und der Wirtschaftsreform. Alles das hatten sie hinter sich, und vor ihnen standen jetzt der Hirseschnaps, die Schweinsfüße und nach dem Essen eine Bank am Meeresufer, von der aus man stundenlang den Bewegungen der Wellen, der Möwen und der Frachtdschunken zuschauen konnte, die es schon seit Jahrtausenden gab, und die es immer noch geben würde, wenn die Bank eines Tages leer blieb.

Inzwischen war auch sein Essen gekommen. Er prostete seinen Tischnachbarn mit dem Teebecher zu, und sie erwiderten seinen Gruß, als teilten sie mit ihm ein geheimes Einverständnis.

Er bewunderte sie, weil sie in seinen Augen das Richtige taten. Er war bestimmt eine Generation jünger als sie. Aber sollte er noch dreißig Jahre warten, um spontan etwas Unvernünftiges zu tun? Etwas, das die Erfüllung aller seiner uneingestandenen Wünsche sein könnte? Seinem Leben neuen Sinn gab? Besaß er überhaupt noch einen Lebens-Traum, abgesehen davon, Business Class zu fliegen und einen reservierten Firmenparkplatz vorzufinden? Vielleicht war sein eigentliches Ich schon teilweise abgestorben, wie das Gewebe bei einem Herzinfarkt, abgeschnürt durch die Rücksichtnahme auf Karriere und Gesellschaft. Aber sein berufliches Vorwärtskommen war längst zum Stillstand gelangt, und er haßte es, in einer Firma zu arbeiten, in der über allem der Gestank veruntreuten Geldes lag, wie Verwesungsgeruch. Er hatte einen jüngeren Kollegen, der ein genialer Hacker war und sich den Spaß machte, den Lebenslauf von Entwicklungsgeldern von Konto zu Konto zu verfolgen, bis er vor Wut die Maus an die Wand warf. Ausrichten konnte er mit seinem Wissen nichts. Der ganze Apparat lebte davon, das Falsche richtig zu tun. Arnold hatte sich eine Nische geschaffen, in der er sich nicht die Hände schmutzig machen mußte. Aber Leben konnte man das nicht nennen. Nur Vegetieren. Sein ungelebtes Leben lief ziellos vor ihm her. Dabei gehörte es ihm. Es hatte ein Recht auf ihn.

"Zai jian," sagte er zu den vergnügten Greisen, "wir sehen uns wieder."

Es waren nur noch zwei Straßenblocks bis zu Wehrmeyers jetzigem Amtssitz. Eine sehr breite Freitreppe führte zum Hauptzollamt empor. Dort sah er sie. Eine junge Frau in einem eleganten gelben Seidenkleid. Sie stand zwei oder drei Stufen über ihm, so daß ihre forschenden Augen die gleiche Höhe hatten wie seine. Sie trug einen weitrandigen, weißen Sonnenhut, wie Arnold ihn zuletzt an seiner Mutter gesehen hatte, als sie noch eine junge Frau und er ihr einziges Kind gewesen war. Der Hut war nicht aus Stroh geflochten, er war mit einem halbtransparenten weißen Gewebe bespannt, das keinen Schlagschatten über ihre Züge warf, sondern sie gleichmäßig ausleuchtete, wie der weiße Schirm eines Modefotografen. Alles an ihr wirkte apart: die runde Stirn, die schmalen Backenknochen, die lange Nase, der breite Mund, das ausgeprägte Kinn und die tiefschwarzen Pupillen, deren Blick in sein Bewußtsein einzudringen und ihn gleichzeitig zum Dialog einzuladen schien. Er schaute auf ihr Gesicht unter dem Sonnenhut, und ihre Anmut überwältigte ihn.

"Kann ich Ihnen behilflich sein?" fragte sie mit einer kräftigen wohllautenden Stimme, die geschult klang, wie die einer Schauspielerin.

"Ich habe einen Wunsch," fing er an. Alles, was er eben noch gewollt hatte, war unwichtig geworden. Wehrmeyer konnte er später treffen. Er hatte jetzt nur noch das Ziel, seine Augen nie wieder vom Gesicht dieser Unbekannten loszureißen, und das hieß, den Augenblick der Trennung möglichst weit hinauszuschieben.

"Ich bin hier fremd," sagte er. "Ich habe noch nicht gegessen. Können Sie mir ein Restaurant empfehlen und mir beim Essen Gesellschaft leisten, wenn Sie Zeit haben?"

"Sie sind Deutscher, nicht wahr?"

"Kann man das hören?"

"Ich achte auf die Kleidung. Deutsche tragen meistens hellblaue Hemden."

Er blickte an sich hinab. Sie hatte recht.

"In diesem Teil der Stadt Gegend kenne ich mich nicht aus," erklärte sie, "Wo ich gerne bin, ist im Park "Sterne und Meer." Dort könnten wir hinfahren."

Als sie auf den nächstgelegenen Taxistand zugingen, kam eine junge Frau in auffallend schmutzbeflecktem Kleid mit einem Baby auf dem Arm auf sie zugestürzt und schrie: "Gei qian, gei qian - gebt Geld."

Eine Anzahl weiterer Bettler tauchte in Sekundenschnelle hinter ihr auf.

"Wo bu schi ni de wawa de baba - ich bin nicht der Vater deines Babys," herrschte er die Bettlerin an und schüttelte die Hand ab, die nach seinem sauberen Hemd griff. Er wollte auf keinen Fall vor seiner schönen Begleiterin als naiv-sentimentaler Ausländer dastehen. Sie war in ihrem frisch gebügelten gelben Seidenkleid einen Schritt zurückgewichen.

"Sterne und Meer," fragte er den Taxifahrer, "wieviel?"

"Dreihundert," sagte der Fahrer.

"Fünfzig," erwiderte er.

"Zweihundertfünfzig. Sie finden niemanden, der Sie für weniger fährt."

"Gehen wir zu einem anderen Taxistand," wandte er sich an seine Begleiterin. Er umfaßte schützend ihren linken Oberarm und zog sie mit sich. Die Bettler standen noch immer zusammen und stießen bedrohlich klingende Rufe aus. Nach vielleicht hundert Metern - er hatte ihren Arm wieder losgelassen - sagte sie: "Da vorn ist der Busbahnhof. Wir können mit dem Autobus hinfahren."

Sie kletterten in einen fast leeren Aluminiumbus, dem die Fenster fehlten und setzten sich auf eine rissige Plastikbank. Er überließ ihr den Fensterplatz, um gleichzeitig sie und die Welt draußen betrachten zu können.

"Was wollten Sie auf dem Zollamt?" fragte sie.

"Ich habe dort einen Freund."

"Sind Sie Exportkaufmann?"

"Ich arbeite für eine Bank." Er überreichte ihr seine Visitenkarte. Das Signet seiner Bank war ihr unbekannt, aber die Deutschland-Adresse gefiel ihr. Seinen Namen Arnold Feldmann las sie korrekt vor, aber die Worte "Volkswirtschaftliche Abteilung" konnte sie nicht aussprechen. Er erklärte ihr, daß er nichts mit Exportfinanzierung zu tun habe, sondern Berater für Auslandsinvestitionen sei und Joint Ventures betreue. Dabei verschwieg er, daß sein Ressort hauptsächlich Daten zur Wirtschaftsentwicklung sammelte, um Konjunkturprognosen zu erstellen. In manchen asiatischen Staaten waren solche Aktivitäten unbeliebt, ja sogar strafbar.

Die Visitenkarte, die sie aus ihrer kleinen Geldtasche zog, sah mit ihrer erhaben auflackierten Schrift viel wertvoller aus als seine. Sie hieß Zhang Meilan und war - so las er - Exportmanagerin bei "Universal Silk", einer Textil- und Modefirma. Er war überrascht, denn er hatte sie für eine Sprachstudentin gehalten, die im Gespräch mit ihm ihre Englischkenntnisse aufbessern wollte.

"Zhang," fragte er, "das ist Ihr Familienname?"

"Ja." Sie lächelte ihn belustigt an, denn ihr war klar, daß er in Wirklichkeit wissen wollte, ob sie tatsächlich die Person war, zu der diese Visitenkarte gehörte.

Er drehte die Visitenkarte um. Sie war auf der Rückseite mit chinesischen Schriftzeichen bedruckt.

"Können Sie das lesen?" fragte sie.

"Meilan," riet er, "ist der Name einer Blume."

"Sehr gut," bestätigte sie.

"Sie sind weit schöner als jede Blume."

Sie lächelte selbstzufrieden ohne etwas zu erwidern. Er drehte die Karte zurück auf die englische Seite.

"Was stellt Ihre Firma her?"

"Damenmode. Wir entwerfen eigene Kollektionen, die wir in alle wichtigen Länder liefern. Und wir übernehmen Auftragsproduktionen für Modehäuser in Italien." Sie hob kokett den Saum ihres gelben Seidenkleides an.

"Gefällt Ihnen das?"

Die Frage gab ihm das Recht, sie von oben bis unten zu mustern. Obwohl sie einen Kopf kleiner war als er, wirkte alles an ihr schlank und langgestreckt: der zierliche Hals, die gebräunten dünnen Arme, die straffe, schmale Taille.

"Ich habe noch nie so ein schönes Kleid gesehen."

"Wie schade, daß Sie kein Mode-Einkäufer sind."

Der Bus setzte sich in Bewegung. Ein Schaffner trennte mehrere Ticketabschnitte von einer dicken Rolle ab. Zhang Meilan bezahlte mit Kleingeld und ließ sich von ihm nichts zurückgeben. Er zeigte ihr im Vorbeifahren das Hotel, in dem er wohnte. Sie nickte anerkennend. Er war glücklich, neben ihr zu sitzen. Allein ihre Anwesenheit stimmte ihn froh, so wie es Freude bereiten kann, eine langstielige gelbe Rose zu betrachten, einen Sonnenuntergang im Andamanischen Meer, einen Teller mit Saltimbocca, oder eine Marmorstatue der griechischen Jagdgöttin Artemis, deren Hunde den jungen Aktäon zerrissen, weil er nicht aufhören konnte, sie anzuschauen.

Sie streckte die Hand durchs offene Busfenster und erklärte ihm wie eine erfahrene Fremdenführerin die Sehenswürdigkeiten der Stadt. Sie verließen gerade das neu erbaute Hotelviertel mit seinen verglasten Hochhausfronten und den kleinen mediterranen Villen mit keck angeschrägten Ziegeldächern auf glattrasierten Grünflächen, die den Wochenendtouristen aus Hongkong das Gefühl von Individualität und Weite vermitteln sollten. Im Osten lag der neue Hafen mit dem Containerterminal. Dort fand auch die Zollabfertigung statt. Er fragte sie, ob die Textilexporte von "Universal Silk" über diesen Containerhafen liefen. Massenware ja, sagte sie, die ginge je nach Schiffsverbindung von hier aus oder ab Hongkong in Containern in alle Welt, neuerdings auch nach Südafrika, aber Spezialanfertigungen würden per Luftfracht ausgeliefert.

"Das sind Auftragsproduktionen, die müssen ganz aktuell zur Saison auf den Markt kommen."

Als sie in den langen, unbeleuchteten Tunnel einfuhren, der zur Nordstadt führte, war er blind, konnte nichts mehr erkennen, und er hätte sich am liebsten mit beiden Händen davon überzeugt, daß Zhang Meilan noch neben ihm saß, so unbegreiflich war es ihm, daß sie sich ihm angeschlossen hatte. Dann sah er ihre Silhouette im Scheinwerferlicht eines aufschließenden Wagens, erst nur ein Scherenschnitt, und dann ein Mensch aus Fleisch und Blut. Es war gut, daß er sie nicht berührt hatte. Beim Durchfahren von Tunneln kam man manchmal auf irre Ideen, aber sein Wunsch, ihr nahe zu sein, war mehr als eine Verrücktheit.

Der Bus verließ die Hauptstraße und kreuzte durch ein neu erbautes Industrieviertel. Er erkannte ein deutsch-chinesisches Joint Venture, das er vor zwei oder drei Tagen besucht hatte. Es war ein Unternehmen, das schwere Transformatoren für Umspannwerke baute. Der Firmenchef van Achten war ein massiger Mann Ende Fünfzig, der sich vom Facharbeiter zum Firmenleiter hochgearbeitet hatte und am abendlichen Stammtisch der Deutschen in Arnolds Hotel gewissermaßen den Vorsitz führte.

Zhang Meilan machte ihn auf eine Textilfabrik aufmerksam, die der Konkurrenz gehörte, und auf eine Elektronikfirma, die Deng Xiaoping auf seiner Südchina-Reise besucht und als vorbildlich gerühmt hatte.

Die Busfahrt dauerte bereits eine dreiviertel Stunde, und es überraschte Arnold, daß seine Begleiterin auf der ganzen Strecke kein besuchenswertes Restaurant gefunden hatte, denn sie waren schon vor zwanzig Minuten am alten Hafen vorbeigefahren, wo es eine Reihe ausgezeichneter Feinschmeckerlokale gab, in denen man zu Spottpreisen köstlich speisen konnte, aber jede Minute länger, die er an Zhang Meilans Seite verbringen konnte, verbesserte die Erfolgsaussichten für seine Werbung um sie. Dabei entfernte er sich zwar immer weiter von Wehrmeyer und seinem Zollamt, aber sie hatten keinen festen Termin vereinbart.

Der Vergnügungspark, von dem seine Begleiterin gesprochen hatte, erwies sich als ein riesiges eingezäuntes Areal mit einem Eingangstor in Form eines Triumphbogens. Sie bestand darauf, die Eintrittskarten zu lösen, da sie als Einheimische billiger dran käme. Sie wollte auch nicht, daß er ihr seinen Anteil zurückgäbe.

"Ich habe jetzt wirklich Hunger," sagte er.

Sie deutete auf einen Pavillon rechts am Weg.

Unter dem geschwungenen Dach fanden sie einen Selbstbedienungs-Schnellimbiß, der gerade acht Gerichte anbot, Reis oder Nudeln mit jeweils Hühner-, Schweine-, Rindfleisch oder Krabben. Das Essen schmeckte nach nichts, aber für Arnold zählte nur eins: Daß er mit dieser bezaubernden Unbekannten zusammen war.

Sie fragte ihn nach seinen Lebensumständen, wobei die Frage nach seinem Zivilstand den ersten Platz einnahm. Er erzählte ihr, daß er zur Zeit allein in einer kleinen Eigentumswohnung lebte und einen BMW fuhr. Da sie Geschäftsfrau war, erzählte er ihr auch von dem Projekt seiner Bank, in den ärmsten Länden Ostasiens den Aufbau von Genossenschaftskassen zu unterstützen, um Arbeitslosen und Unterbeschäftigten die Gründung einer eigenen Werkstatt oder eines kleinen Ladens zu ermöglichen.

"Das gibt es bei uns schon immer," kommentierte sie. "Fast jede Familie hier zahlt regelmäßig in einen Sparverein ein, der das Geld zu hohen Zinsen an Geschäftsleute ausleiht."

"Das ist ja der Punkt. Hohe Zinsen machen jedes Geschäft kaputt. Unsere Absicht ist es, ungesicherte Kredite zu niedrigen Zinsen zu vergeben."

Sie sah ihn verständnislos an.

"Warum soll jemand Geld ausleihen, wenn er dafür keine guten Zinsen bekommt?"

Sie lächelte ihn so gewinnend an, als hätte sie ein unwiderlegbares Argument angebracht. Er nickte zerstreut. Hinter dem Charme ihres Lächelns sah er die Härte des chinesischen Geschäftslebens, von der er an diesem Nachmittag nichts wissen wollte.

Sie verließen das Restaurant und kamen zu einer Art Haltestelle, an der ein Jeep mit einem Soldaten als Fahrer stand.

"Von hier aus kann man zum Schießstand fahren", erläuterte sie, "er liegt weiter draußen in einem Steinbruch."

"Was machen wir dort?" fragte er unbehaglich, "mit einem Luftgewehr auf Papierblumen schießen?"

"Ich dachte, ein Deutscher zieht richtige Waffen vor."

"Heißt das, man schießt dort mit echten Waffen und scharfer Munition?"

"Viele Ausländer sind ganz verrückt darauf."

Sie führte ihn zu einer Schautafel, auf der das Waffenangebot und die verlangten Preise in Chinesisch und Englisch aufgeführt waren.

Er zählte vierundzwanzig verschiedene Waffenkategorien, angefangen mit leichten Handfeuerwaffen.

Wollte sie sich über ihn lustig machen, oder schätzte sie ihn so falsch ein? Er hatte sich schon entschlossen, sie zu erobern, doch dazu brauchte er nur die Augen, den Mund und seine Fingerkuppen.

"Eine Pistole Walther," las sie vor, "ist das nicht ein deutsches Fabrikat? Kaliber fünf Komma sechs, jeder Schuß 5 Yüan."

"Bei uns bevorzugt man jetzt die Glock, mit neun Millimeter Munition," behauptete er, betont sachlich, obwohl ihm die Anstößigkeit des Angebots den Atem abdrückte.

"Gibt es sicher auch. Da, eine Neun-Millimeter Pistole Typ 59, jeder Schuß 12 Yüan."

Es ging weiter mit Maschinenpistolen, Sturmgewehren - aber keiner AK 47 - bis hin zum SMG, Kaliber 7,62. Jeder Schuß zwölf Yüan. Aber wer gab daraus schon Einzelfeuer ab?

Am unteren Ende der Werbetafel stand eine Fliegerabwehr-Kanone und zu guter Letzt ein Raketenwerfer, panzerbrechend, achthundert Yüan pro Schuß.

"Wenn du ein Waffensystem nicht kennst, wirst du kostenlos eingewiesen. Wäre das nichts?"

"Die Preise hier sind überteuert," erklärte er kategorisch.

"Ich habe kanadische Geschäftsfreunde auf den Schießstand begleitet. Die waren ganz begeistert."

"In Kanada gibt es Bären und Wölfe, gegen die man sich verteidigen muß. Ein Deutscher hat keine natürlichen Feinde."

"Ich kann Ihnen etwas anderes zeigen."

Sie führte ihn zu einer Gruppe niedriger Häuser mit Strohdächern und Butzenscheiben.

In diesen Gebäuden waren mit Wachsfiguren Höhepunkte aus den Märchen der Gebrüder Grimm nachgestellt. Er hatte die Märchen ewig nicht mehr in der Hand gehabt, aber als er ein Kind gewesen war, hatte seine Mutter sie ihm vorgelesen, wieder und wieder, bis er sie auswendig konnte. Er kannte sie noch, und er fühlte sich wie ein kleiner Junge, als er seiner Begleiterin mit vor Aufregung zitternder Stimme die Handlung der Märchen nacherzählte.

Zhang Meilan ließ sich von seiner Begeisterung anstecken, sie hing an seinen Lippen, ja sie sprach ihm sogar auf Deutsch die Verse nach: "Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?"

Ihr Gesichtsausdruck verriet, daß ihr die Antwort bewußt war.

Später kamen sie an einen großen Teich auf dem man Boot fahren konnte. Aber es gab keine Stelle, auf der man vor den neugierigen Blicken der Spaziergänger am Ufer vollständig abgeschirmt gewesen wäre. Sie saßen sich im Boot gegenüber, er tauchte die Ruder langsam ins Wasser und schaute ihr bewundernd zu, wie sie mit ausgestellten Beinen vor ihm saß, den Sonnenhut in den Nacken geschoben, den Rocksaum bis an die oberste Anstandsgrenze hochgerafft.

Sie erzählte ihm von sich, er fragte nach, und sie breitete die Geschichte ihres Lebens in Kurzform vor ihm aus. Als Oberschülerin war sie so wissensdurstig, daß sie den besten Abschluß aller Schülerinnen des Schuljahrs machte und einen Studienplatz an der Sprachenhochschule bekam, wo sie Englisch studierte. Nach dem Abschluß wurde sie Englisch-Lehrerin an einer Schule, und die Schulleitung - oder, wie man damals sagte, ihre Einheit - arrangierte für sie eine Hochzeit mit einem Lehrerkollegen. Aber schon nach wenigen Tagen wußte sie, daß sie für das Eheleben nicht geschaffen war, und es gelang ihr gegen große Widerstände die Scheidung durchzusetzen. In ihrer Einheit war sie als geschiedene Frau ein Mensch, dessen Existenz als Störfall empfunden wurde, und als die Wirtschaftsreform begann, konnte sie dank ihrer Englischkenntnisse in einer Exportfirma angestellt worden und dort schnell ins Mittel-Management aufsteigen.

Aus ihren Erzählungen entnahm er, daß sie das Kaufmännische gewissermaßen mit der linken Hand erledigte, aber keine geborene Unternehmerin war, die ständig an Umsatzausweitung und Gewinnmaximierung dachte. Ihr Lebensinhalt schienen ihre Hobbys zu sein: Literatur, Musik - vor allem westliche Oper, ihr Idol hieß Maria Callas, von der sie schon mehrere CDs besaß - außerdem Reisen und gutes Essen.

Am liebsten hätte er sie gefragt, warum sie ihn dann in diesen schrecklichen Schnellimbiß geschleppt hatte, aber er erhoffte sich - unvorstellbar wie es war -, daß sie schon, als sie ihn auf der Treppe ansprach, den Plan gefaßt hatte, ein weites Netz auszulegen, um ihn für sich einzufangen.

Als sie als erste wieder ans Ufer kletterte, konnte er an ihren Beinen bis zu den Hüften hinaufblicken, und der Wunsch, all das, was er sah, an sich zu drücken, durchflutete ihn. Der Märchenreim von der Schönsten im ganzen Land drehte sich wie ein Ohrwurm durch seinen Kopf.

Als sie den Ausgang des Parks erreichten, sank schon die Dämmerung, subtropisch schwül, durchwebt vom erschreckten Kreischen kleiner Vögel, die sich nicht damit abfinden wollten, daß der Tag mit all seinen Versprechungen zu Ende war und das Regime der Nacht begann.

Auf seinen Vorschlag hin fuhren sie mit dem Minibus zum alten Hafen, wo er ein Fischrestaurant direkt am Meer kannte. Dort konnte man im Freien sitzen und die lampengeschmückten Silhouetten der Schiffe beobachten, die über das dunkle Wasser des Perlflusses in Richtung Hongkong glitten. Der Wirt erkannte Arnold wieder und begann vor Höflichkeit zu tänzeln, als er seine Begleiterin sah.

Die Gerichte, die man ordern konnte, schwammen noch sehr lebendig in viereckigen Metallwannen. Fische aller Größen, Hummer, Seeschlangen. Die einzigen Lebewesen, die nicht erst für den Besucher getötet werden mußten, waren die Krabben, die in großen Körben lagen und nach Gewicht verkauft wurden. Er bestellte für beide zusammen ein Kilo Scampi, die gedünstet mit Sesam-Soja-Knoblauchsauße und weißem Reis aufgetragen wurden.

Seine Begleiterin fand es viel zu umständlich, daß er jede Krabbe einzeln aus ihrer dünnen Schale pellte und machte ihm vor, daß man die Schalen einfach zerkaute und mitaß. Aber es war ihm unangenehm, daß die Schalenreste wie Fischschuppen an seinem Gaumen kleben blieben. Deshalb beließ er es bei seiner Methode, und sie half ihm seine Scampis zu schälen. Bewundernd und gebannt verfolgte er, wie sie mit ihren flinken Fingern die rosigen Leiber der Krabben aus ihren Hüllen löste.

"Wissen Sie welchen Körperteil ich bei einer Frau am anziehendsten finde?" fragte er übermütig.

"Nein," sagte sie und zog die Hände unter das Kinn, um ihm den Ausblick auf ihren Busen zu erschweren, aber gerade mit dieser Geste rückte sie in sein Blickfeld, was ihm am besten gefiel.

"Es ist nicht, was Sie denken."

"Bestimmt nicht?" fragte sie ungläubig. "Wenn Sie von hier und mein Großvater wären, dann könnten es meine Füße sein."

"Falsch," erwiderte er. "Ich bin nicht Ihr Großvater. Ich bin auch zu jung, um Ihr Vater zu sein. Ich könnte höchstens..."

"Sagen Sie mir," schnitt sie ihm das Wort ab, "was Ihnen an mir am besten gefällt.

"Darf ich?" fragte er und umfaßte ihren nackten Oberarm mit der Hand. Erstaunt ließ sie ihn gewähren. Als er ihre Haut etwas preßte, fehlte nicht viel, und er hätte seinen Daumen mit dem Mittelfinger berühren können.

"Das ist mein absolutes Schönheitsideal," erklärte er, "wenn eine Frau schlanke Oberarme besitzt. Hat Ihnen noch niemand gesagt, daß sie schöne Arme haben?"

"Sie sind verrückt." Der Klang ihrer Stimme verriet einen plötzlichen Wechsel vom Flirtstadium zur Zurückweisung. Verlegen griff er nach seinem Bierglas, das dicker war als ihr Oberarm.

"Lieben Sie Karaoke?" fragte sie.

"Ich kann nicht singen."

"Ich würde Ihnen gerne ein Lied vorsingen."

Sie gingen zurück zur Hauptstraße und ließen sich von der Leuchtreklame einer Karaoke-Lounge leiten. Über ein mit roten Glühbirnen geschmücktes Treppenhaus gelangten sie in einen schummrig erleuchteten Barraum im ersten Stock. Junge Frauen mit zugeschminkten Gesichtern und langem, offenem Haar saßen in viel zu kurzen Kleidern in Plüschsesseln herum. Ein Maitre de Plaisir in weißem Dinnerjackett trat an sie heran:

"Wünschen Sie ein Zimmer für sich?"

Arnold brachte kein Wort hervor. Angst und Hoffnung schnürten ihm die Kehle zusammen.

"Entschuldigung," sagte Meilan mit ihrer festen, sicheren Stimme, "wir sind hier falsch."

Ein Gefühl der Erleichterung schoß Arnold ins Bewußtsein. Als sie die schlecht erleuchtete Treppe zurück nach unten stiegen, legte er den Arm um ihre Schulter. Ihr Körper signalisierte weder Ablehnung noch Zustimmung. Sie war damit beschäftigt, die Wut darüber zu verarbeiten, daß sie in diese Situation geraten war. Wieder auf der Straße, hatte sie so schlechte Laune, daß er erschrak. Aber sie gab nicht auf.

"Es muß hier ein richtiges "Kala-okey" geben." Sie sprach den Begriff in chinesischer Intonation aus, das japanische "R" vermeidend. Dabei ging der eigentliche Wortsinn des aus Japan stammenden Namens verloren. Im Japanischen bedeutet Karaoke "leeres Orchester." Leer nicht im Sinne fehlender Orchestermusiker, sondernd des Wartens auf einen Hauptdarsteller.

Der Gehsteig vor den Häusern der Hauptstraße, über den sie sich bewegten, hatte keine einheitliche Breite und Höhe, sondern war von Grundstücksgrenze zu Grundstücksgrenze unterschiedlich gestaltet. Sie mußten daher beim Gehen ständig aufpassen, daß sie sich nicht die Knöchel verstauchten. Aus Sicherheitsgründen hielten sie sich an den Händen fest.

Ein etwas zurückgesetzter Bungalow, der früher ein Feinschmeckerlokal beherbergt haben mochte, erfüllte ihre Erwartungen. Große runde Tische mit bequemen Rattansesseln. Im Hintergrund eine kleine Bühne mit rechts und links einem Großbildfernseher, auf die von DVD-Platten Musikvideos aufgespielt wurden. Es handelte sich um offenbar allbekannte Schlager, denen aber die Stimme des Sängers fehlte. Dafür sprangen die Gäste ein. Auf jedem Tisch lag eine Liste, die wie eine Weinkarte aussah, aber eine Auflistung aller Musik-Videos enthielt, die vorrätig waren.  Auf einen vorgedruckten Abreißblock notiertie Zhang Meilan ihren Namen und die Nummern der Lieder, die sie singen wollte. Die Serviererin, die die Bestellungen für ihre Getränke entgegennahm, sammelte auch die Liedwünsche ein. In der Reihenfolge ihrer Meldungen, erklärte Zhang Meilan, wurden dann die Gäste ans Mikrophon auf der Bühne gebeten, von Scheinwerfern angestrahlt.

Die Besucher waren überwiegend jüngere Leute, Liebespaare, Arbeitskollegen, junge Familien mit kleinen Kindern. Als Hilfe für die singenden Amateure lief der Text des Schlagers über den Bildschirm, und das gerade aktuell zu singende Wort flackerte in einer Kontrastfarbe auf. Nach etwa einer Viertelstunde wurde Zhang Meilan aufgerufen. Ihre Stimme klang voll und fest, und ein Raunen ging durch den Raum.

Das Lied, das sie sang, war ihm bekannt, es war sogar ein Ohrwurm neueren Datums, aber er konnte es nicht einordnen. Plötzlich erkannte er, daß es ihre Frauenstimme war, die das Lied verfremdete, aber gleichzeitig alles an Gefühl herausholte, was drinsteckte: "It's only words, and words is all I have."

Es war totenstill im Raum geworden. Ihm schossen die Tränen in die Augen. Er begriff, daß sie dieses Lied als Huldigung an ihn vortrug, mit der Betonung auf "words is all I have."

 Als sie geendet hatte, klatschten die Anwesenden Beifall, mehr als bei jeder anderen Darbietung vorher. Er war stolz darauf, daß sie diese Wirkung hatte. Sie war außerordentlich. Sie setzte sich wieder und bemerkte, daß seine Augen noch feucht waren. Spontan legte sie die Hände auf seine Finger. Er begann ihre Unterarme zu streicheln, und er spürte ihre körperliche Reaktion ganz stark in seinen Fingerspitzen. Mit dem Knie rieb er ihren Oberschenkel.

"I hope it is more than words you have for me," raunte er ihr zu. Sie erstarrte, als hätte er den falschen Knopf gedrückt.

"Ich bin auf einmal todmüde," erklärte sie. "Ist es recht, wenn wir Schluß machen?"

Sie wollte nicht, daß er sie nach Hause begleitete. Sie wollte nicht, daß er ihr ein Taxi bezahlte. Sie hatte keine Zeit, ihn morgen oder übermorgen oder am Wochenende wiederzusehen, auch nicht am Abend, nach ihrer Arbeit. Er hätte ihretwegen seinen für den nächsten Tag geplanten Abflug verschoben, aber er sagte ihr nichts davon, er fühlte sich verletzt. Sie trennten sich an einer Minibushaltestelle, von der aus jeder in seine Richtung heimfahren konnte. Er beugte sich zu ihr hinunter - sie war fast dreißig Zentimeter kleiner als er - und küßte sie auf den Mund. Ihre Lippen erwiderten nichts. Nur ihre Hand streichelte kurz seinen Arm.

Sie kletterte ohne seine Hilfe in einen zum Ein- und Aussteigen haltenden Minibus und setzte sich auf einen Fensterplatz, den zusammengerollten Sonnenhut in der Hand. Ihr Profil schwebte noch eine Weile zwischen weißen und roten Autoleuchten. Sie drehte sich nicht ein einziges Mal nach ihm um.

Als er in sein Hotel kam, war die Mitternacht schon nahe gerückt.

Der Rezeptionist, der ihm den Schlüssel übergab, sagte:

"Ihre Genossen haben nach Ihnen gefragt. Sie sitzen noch in der Bar."

Drei Teilnehmer des gestrigen Stammtisches, van Achten und zwei Kraftwerks-Ingenieure, saßen am gleichen Platz wie gestern, aber auf dem Tisch standen keine Biergläser sondern Unmengen leerer Kaffetassen.

"Wo waren Sie den ganzen Abend?"

"Ich habe Kontakte gepflegt."

"Nehmen Sie Platz. Was Sie nicht wissen können, Ministerialdirektor Wehrmeyer ist tot."

"Unmöglich," sagte Arnold. "Um ein Haar hätte ich ihn heute mittag noch gesehen."

"Er starb heute mittag an einem Herzinfarkt."

"Wie ist denn das passiert?"

"Bei der Arbeit im Zollamt. Man hat ihn tot in seinem Zimmer gefunden."

"War er allein, als es passierte, oder waren Leute bei ihm?"

"Das sind Fragen, die niemand beantworten will," brummte van Achten. "Ich habe vorhin mit dem deutschen Konsul in Kanton telefoniert. Sie schicken uns morgen einen Beamten, der sich um alles kümmert. Mal sehen, ob der das packt."

"Er wirkte so sportlich," erklärte Arnolds übergewichtiger Tischnachbar, "aber das ist vielleicht gerade gefährlich. In diesem Klima muß man jede Anstrengung vermeiden."

"War er als deutscher Beamter hier," fragte Arnold, "oder für die Zollunion?"

"Der Bund hat sein Gehalt gezahlt. Schrecklich, der arme Kerl."

"Ich kann es nicht fassen." Arnold bestellte eine Runde französischen Cognacs. Jedes Glas kostete so viel wie ein Schuß aus der Fliegerabwehr-Kanone.

"Eine Gedenkminute," kündigte van Achten an. Sie hielten die Cognacschwenker in die Höhe und blickten betreten aneinander vorbei.

Van Achten, der so etwas wie der Sprecher der Deutschen war, zog einen Briefumschlag des Hotels aus seiner Jacke, die über der Rücklehne des Stuhls hing.

"Ich war auf seinem Zimmer und habe seine Sachen gesichtet," berichtete er. "Das hier habe ich gefunden."

Der Name Feldmann stand auf dem Couvert.

"Wollen Sie das an sich nehmen?" fragte van Achten.

"Warum hat er mir das nicht heute morgen gegeben? Soll ich aufmachen?"

Van Achten nickte. Arnold riß den Umschlag auf und zog mehrere Bogen Papier heraus. Sie waren flüchtig beschriftet mit Abkürzungen für Autotypen und langen Zahlenkolonnen.

"Was ist das?" fragte Arnold und ließ die Zettel herumgehen.

"Fahrgestellnummern von Luxuskarossen," mutmaßte der Mann von Siemens. "Möglicherweise hat sie der Zoll beschlagnahmt. Hier wird viel aus Hongkong reingeschmuggelt."

"Vielleicht sollte ich die Daten an die Hersteller weiterleiten," mutmaßte Arnold.

"Versuchen Sie es."

"Hier," sagte der dritte Mann, der die Bogen ganz auseinander gefaltet hatte, "das ist keine Luxuslimousine. Können Sie etwas damit anfangen?"

Van Achten ließ eine Lesebrille mit halbmondförmigen Gläsern über seinen Nasenrücken gleiten und betrachtete das Blatt mit ausgestrecktem Arm.

"Seidenraupen für Capri," las er laut. "Ursprung: wo? Fakturierung durch die Zweite Sektion. Verschiffung mit Evergreen oder Continental Mariner."

Van Achten schüttelte abwägend den Kopf. "Das macht überhaupt keinen Sinn. Evergreen ist die große Container-Reederei in Taiwan. In der sogenannten Zweiten Sektion sind die Auslandsaktivitäten des militärischen Abschirmdienstes von Peking zusammengefaßt. Es heißt, sie sind mächtiger als das Politbüro. Diese Notiz muß versehentlich unter die anderen geraten sein."

Van Achten hielt plötzlich ein Feuerzeug in der Hand, brannte eine Ecke des Blattes an und warf das brennende Papier in den Aschenbecher, wo es sich in Wellen aufbäumte, wie die Brandung des Meeres draußen.

Arnold wollte protestieren. Es war seine Information, die sich in Nichts auflöste.

"Wenn man länger in Asien ist," widersprach er, "hört man viel über Geheimkontakte zwischen Peking und Taiwan."

"Alles Malaria-Phantasien," knurrte van Achten, "Whisky Phantome."

Arnold war nicht überzeugt, aber es überraschte ihn, wie gut van Achten über den Militärischen Abschirmdienst der Chinesen informiert war. Arbeitete er für Pullach?

In Hongkong war am folgenden Abend der Autoverkehr so zähflüssig, daß Arnold erst eine Stunde vor Abflug das Departure-Stockwerk betrat. Er ging sofort zum Lufthansa-Verkaufsschalter, an dem eine Chinesin mit glatt abgeschnittenem, ohrlangem Haar arbeitete.

"Wieviel Plätze haben Sie in der Business Class noch frei?"

Sie hackte auf die Computer-Tastatur.

"Einen."

"Wie voll ist Economy?"

"Ausgebucht, Waiting List."

Das bedeutete, er konnte weder mit einer freien Sitzbank zum sich Ausstrecken in der Touristenklasse, noch mit einem kostenlosen Übergang in die Business Class rechnen.

Er zeigte ihr sein Ticket.

"Ich bin auf Economy gebucht. Kann ich gegen Zuzahlung Business Class fliegen?

Sie studierte seinen Flugschein: "Warum kaufen Sie nicht bei uns ein Business-Class Ticket und lassen sich das Geld für diesen Flugschein in Deutschland zurückerstatten? Das ist für Sie die günstigste Lösung." Sie nannte ihm einen Preis, der ihm unglaublich billig erschien.

"Können Sie mir auch ein Rückflugticket geben?" fragte er spontan. Er wollte Meilan unbedingt wiedersehen. Ein Business-Class-Ticket blieb ein ganzes Jahr gültig.

Sie steckte seine Kreditkarte in den Abfrage-Automaten und tippte seinen Namen bereits in den Computer, bevor die Antwort da war. So wurden in Hongkong Geschäfte gemacht, dachte er anerkennend. In weniger als fünf Minuten war er viertausend Mark los geworden und hatte auch noch das Gefühl, ungeheuer günstig abgeschnitten zu haben. Vor allem kam er damit der Frau, die ihn so tief beeindruckt hatte, einen großen Schritt näher.

Auf dem Wege zum Flugsteig fand er ein Kartentelefon und wählte die Nummer, die auf ihrer Visitenkarte stand. Aber die Leitung war ständig besetzt. Auf den Bildschirmen mit den Abflugdaten las er neben seiner Flugnummer "Now Boarding". Er mußte noch durch die Sicherheitskontrolle. Sein Herz klopfte heftig, als sein Handgepäck durchleuchtet wurde, dabei hatte er nichts Verfängliches eingepackt. Die Notiz über den chinesischen Geheimdienst hatte van Achten ja vorsorglich verbrannt. Dafür mußte es einen Grund gegeben haben, hinter den Arnold nicht gekommen war. Er fand seinen Sitzplatz, der noch bequemer war, als er es sich vorgestellt hatte. Er streckte die Beine von sich.

"Seidenraupen für Capri". Arnold war nie auf Capri gewesen, nur auf Ischia, aber er hatte von seinem Schlafzimmer-Fenster aus die Felseninsel über dem Mittelmeer schweben sehen. Er konnte sich nicht vorstellen, daß es Maulbeerbäume auf Capri gab. Im alten China war die Ausfuhr von Seidenraupen bei Todesstrafe verboten. Und heute? Seit Jahren arbeiteten chinesische Forschungsinstitute daran, gentechnisch eine robuste, ertragreiche Seidenraupe heranzuzüchten. Es gab in Italien nur eine bescheidene Seidenraupenzucht in der Lombardei, aber italienische Seidenwebereien waren Weltspitze.

"Möchten Sie einen Champagner?" fragte die Stewardeß, die nach einem guten Parfum duftete.

Als er das Glas an die Lippen führte, sah Arnold das Gesicht des Zollbeamten vor sich, der ihm vorgestern erst, ein Glas Bier in der Hand, zugeprostet hatte, ein Mann voller Leben und Lebensfreude, und jetzt in einen Leichensack gepreßt. Hätte Arnold, wenn er gestern in der Mittagsstunde das Zollamt betreten hätte, Wehrmeyer schon tot oder noch lebend angetroffen? Wäre er womöglich am Leben geblieben?

In der Stunde, die Wehrmeyers Todesstunde gewesen sein mußte, war Arnold Meilan begegnet und von ihrer Schönheit überwältigt worden. Unauslöschlich hatte sich das Lächeln unter dem Sonnenhut in sein Gedächtnis gegraben. Er sah sie auf den Stufen vor dem Zollamt stehen, er sah ihre schlanken braunen Arme, mit denen sie sich am Bootsrand abgestützt und die langen Beine, die sie ihm entgegengestreckt hatte, während er die Ruder führte. Er hatte noch nie so viel Zuwendung empfangen - jedenfalls nicht, seit er in die Volksschule gehen mußte - und noch nie eine solche Zugehörigkeit verspürt.

Verbunden fühlte er sich auch den beiden vergnügten Greisen vom Frühstückstisch mit ihrer großen Hirsegeistflasche und den winzigen Portionsgläsern, ohne deren geheimes Einverständnis er niemals den Mut gefunden hätte, Zhang Meilan vor dem Zollamt anzusprechen.

 

 

ZWEITES KAPITEL

 

Als Arnold um sieben Uhr morgens seine Kölner Wohnungstür aufschloß, war es auf seiner biologischen Uhr bereits Mittagszeit in China. Er war hellwach und hatte Hunger. In den Reiserichtlinien der Bank war nicht festgelegt, ob die Tagesstunden nach einem Nachtflug schon Arbeitsstunden oder noch Reisezeit waren. In seinem Kühlschrank fand er Eier und ein paar Scheiben Käse, auf denen sich noch kein Schimmel gebildet hatte. Um nicht allein zu sein, legte er die Wassermusik von Händel auf. Er duschte ausgiebig und entschloß sich, seinen BMW wachzurütteln. Das Leben war zu wertvoll, um einfach blau zu machen.

Bevor er in die Bank fuhr, machte er einen Abstecher zum Musikhaus am Dom. Er schaute sich um, als er seinen Wagen im absoluten Halteverbot parkte, aber er sah weit und breit keine Polizeistreife.

Zum Glück herrschte in der Schallplattenabteilung noch kein Betrieb. So konnte er ungestört ein Geschenk für Zhang Meilan aussuchen. Er wollte sie beeindrucken, solange die Erinnerung an ihr Zusammensein frisch war. Er entdeckte die "Sizilianische Vesper" mit Maria Callas in der Hauptpartie. Als zweites wählte er die Strauß-Oper "Daphne" aus, die er schon gehört, aber noch nie auf einer Bühne gesehen hatte. Sie handelte von einer Nymphe, die sich nicht anfassen lassen will und deshalb in einen Lorbeerbaum verwandelt wird. Er fragte sich, ob die Empfängerin wohl die Parallele zu ihrer persönlichen Situation erkennen würde. Verhielt er sich nicht wie der Hirtengott Apoll, hemmungslos der Schönheit einer Zufallsbekanntschaft verfallen? Und glich Zhang Meilan nicht der zierlichen Nymphe der Oper, halb zu ihm hingezogen und halb abweisend? An der Kasse fand er noch eine mit roten Rosen bedruckte Glückwunschkarte.

Als er die Bank erreichte, war die Tiefgarage voll besetzt und er mußte sich auf den Besucherparkplatz stellen. Sein erster Gang führte ihn auf die Poststelle, wo er sich erkundigte, wie er die CDs auf dem schnellsten Wege nach China schicken könnte. Wenn Geld keine Rolle spielte, meinte sein Kollege, sollte er den Expreßdienst DHL nehmen. Der Bote der Firma müßte jeden Augenblick ins Haus kommen. Sie würden ihn auf Arnolds Zimmer schicken.

Arnolds Sekretärin schrie vor Aufregung als er unangemeldet in ihr Zimmer trat und umarmte ihn spontan. Sie hatte sich mit ihren fünfzig Jahren noch die Figur und die schlaksigen Bewegungen eines Backfischs bewahrt. Von ihren Kolleginnen wurde sie fast ausnahmslos Conrad genannt, und nicht Frau Conrad. Sie war glücklich verheiratet mit einem älteren Mann, der sie umsorgte und umhegte, seit er von seiner Firma in die Frühpensionierung geschickt worden war. Arnold küßte sie auf beide Wangen. Auf ihrer Schreibtischplatte lag ein dicker schwarzer Filzstift, den er sich auslieh. Er schloß die Verbindungstür zwischen ihren Zimmern und schrieb auf die Rosen-Karte: "Ich danke dir für den schönsten Tag meines Lebens." Dann bat er Conrad, ihm einen Termin bei seinem Chef zu beschaffen und machte sich über den Inhalt des Eingangskörbchens her.

Er mußte mehrere Schichten Papier abtragen, bis er auf etwas stieß, das nach Ärger aussah. Seine Stellungnahme zu einem Milliardenkredit an einen äquatorial-asiatischen Inselstaat war dem Vorstand nicht einmal vorgelegt worden.

Das C. der Unterschrift auf dem gelben Post-it-Zettel stand für Cornelia, die neunundzwanzigjährige persönliche Referentin des Vorstands. Sie war in ihrem Zimmer, gleich neben dem Lift. Sie hatte die Füße auf dem Tisch und nahm sie nicht herunter, als Arnold eintrat. Sie trug ein dunkelblaues Kostüm, das von der Art war, die Boutiquen unter dem Label eines Parfümherstellers verkaufen, aber nicht ganz so schick wirkte, als käme es aus dem Hause von Zhang Meilans italienischem Auftraggeber. Ihre Füße dagegen steckten in Lederschuhen, wie man sie in Milano oder Firenze bekam, und dort kosteten sie schon mehrere hunderttausend Lire. Sie führte ein Telefongespräch, das sie mit den Worten beendete: "Wir spielen das nach Gehör. Dann Tschüs."

"Wer hat das entschieden?" fragte er, seinen Bericht hochhaltend.

"Sie können mir die Hand küssen," erwiderte sie, "ich habe Ihre Karriere gerettet. Dieser Report hätte sie als ewig gestrigen Querulanten geoutet."

"Wollen Sie Ihren Chef ins offene Messer laufen lassen?" fragte er. Es war vielleicht der Jetlag, der jähe Wechsel von einem Kontinent in den anderen, der ihm eine Argumentationslust eingab, die er sonst unterdrückt hätte. "Der Kredit wird nie zurückgezahlt. Ich garantiere Ihnen, vier Wochen nach Eingang der Überweisung sind fünfzig Prozent der Summe auf Nummernkonten in der Schweiz und anderen Fluchtgeldoasen gelandet."

"Eine Entscheidung von solcher Tragweite wird nicht über den Daumen gefällt. Der Vorstand holt den Rat der besten Experten ein."

"Ich bin der Asienspezialist unseres Hauses."

"Das nimmt Ihnen niemand weg. Aber der Vorstand hat mit dem deutschen Botschafter des Landes gespeist, und die herrschende Meinung ist jetzt: Die Asean-Staaten befinden sich am Beginn einer Wirtschaftswachstums-Explosion. Es bedarf nur der Initialzündung durch billiges Kapital, dann werden wir zweistellige Wachstumsraten sehen. Ein bißchen Korruption, die Sie so verurteilen, hat auch ihr Gutes. Sie ist das Schmieröl der Wirtschaft. Ein Garant des Wachstums."

"Das hat der deutsche Botschafter gesagt?"

"Er hat den Anbruch des asiatischen Jahrtausends verkündet. Der Vorstand liebt Konzepte, Aktionsfelder, operative Strategien. Der Zukunft immer eine Länge voraus."

"Man muß das Geld in die richtigen Kanäle leiten."

"Feldmann," sagte sie ungeduldig, "wenn unser Haus Asien entdeckt, wertet das Ihre Position auf. Sie müssen sich überlegen, wie Sie das umsetzen wollen."

Ihre Sicht der Dinge gefiel ihm, auch wenn er ihre lässige Ausdrucksweise manieriert fand. Ob Zhang Meilan an ihrem Arbeitsplatz wohl auch so tüchtig war?

Arnolds Chef, Dr. Nagel, hatte ganz gegen seine Gewohnheit zwischendurch fünf Minuten Zeit für ihn. Er residierte in einem Eckzimmer mit von der Diele bis zur Decke reichenden Außenwänden aus Glas. Er hatte seinen Schreibtisch so gestellt, daß er immer das Licht im Rücken hatte. Das half beim Lesen gedruckter Texte, aber nicht von e-Mail. Als Arnold hereinkam, war er gerade dabei, sich auf beiden Wangen ein intensiv duftendes Toilettenwasser zu verreiben.

"Ich mach mir Sorgen," begann er, "ob das viele Reisen gut für Ihre Gesundheit ist. Ich habe eine medizinische Untersuchung gelesen, daß jede Interkontinentalreise die Lebenserwartung des Reisenden um Wochen verkürzt."

"Die moderne Medizin verlängert jedes Jahr unser Leben. Die Sterbetafeln der Versicherungen werden heraufgesetzt. Das gleicht sich aus."

"Ich habe zugesagt," kam Dr. Nagel zur Sache, "heute Abend im n-tv ein Statement zur deutschen Autoindustrie in China abzugeben. Können Sie mir einen Entwurf schreiben, anderthalb Seiten, plus eine Seite mit den Zahlen nach dem neuesten Stand..."

Arnolds Sekretärin steckte den Kopf ins Zimmer. Der DHL-Bote war da.

"Sie berichten auf der Mittwochskonferenz von ihren neuesten Erkenntnissen," entließ ihn der Chef.

DHL hatte eine standardisierte Versandtasche, in die Arnold die CDs mit der Rosenkarte steckte. Der Bote gab ihm eine Telefonnummer, unter der Arnold jederzeit den jeweiligen Aufenthaltsort der Sendung auf dem Weg nach China erfragen konnte. Ihre moderne Logistik machte das möglich. Arnold bezahlte hundert Mark, inklusive eines Trinkgelds, mit dem der Bote nicht gerechnet hatte.

Der Monatskalender, der in seinem Zimmer hing, war ein Werbegeschenk der ihm nicht näher bekannten chinesischen Firma Poly Technologies. Er hatte ihn unter mehreren ihm aus Ostasien zugeschickten Wandkalendern ausgewählt, weil er der größte und schönste war. Er riß das Farbfoto des Himmelstempels ab, das noch zum April gehörte, und blickte auf eine verwitterte Buddha-Statue. Im Zahlenfeld für den Monat Mai war die große Drei das heutige Datum, die Fünf der Tag, an dem Zhang Meilan das Päckchen öffnen würde.

Als er die Informationen über die Autoindustrie in China für seinen Chef auf dem Monitor zusammenstellte, hatte er plötzlich Sehstörungen. Die Worte auf dem Bildschirm schienen schwerer und schwerer zu werden, bis sie durch ihr eigenes Gewicht abzustürzen drohten. Er blickte auf die Uhr. Es war schon Abendessenszeit in China, genauer gesagt, die Zeit für den Cognac danach.

Er druckte das Statement und das Zahlenmaterial schnell aus. Er machte noch eine Diskettenkopie und gab alles seiner Sekretärin. Sie bestärkte ihn in der Absicht, vorzeitig nach Hause zu gehen und wollte gleich ein Taxi für ihn anrufen. Er brachte es aber nicht übers Herz, seinen BMW die ganze Nacht unter freiem Himmel auf dem Besucherparkplatz stehen zu lassen.

An der Einmündung zur Bundesstraße ging es leicht bergauf, und ein Taxi, das vor ihm an der Ampel wartete, rollte mit bedrohlicher Geschwindigkeit rückwärts auf ihn zu. Er schaffte es gerade noch, den Rückwärtsgang einzulegen und einen halben Meter zurückzusetzen. Dann krachte es hinten. Ein anderer BMW war näher an ihn herangekommen, als er es im Rückspiegel gesehen hatte. Falls er überhaupt in den Spiegel geblickt hatte. Das Taxi verschwand mit Vollgas um die Ecke. Es war gerade grün geworden. Der andere BMW-Fahrer stieg aus, ein junger Mann Ende Zwanzig. Arnold blieb nichts anderes übrig, als ebenfalls auszusteigen. Ein Streifenwagen der Polizei hielt neben ihnen. Ein junger Beamter und seine blonde kurzärmlige Kollegin betrachteten den Schaden. An der gummibewehrten Stoßstange von Arnolds sechzehn Jahre altem 318er war nichts zu sehen. Am Stoßfänger des anderen Wagens auch nichts. Aber der Fahrer behauptete, daß der rechte Abstandshalter zwischen Karosserie und Stoßstange einen halben Zentimeter kürzer sei als der linke. Das sei vorher nicht der Fall gewesen. Arnolds Versicherung müsse dafür aufkommen. Das wollte Arnold auf keinen Fall. Er wollte nicht zurückgestuft werden.

"Lassen Sie den Schaden bei BMW-Hammer richten. Ich werde die Rechnung direkt an die Werkstatt zahlen." Arnold kannte dort alle drei KFZ-Meister. Sie würden ihm keine fingierten Kosten berechnen.

Der junge Polizeibeamte hatte bereits angefangen, eine Verwarnung auszuschreiben.

"Ich bin doch nur dem Taxifahrer ausgewichen," entschuldigte er sich.

"Sie hätten nicht rückwärts fahren dürfen. Das war ein Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung. Warum haben Sie nicht gehupt?"

Ja warum nicht? Er hätte auf Conrad hören und ein Taxi nehmen sollen. Er war erschöpfter, als er angenommen hatte. Er überlegte, den Wagen jetzt stehen zu lassen, aber er sah keinen freien Platz, auf den er sich stellen konnte, und er hatte Angst davor, mitten im fließenden Verkehr rückwärts in eine enge Parklücke einzuparken. Das war noch nie seine Stärke gewesen, und es war, wie er gerade gelernt hatte, wahrscheinlich auch ein Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung. Langsam und bewußt vorsichtig fuhr er heim, vom ungeduldigen Hupen der Berufsverkehrs-Fahrer wachgehalten.

Am anderen Morgen wurde er schon sehr früh zu Dr. Nagel gerufen. Durch die Zeitverschiebung gegenüber Ostasien war er hellwach.

"Haben Sie gestern abend nt-v gesehen? Fanden Sie, daß ich es richtig gemacht habe?"

"Ehrlich gesagt," Arnold suchte nach hilfreichen Worten, "ich bin beim Fernsehen eingeschlafen. Vor Ihrer Sendung. Waren Sie zufrieden?"

"Ich habe nicht daran gedacht, daß man das Logo unseres Hauses einblenden könnte. Es gibt in der Öffentlichkeitsarbeit eine Diskette dafür. Ich habe ein paar Stück bestellt."

"Fünfzig Prozent des chinesischen Marktes hat VW," sagte Arnold.

"Ja, ja," erwiderte Dr. Nagel geistesabwesend. Das Thema war erschöpft.

Arnold rief die großen Automobilhersteller an, um sie über Wehrmeyers Nachlaß zu informieren.

"Die Diebstähle," erklärte ihm ein zynischer Firmensprecher, "sind von der Versicherung abgedeckt. Wir wollen Neuwagen verkaufen und keinen alten Schrott reaktivieren."

Ein anderes Haus erklärte: "Wir verkaufen gepanzerte Karossen an die Staatsführung, da wollen wir uns das Geschäftsklima nicht durch solche Lappalien verderben."

Offenbar hatte Wehrmeyer die Interessen der deutschen Industrie falsch eingeschätzt. Aber Finanzbeamten, wie er einer war, ging es wohl mehr um das Prinzipielle.

Sechs Tage später fand er abends in seinem Briefkasten die Benachrichtigung eines Expreßdienstes, der wissen wollte, wann er zu Hause anzutreffen wäre, um eine Sendung aus China in Empfang zu nehmen. Der Name des Schnelldienstes erinnerte ihn an Sprengstoff.

Als er den Briefbogen auffaltete und zum ersten Mal ihre Handschrift sah, durchfuhr ihn die Freude wie ein starker Akkord. Sie hatte eine ausdrucksvolle Schrift mit großen schwingenden Buchstaben, die wie aneinandergereihte Triumphbögen aussahen. Es war unmöglich, an der Handschrift zu erkennen, daß Englisch für sie eine Fremdsprache war. Auch für sie, schrieb sie, war es der schönste Tag ihres Lebens gewesen. Sie spürte auf ihren Lippen noch den Druck seines Abschiedskusses. Sie sehnte sich danach, ihn wieder in ihren Armen zu halten. Sie gebrauchte dafür den englischen Ausdruck "embrace." Das Wort "wieder" kam ihm in diesem Zusammenhang etwas kühn vor. Sie hatte beim letzten Mal gar nicht ihre Arme um ihn gelegt. Aber vielleicht hatte sie es so empfunden, und seine Verstimmung beim Auseinandergehen beruhte auf einem Mißverständnis. Oder hatte sie einfach vorformulierte Sätze aus einem englischen Liebesbriefsteller abgeschrieben? Aber auch dann steckte Zuwendung dahinter. Es war kein Fehler gewesen, daß er in Hongkong ein Rückflugticket gekauft hatte.

Über die CDs, schrieb sie weiter, hätte sie sich schrecklich gefreut. Sie kannte beide Opern noch nicht. Die Daphne gefiel ihr so gut, daß sie die Schlußarie gleich drei Mal hintereinander gehört hatte.

Wenn er wieder einmal nach China käme, schloß ihr Brief, wollte sie sich ein paar Tage frei nehmen, um ihm Sehenswürdigkeiten ihres Landes zu zeigen, die ein Tourist normalerweise nicht zu Gesicht bekäme.

Er wollte nicht bis zur nächsten Dienstreise darauf warten. Er wollte sofort Urlaub nehmen und sie wiedersehen. Als er den Brief las, war es in China wegen des Zeitunterschiedes schon nach Mitternacht. Er rief sie am nächsten Morgen von seinem Büro aus an und codierte das Gespräch als privat. Ein schlurrig sprechender Mann meldete sich mit den Worten:

"Wei, ni shi na yi-wei?"

Er legte verwirrt auf. Er hatte fest damit gerechnet, ihre warme Sopranstimme zu hören. Auf eine solche Hürde war er nicht gefaßt. Er besaß zu Hause einen chinesischen Sprachführer, in dem Standard-Telefongespräche abgedruckt waren. Den halben Abend verbrachte er damit, sich Mustersätze einzuprägen, wie "Bitte verbinden Sie mich mit der Nebenstelle."

Doch als am er am folgenden Vormittag das mühsam Einstudierte anzuwenden versuchte, befand sich eine Frau am anderen Ende der Leitung, die sofort in die englische Sprache überwechselte. Sie konnte ihn nicht verbinden, aber sie konnte ihm bestimmt weiterhelfen. Sie wußte über alle Aufträge Bescheid. Frau Zhang war - wenn er unbedingt mit ihr persönlich sprechen mußte, ab nächste Woche unter einer neuen Nummer zu erreichen. Sie rasselte die Zahlen so schnell herunter, daß er ihr nicht folgen konnte.

Er bat sie, die Nummer zu wiederholen. Sie tat es zwei Mal. Noch schneller und noch leiernder. Er gab die Hoffnung auf, sie jemals zu verstehen. Die Enttäuschung drehte sich wie eine riesige Zentrifuge in seiner Brust.

Als er sich am Montag nach dem Mittagessen lustlos an den Monitor setzte, steckte Conrad den Kopf durch die Tür. Sie hielt eine Unterschriftenmappe an die Brust gepreßt.

"Als Sie weg waren, ist ein Fax für Sie gekommen." Sie lächelte verschwörerisch. "Außer mir hat es niemand gesehen."

Er sprang auf und riß ihr die Mappe aus der Hand.

"Eine ausdrucksvolle Handschrift," sagte Conrad. "Sie gefällt mir ausgesprochen. Wirklich." Dann ließ sie ihn demonstrativ zum Lesen allein.

"Big News," schrieb Zhang Meilan. Sie war in das Stammhaus ihrer Firma in Tschungking zurückversetzt worden. Die Provinz Sezuan war ihre Heimat. Hier konnte man Ausflüge in die aufregendsten Landschaften Chinas unternehmen. Da war die Tiefebene des Roten Beckens. Hundert Kilometer nördlich von Tschungking stand das Geburtshaus Deng Xiaopings. Es gab heilige Berge mit buddhistischen Tempeln. Im Hochgebirge ragten die Gipfel ewigen Schnees siebentausendfünfhundert Meter in den Himmel. Ein Wanderpfad führte durch den Gletscher-Nationalpark. Oder man konnte sich im Schiff durch die tief eingeschnittenen Schluchten des Yangtse treiben lassen. Tschungking, so schloß sie, war nur zwei Flugstunden von Peking oder Hongkong entfernt.

Am Fuß der Seite stand der Name ihrer Firma und darunter fast unlesbar der Schriftzug "Poly Group". Das Wort Poly war genauso gedruckt, wie auf seinem Wandkalender. Wie gut, daß er gerade diesen Kalender aufgehängt hatte.

Er wählte sofort die Telefonnummer ihres neuen Büros. Schon nach wenigen Sekunden hörte er das Zischen der Satellitenverbindung. Aber niemand nahm ab. Wahrscheinlich saß sie gerade mit ihren neuen Kollegen beim Begrüßungsessen. "Xi Chen" nannte man ein solches Bankett in China, "den Staub der Reise abwaschen."

Vor dem Schlafengehen rechnete er sich aus, auf wieviel Uhr er den Wecker stellen mußte, wenn er sie vormittags im Büro erreichen wollte. Aufbleiben konnte er nicht so lange.

Um drei Uhr morgens Kölner Zeit war sie an ihrem Schreibtisch.

"Was für eine Freude, deine Stimme zu hören," sagte sie. "Wo bist du?"

"Zu Hause, in Deutschland, in Köln." Er bildete sich ein, sie enttäuscht ausatmen zu hören.

"Es kann sein," improvisierte er, "daß ich Ende des Monats dienstlich nach Peking muß. Ich könnte dich besuchen, wenn du Zeit hast. Wie ist das mit deiner neuen Stelle? Bestimmt hast du viel zu tun."

"Im Gegenteil," sagte sie. "Weil ich versetzt worden bin, habe ich Anspruch auf Sonderurlaub. Ich muß nur vorher wissen, wann du kommst."

Die Vorfreude schoß ihm in den Kopf. Er wünschte sich, etwas wacher zu sein, um seine Gefühle klarer auszudrücken. Er suchte nach Worten.

"Bist du zufrieden, daß du wieder in deiner Heimat Arbeit hast?"

"Stell dir vor, ich wohne bei meinen Eltern. Meine Versetzung kam so überraschend. Die Firma hatte keine Zeit, etwas vorzubereiten. Es ist wahnsinnig schwer, in Tschungking eine Wohnung zu finden."

"Ich werde alles versuchen, damit ich kommen kann."

"Du mußt mir sofort Bescheid sagen, wenn es mit der Reise klappt. Hast du was zu schreiben? Ich gebe dir die Telefonnummer meiner Mutter. Dort kannst du eine Nachricht hinterlassen, wenn ich nicht hier bin. Sie spricht natürlich kein Englisch. Du mußt es auf Chinesisch versuchen."

Während er die Zahlen aufschrieb, vernahm er bei ihr im Hintergrund ein Geräusch, als träte jemand unangemeldet in ihr Zimmer.

"Ich höre von dir," sagte sie und legte auf.

Solange sie sprach, war sie ungeheuer präsent gewesen, wie beim Abendessen im Fischrestaurant, als sie ihm die Scampi geschält hatte. Jetzt fröstelte ihn, weil er sich nichts über den Schlafanzug gezogen hatte, als der Wecker ihn aus dem Schlaf riß. Er goß sich einen Cognac ein, gerade so bemessen, daß er morgen früh wieder nüchtern sein würde. Dann legte er die CD mit den drei Klavierstücken von Schubert auf. Zum Teufel mit den Nachbarn.

"Meilan," sagte er halblaut, "Meilan." Er schlug seinen Taschenkalender auf. Pfingsten fiel dieses Jahr auf die letzte Maiwoche.

Frau Conrad besorgte ihm einen Termin bei Dr. Nagel.

"Ich habe mir überlegt, vor und nach Pfingsten zwei oder drei Tage Urlaub zu nehmen, wenn Sie damit einverstanden sind."

Der Chef nahm seine Brille ab und warf ihm einen Blick zu, aus dem Arnold Mißgunst herauslas und zugleich die Befriedigung, über seinen Antrag entscheiden zu können.

"Zu Pfingsten ist alles überlaufen, und Sie zahlen Höchstpreise," wand er ein.

"Es sind ruhige Tage hier im Hause. Wir müssen nicht mit Sonderaufgaben rechnen." Er ging davon aus, daß Dr. Nagel nichts so sehr haßte, wie unerwartete Herausforderungen. Für ihn mußte alles langfristig geplant sein.

"Haben Sie schon ein Ziel?"

"Ich fahre in die Berge," sagte er vage.

"Bekommen Sie überhaupt noch Ersatzteile für Ihr Gefährt?"

Arnolds BMW war sechzehn Jahre alt. Aber er schwebte immer noch wie eine Schwalbe durch alle Kurven und nahm die Rüttelschwellen in den verkehrsberuhigten Straßen überhaupt nicht zur Kenntnis.

"Ich werde wahrscheinlich das Flugzeug nehmen."

"Sehr vernünftig. Haben Sie schon eine Unterkunft?"

"Ich entscheide mich meistens in letzter Minute." Er wollte nicht die Unwahrheit sagen, aber auch nicht die Wahrheit.

"Sie können sich ja von dort aus melden." Ein Zögern. "Wenn Sie glauben, daß Sie Urlaub nötig haben."

Dr. Nagel ließ seinen Blick über die Papiere auf seinem Schreibtisch wandern, als überlegte er, welche Arbeit er an Arnold delegieren sollte, aber er fand keinen Vorgang, von dem er sich trennen konnte.

Dr. Nagel ging fast nie in Urlaub, und Arnold fragte sich, ob er seinen Urlaubsanspruch einfach verfallen ließ, um unentbehrlich zu wirken.

Als Arnold sich in seinem Vorzimmer zurückmeldete, steckte Conrad ihm ein Fax mit den Flugverbindungen von und nach Tschungking zu.

"Von ihr," flüsterte sie. Dabei waren es nur die acht Buchstaben seines Familiennamens, die Zhang Meilan handschriftlich über die Tabelle gesetzt hatte. Ihm war nicht klar, ob Conrad begriffen hatte, um was für eine Liste es sich handelte.

In der Mittagspause fuhr er zur Lufthansa-Agentur am Dom. Er durfte mit dem Ticket, das er in Hongkong erworben hatte, sowohl nach Hongkong als auch Peking fliegen. Plätze waren auf beiden Strecken noch frei.

"Wie steht es mit dem Visum?" fragte die Reiseberaterin. Daran hatte er überhaupt nicht gedacht. Wenn er über Peking einreisen wollte, mußte er in Deutschland ein Visum beantragen, das er als Bankangestellter nur bekam, wenn er die Einladung eines chinesischen Geschäftspartners vorwies. Also Hongkong. Dort erhielt man innerhalb von vierundzwanzig Stunden ein China-Visum.

Von Hongkong nach Tschungking gab es zwei Flüge in der Woche. Die Reiseberaterin konnte ihm für den 26. Mai einen Platz fest buchen. Er sagte zu. Die Reise stand. Als er auf die Domplatte trat, erblickte er vor dem Wahrzeichen Kölns mehr Touristen aus Japan und China als Einheimische.

 

DRITTES KAPITEL

 

Er war wieder in Hongkong und nur noch zwanzig Stunden von ihr entfernt. Mongkok, wo er abgestiegen war, bildete im Norden der Halbinsel Kowloon das am typischsten chinesische Stadtviertel der Kronkolonie. Es war ein auf hohem Niveau rückständig gebliebenes Stück China, quirlig, kraftvoll und mitleidslos.

Das Stahlfenster seines Zimmers im achten Stock ließ sich einen Zoll weit öffnen, um die Geräusche und Gerüche der Stadt hereinzulassen. Das laute Pochen kam von der Schlägen einer Abrißbirne, mit der die  Betonplatten eines in grünes Gewebe gehüllten  Mehrfamilienhauses mürbe geklopft wurden. Auf dem Nachbarhaus war das Dach mit Käfigen bedeckt, in denen nicht etwas Haustiere gehalten wurden, sondern Menschen vegetierten, die keine andere Bleibe fanden. Der Staub der Abbrucharbeiten drang durch die offenen Gitterstäbe in ihre Miniaturbehausungen. Unten auf dem Gehweg zischte das siedende Öl der Straßenköche, die Süßkartoffelschnitzel oder Hühnerschenkel frittierten. Minibusse mit ungepflegten Dieselmotoren warteten an den Straßenecken auf Fahrgäste. An den Häuserwänden leuchteten gelb die Reklameschilder der verbotenen Bordelle, die von den Geheimgesellschaften, den Triaden, vor den Augen der Polizei betrieben wurden. Eine Bentley Limousine schwebte zum Hintereingang des Hotels. Durch die Wand zum Nachbarzimmer hörte er das Kreischen der Sängerin in einer Fernsehoper.

Er schloß das Fenster weil er Meilan anrufen wollte. Sie mußte gerade zu Hause eingetroffen sein. Das Telefonregister auf seinem Nachttisch behandelte Anrufe nach China als Regionalgespräche und führte ihn Schritt für Schritt durch die zu drückenden Nummern bis zur Vorwahl von Tschungking.

Die alte Frau, die das Telefon abnahm, schien mit seinem Anruf gerechnet zu haben.

"Qing ni deng yi-xia, Wo de nüer mashang jiou lai."

Dann hörte er Meilans melodische Stimme:

"Arnold, bist du es?" So nah und zupackend. "Ist alles in Ordnung? Wo steckst du?"

"Ich bin noch in Hongkong. Sie geben mir ein Visum. Ich treffe morgen um achtzehn Uhr auf dem Flugplatz Tschungking ein. Sechs Uhr abends."

"Das klingt wunderbar. Ich hole dich ab. Ich freue mich, dich zu sehen."

"Hast du schon einen Ausflug für uns gebucht?"

"Ich habe mehrere Angebote. Wir suchen uns morgen aus, was uns beiden am besten gefällt."

"Ich habe auch eine Idee. Auf dem Reisebüro, wo ich das Visum beantragt habe, hat man mir einen Prospekt für ein gutes Berghotel gegeben."

"Bring die Papiere mit. Wir sehen uns das an. Ich muß jetzt Schluß machen. Bis morgen am Flughafen."

"Das Telefon geht auf meine Rechnung. Wir können noch..."

"Tüt, tüt, tüt." Die Verbindung war unterbrochen. Er hätte gerne noch eine halbe Stunde dem Klang ihrer Stimme gelauscht. Aber er hatte aus ihren letzten Worten eine Ungeduld herausgehört, der er sich nicht noch weiter aussetzen wollte. Ihm war auch nicht klar, ob der Empfänger eines Festleitungsgesprächs in China nicht doch eine Gebühr bezahlen mußte, wie das ja bei Mobiltelephonen international üblich war.

Ein großer Vorteil seines Hotels war, daß man es unbemerkt verlassen konnte, wenn man mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoß fuhr. Nur der Vorder- und der Hintereingang wurden von Türstehern betreut. Durch den Seiteneingang, nur durch eine Schwingtür von den Liften getrennt, trat man direkt in die enge Gasse, in die der U-Bahn-Ausgang der Mongkok-Station einen nicht abreißenden Strom von Passanten entließ. Arnold war sofort von einem Menschengewühl umschlossen, durch das er sich bewegte, wie ein Fisch im Aquarium, in ständiger Angst vor Körperkontakt, aber ihn noch gerade um Zentimeter vermeidend.

Auf der Fahrbahn wälzte sich eine endlose Kette von Kraftfahrzeugen vorwärts, so eng zum Vordermann aufschließend, daß sich kein Fußgänger zwischen hinteren und vorderen Stoßstangen auf die andere Straßenseite durchdrängen konnte. Auf dem Gehsteig konnte man sich auch kaum bewegen, weil er mit winzigen Verkaufsständen vollgestopft war.

Vor einem vergitterten Schaufenster stand ein Fleischberg von einem Inder, der einen riesigen Turban trug.

"Come in please, have a look!" lud er Arnold ein.

Es war ein Schmuckgeschäft, das nicht mit der Erlesenheit seines Angebots lockte, sondern Goldschmuck nach Gewicht als Geldanlage verkaufte. Da Arnold einen Vetter hatte, der eine Goldschmiedelehre absolviert hatte, kannte er sich mit Schmuck besser aus als die meisten Männer. Er betrat den Shop, weil er ein Gastgeschenk für Meilan suchte, etwas, das sie ständig auf ihrer Haut fühlen sollte. Das Angebot des Ladens umfaßte vor allem Halsketten und Armbänder, die aus billig gestanzten Gliederteilen bestanden. Dieser Schmuck hatte nicht – wie üblich - einen Goldgehalt von achtzehn Karat, sondern bestand aus fast purem Gold. Das Design war äußerst simpel. Im Preis waren fast alle gleich. Arnold ließ sich Dutzende von Ketten vorlegen, bis er eine fand, deren massive Glieder seinem künstlerischen Anspruch genügten. Der Verkäufer wollte sie ihm in eine pompöse Kassette einpacken. Aber Arnold zog einen kleinen Beutel aus Brokat vor, den man in die Tasche stecken konnte.

Auf dem Rückweg ins Hotel kaufte er an einem Imbißstand drei gefüllte Hefeklöße und eine große Flasche Bier. Er liebte den frischen Mehlgeschmack und die süßsaure Bohnenmus-Füllung. Mehr brauchte er nicht zum Abendessen.

Er streckte sich auf seinem breiten Bett aus und zog die Wandlampe so zu sich heran, daß er den Hotelprospekt, von dem er Meilan erzählt hatte, bequem studieren konnte.

Das Hotel, dessen Reklamebroschüre  im Chinesischen Reisebüro in der Nathan Road 27-33 ausgelegen hatte, faszinierte ihn seines Namens wegen. Es hieß Satellitenhotel. Und dieser Name kam nicht von ungefähr. Das Hotel befand sich in West-Sezuan am Rande der Stadt Xichang.

Sechzig Kilometer von Xichang entfernt lag in zweitausend Meter Höhe im Schaba-Tal der chinesische Weltraumbahnhof, wo die dreistufigen Interkontinentalraketen vom Typ Langer-Marsch-III getestet wurden. Früher militärisches Sperrgebiet, war die Raketenbasis inzwischen zur Touristenattraktion befördert worden, weil die chinesische Armee ihre Raketen kommerziell nutzen und gegen Devisen westliche Satelliten in den Orbit schießen wollte. Sogar dem Start eines Mediensatelliten, der geostationär über Ostasien das Programm der Deutschen Welle ausstrahlte, hatte Peking zugestimmt. Aber Arnold hatte noch nie gehört, daß ein deutscher China-Experte den chinesischen Weltraumbahnhof wirklich besucht hatte. Er würde vielleicht der erste sein, und die Beamten im BMZ würden Augen machen, wenn er beiläufig einflöchte, daß er letzten Monat in der Kantine des chinesischen Raketenzentrums Ziegenfleisch mit Knoblauch und Ingwer gegessen hatte.

 Das Satellitenhotel, dessen Prospekt er in der Hand hielt, veranstaltete Tagesausflüge mit dem Autobus zum Weltraumbahnhof. Die erforderliche Erlaubnis holte das Hotel ein, brauchte dafür aber vier bis fünf Tage, so daß der Tourist genötigt war, eine Woche im Hotel zu leben.

Da Zhang Meilan ihn gleich bei ihrer ersten Begegnung an ein Flakgeschütz hatte setzen wollen, nahm er an, daß sie sich auch auf den Besuch einer Raketenbasis freuen würde. Er erinnerte sich, in einem Buch über Cape Canaveral gelesen zu haben, daß die Atmosphäre der amerikanischen Startbasis auf Besucher-Paare animierend wirken sollte. Kühne Erwartungen beförderten ihn in die Umlaufbahn seines Schlafs.

Der Stolz des Hongkonger Flughafens Kai Taks waren die Ausgänge in der Abfluggalerie, die es dem Reisenden erlaubten, durch einen Teleskopgang direkt in den Rumpf seiner Maschine zu schreiten, oft einer Boeing 747, deren eindrucksvolle Silhouette sich in der Flughafenwand spiegelte. Die kleinen Maschinen, die von Hongkong nach China flogen, kamen nicht in den Genuß dieser prestigeträchtigen Abfertigung. Der Reisende mußte mehrere Treppen zu Fuß nach unten steigen, bis er in einen ebenerdigen Warteraum gelangte, von dem aus man dann mit dem Bus zum Flugzeug gefahren wurde.

Im Warteraum im Erdgeschoß waren vielleicht sechzig Leute versammelt. Zumeist Festlandschinesen in ihren altmodisch geschnittenen Anzügen aus lange haltbarem Stoff. Ihm fiel eine Frau seines Alters auf, vielleicht auch drei, vier Jahre älter, mit kurzgeschnittenem grauem Haar, einer ärmellosen Seidenbluse und einem knielangen engen Rock. Mit einer gewissen Belustigung betrachtete sie das Geschehen auf dem Flugfeld. Als er an ihr vorbeiging, erwiderte sie seinen Blick. Das wiederholte sich, als er sie auf seinem zweiten Rundgang wiedersah.

"Entschuldigung," sprach er sie an, "wohnen Sie in Tschungking oder fahren Sie zu Besuch hin?"

"Ich arbeite dort. Ich war nur geschäftlich in Hongkong. Und Sie?"

"Ich fliege zum ersten Mal hin."

"Dann werden Sie eine erstaunliche Stadt kennenlernen. Nur schade, daß wir erst bei Dunkelheit ankommen."

"Wissen Sie," sagte er spontan, "Sie erinnern mich in Ihrem Aussehen an eine bekannte Künstlerin."

"So?"

"Es ist die Autorin Han Suyin, mit der Sie Ähnlichkeit haben. Sie hat einen Roman geschrieben, der unserer Reiseziel  behandelt: "Destination Tschungking".

Sie packte seinen Ellenbogen: "Sie kennen Han Suyin persönlich?"

"Ich habe sie bei Veranstaltungen getroffen."

"Was ist sie für ein Mensch? Was macht sie für einen Eindruck?"

"Sie ist ungeheuer lebendig, schlagfertig, an Menschen interessiert. "

"Genauso habe ich sie mir vorgestellt. Ich besitze alle Bücher von ihr, die es auf Chinesisch gibt. Sie hat viel über Sezuan geschrieben. Ich habe beruflich mit Büchern zu tun." Sie hatte ihre Visitenkarte griffbereit. Sie hieß Liu und war Bibliotheksdirektorin in Tschungking. Er mußte umständlicher nach seiner Visitenkarte kramen und überreichte sie ihr mit beiden Händen, was in China als Geste der Höflichkeit gilt.

Eine verzerrte Lautsprecheransage, die Frau Liu für ihn übersetzte, forderte die Reisenden auf Kantonesisch und Hochchinesisch auf, den Bus zu besteigen, der sie zum Flugzeug brachte.

Sie hielten sich beide an der gleichen Haltestange im Bus fest, und Frau Liu erzählte weiter: "Han Suyin ist nicht nur eine große Autorin, sie ist auch eine äußerst tüchtige Geschäftsfrau. Sie besitzt ein Haus in Tschungking, und sie hat es fertiggebracht, sich das Eigentum an diesem Haus durch all diese turbulenten Jahrzehnte zu erhalten."

Das Flugzeug war eine russische Turbopropmaschine. Zwei Sitzreihen auf jeder Seite. Daß er ganz vorne saß, in der zweiten Reihe am Fenster, war eine Bevorzugung, die Ausländern in China oft zuteil wird, damit sie einen guten Eindruck von ihrem Gastland mit nach Hause nehmen. Seine Gesprächspartnerin mußte weiter nach hinten durchgehen. Kaum hatte die Maschine ihre Flughöhe erreicht - was bei diesem Typ schnell ging, erhob sich Arnold und zwängte sich durch den Mittelgang auf der Suche nach Frau Liu. Sie hatte den vorletzten Fensterplatz ganz hinten. Er zeigte dem gelangweilt aussehenden Mann, der auf dem Gangplatz neben ihr saß, seinen Boardingpaß mit der Sitzplatznummer 2D und schlug ihm einen Tausch vor. Der Mann verstand nicht sofort, was Arnold wollte, aber als er begriff, daß er vorne die Aussicht genießen konnte, ließ er sich gerne zu Arnolds Platz geleiten und blickte sofort höchst zufrieden aus dem Fenster. Arnold nahm seinen Bordcase aus dem Oberfach und begab sich nach hinten.

"Das ist sehr freundlich von Ihnen," sagte sie.

"Ich wollte Sie noch so viel fragen." Er mußte sich wegen des Fluglärms nah an ihr Ohr heranbeugen und sah, daß sich auf ihrem Nacken eine Gänsehaut gebildet hatte.

"Sie frieren ja."

"Es ist eiskalt. "

Er öffnete seinen Bordcase, der eigentlich nur eine alte Lufthansa-Umhängetasche war, und holte seinen Wollpullover heraus. Er drapierte ihn sorgfältig über ihre Schultern, um möglichst Arme, Rücken und Brust zu bedecken. Dann drückte er fest ihre Schultern. Sie lehnte sich dankbar an ihn an.

"Ich fühle mich schon viel besser," sagte sie. "Wissen Sie, wo Sie übernachten werden?"

"Eine Bekannte holt mich am Flughafen ab. Sie hat für mich ein Zimmer reserviert."

"Das ist gut zu wissen. Ich werde wahrscheinlich von meinem Sohn abgeholt. Ich habe drei Kinder und einen Mann."

"Ist der Flughafen weit von der Stadt?"

"Etwa vierzig Minuten mit dem Auto. Aber es gibt einen Flughafenbus. Haben Sie geschäftlich in Tschungking zu tun?"

"Meine Bekannte ist Managerin bei einer Textilfirma. Aber wir wollen eine private Urlaubsreise unternehmen."

"Das ist ungewöhnlich. Für eine solche Reise braucht man die Genehmigung des Arbeitgebers, die nicht leicht zu bekommen ist."

"Damit scheint meine Freundin keine Schwierigkeiten zu haben."

"Wie lange kennen Sie sich schon?"

"Ungefähr einen Monat."

"Also ganz neu. Wollen Sie sie heiraten?"

"Wir wollen uns auf dieser Reise persönlich näher kennen lernen." 

"Auf Ihrer Visitenkarte steht, Sie sind Bankier. Haben Sie geschäftliche Beziehungen zur Firma ihrer Bekannten?"

"Nein, überhaupt nicht. Das Chinageschäft meiner Bank konzentriert sich weitgehend auf die Finanzierung von Entwicklungshilfe, die das deutsche Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit vergibt."

"Verzeihung, ich bin Ihnen nicht gefolgt."

"Ich bin Deutscher. Meine Regierung gibt jedes Jahr der Volksrepublik China für annähernd eine Milliarde Yüan verbilligte Kredite, um Projekte des Umweltschutzes zu fördern."

"Und unsere Regierung nimmt die Kredite an?"

"Seit vielen Jahren."

"Davon habe ich noch nie etwas gehört."

"Das ist unser Fehler, wir müßten mehr Werbung dafür machen. Um nur ein Beispiel zu nennen, Deutschland hat Hunderte von Kühen und Stieren mit Flugzeugen nach China gebracht, um hier die Milchproduktion zu verbessern."

"Den Erfolg sieht man im Supermarkt. Aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, daß es das Verdienst Ihres Landes ist."

"Wir geben Hilfe zur Selbsthilfe."

"Die Beziehung zu Ihrer Bekannten ist also rein privat? Geschäftliche Interessen spielen nicht hinein?"

"So sehe ich es."

"Wie romantisch. Sie unternehmen die Reise, um einander näherzukommen."

"Und China besser kennenzulernen."

"Haben Sie schon ein festes Reiseziel?"

"Ich dachte, wir fahren in die Berge im Westen von Sezuan."

"Haben Sie etwas Festes gebucht?"

"Ich glaube nicht. Darüber müssen wir uns noch einigen."

"Wollen Sie sich von mir alter Frau einen Rat geben lassen?"

"Sehr gerne."

"Verzichten Sie auf die Berge, wenn Sie mit Ihrer Partnerin verreisen."

"Warum? Ich liebe das Gebirge."

"Vor zwölfhundert Jahren hat der Dichter Li Bai, der hier geboren wurde, ein Gedicht geschrieben: "Das Reisen in Sezuan ist schwierig."

"Ja, damals."

"Wissen Sie was er sagt? Die Berge sind zu hoch, die Flüsse zu reißend, das Wetter zu schlecht, die Herberge unbequem. Daran hat sich nichts geändert."

"Ich dachte, das gemeinsame Erlebnis einer aufregenden Landschaft..."

"Wie hoch ist der höchste Berg Deutschlands?"

"Knapp dreitausend Meter."

"Das ist niedriger als der buddhistische Tempelberg Omeishan, den viele Touristen und Wallfahrer besuchen. Die wirklich hohen Berge sind zweieinhalb Mal so hoch. Wenn Sie ins Gebirge fahren, wird Ihnen die Höhe Probleme machen. "

"Daran habe ich überhaupt nicht gedacht." Er erinnerte sich, daß er auf der Bettmeralp, die genauso hoch lag, wie das Raketenstartzentrum Xichang, schon Anfälle von Atemnot bekommen hatte, wenn er sich bloß die Stiefel zuschnürte. In einer solchen Verfassung wollte er sich Zhang Meilan natürlich nicht präsentieren.

"Kennen Sie einen ungewöhnlichen Urlaubsort, der eindrucksvoll und erholsam wäre?"

"Hier in Sezuan liegt die Kleinstadt Dazu mit einem tausend Jahre alten bhuddistischen Höhlentempel in einer sehr harmonischen Landschaft. Eine Flugstunde von Tschungking entfernt ist die alte Hauptstadt Xian, voller historischer Sehenswürdigkeiten. Dort leben Menschen schon seit einer Million Jahre."

"Und Guilin?" fragte er.

"Ja richtig. Die Flußlandschaft mit den bizarren Felsformationen. Das Ziel aller Hochzeitsreisenden." Ein Unterton von Eifersucht schwang in ihrer Stimme mit.

Die Stewardeß brachte die Formblätter, die man für die Paßkontrolle ausfüllen mußte. Eine Rubrik stellte die Frage: "Angehörige in China". Arnold schrieb vielleicht zum letzten Mal "No."

Nach der Landung verabschiedete er sich von Frau Liu. Unter dem Schild "Immigration" gab es getrennte Abfertigungsschalter für Einheimische und Fremde. Der Beamte, der Höflichkeit ausstrahlte, führte Arnolds Reisepaß ins Computerlesegerät ein. Dann blätterte er den Ausweis aufmerksam durch und vertiefte sich in die alten China-Visa. Jedes Visum ist nicht nur handschriftlich numeriert, sondern enthält auch einen Kennbuchstaben, der den Reisezweck enthüllt. Ein "L" steht für Tourist, ein "C" heißt Business, und "J" bekamen Journalisten. In Arnolds Paß gab es sowohl "C"s als auch "L"s.

"Diesmal nicht auf Geschäftsreise?" fragte der Beamte.

"Ich mache Urlaub. Ferien."

"Willkommen in Sezuan." Er drückte seinen runden, roten Stempel in den Paß und händigte ihn Arnold aus.

Am Zoll hatten sich Warteschlangen gestaut. Jedes Gepäckstück jedes chinesischen Staatsbürgers mußte geöffnet werden. Arnold sah, was die Mitreisenden in ihren Koffern hatten, mitleidslos vom Neonlicht der Hallendecke gebleicht. Er konnte nicht erkennen, wonach die Zöllner suchten. Vielleicht wollten sie nur das Prinzip aufrecht erhalten, daß Kontrolle besser war als Vertrauen.

Die Zeiten, da Hongkong-Besucher Fernsehgeräte und Videorekorder heim schleppten, gehörten der Vergangenheit an. Das häufigste Reisemitbringsel  waren diesmal superlange Warmhaltebecher mit Schraubdeckeln. Sie waren in Chromfarbe galvanisiert und sahen aus wie abgefeilte Artilleriegeschosse. Ein junger Zöllner schraubte einen Becher so vorsichtig auf, als entschärfte er einen Blindgänger. Der Becher war leer. Noch bevor Arnold dran war, sah er Zhang Meilan hinter der Absperrung. Sie trug ein kornblumenblaues Sommerkleid und schlug Räder mit den Armen, als sie ihn erkannte. Arnold mußte sein Gepäck überhaupt nicht öffnen, und dann hielt Meilan ihm ihr Gesicht zum Wangenkuß hin. Er mußte sich zu ihr hinunter bücken. Sie war aufgeregt und noch schöner, als er sie in Erinnerung hatte. Das Kleid, das sie auf dem Leibe trug, war ein zweiteiliges Kostüm aus jenem grobfädig gewirkten Seidengewebe, das der verschollene Jim Thompson als Thai-Seide zu vermarkten versucht hatte. Aber in China, dem Ursprungsland der Seide, hatte man bestimmt einen eigenen Namen dafür.

"Es gibt einen Hotelbus, den wir nehmen können, "sagte sie. "Er hält etwas abseits." Sie wollte ihm helfen, seinen großen Koffer dorthin zu rollen, und beim Versuch, das nicht zuzulassen, konnte er ihre kleine, kräftige Hand lange drücken. In der Dunkelheit des Flughafenvorplatzes vermochte er ihren Gesichtsausdruck nicht zu erkennen.

Der Hotelbus war ein Minibus mit eiskalt blasender Klimaanlage. Der Motor lief, aus der Stereoanlage kam hitziger Kanton-Rock. Sie setzten sich auf die hinterste Bank, und sie breitete einen Touristenstadtplan über seinen und ihren Knien aus.

"Warst du schon einmal in Tschungking?"

"Auf der Durchreise zu einer Yangtse-Kreuzfahrt. Ich habe in einem Hotel übernachtet, das wie der Himmelstempel in Peking ausah, aber viel größer war."

"Das Volkshotel. Es wird zur Zeit renoviert. Ich habe dich in einem Hotel untergebracht, das viel moderner ist. Ich bekomme dort Firmenrabatt."

Die Formulierung ließ offen, ob sie das Zimmer für sie beide oder für ihn allein gebucht hatte. Er wagte nicht nachzufragen.

"Wir sind hier." Sie zeigte auf einen Punkt außerhalb der Karte. "Die Stadt Tschungking liegt wie ein gestrandeter Walfisch zwischen zwei Strömen, die an seinem Kopf zusammenfließen, der Yangtse und der Jialing. Wenn der große Damm fertig ist, beginnt hier der Yangtse-Stausee. Fünfhundertfünfzig Kilometer lang."

Als der Bus losfuhr, war die Dunkelheit schon hereingebrochen. Man sah nichts von der Landschaft. Auf der Zufahrt zur Jialing-Brücke gerieten sie in einen Stau. Der leichte Nebel, der über dem Fluß hing, dämpfte das Flackern der Leuchtreklamen, die in rot, blau, grün und gelb den Umriß der gegenüberliegenden Innenstadt markierten. Der Anblick erinnerte an Hongkong bei Nacht.

Ihr Hotel lag am Hang, wie die meisten Gebäude der Stadt. An der Rezeption half Zhang Meilan ihm beim Ausfüllen des Anmeldeformulars. Sie nahm den Schlüssel in die Hand, ergriff seine Flugtasche und führte ihn zu den Liften. Sein Zimmer war im elften Stock. Sie schloß für ihn auf. Es war ein großer Raum mit zwei französischen Betten. Er wollte ihr den Vortritt lassen. Aber sie stellte die Flugtasche ab und sagte: "Ich warte im Flur."

Er sah sich um. Die Etagenrezeption war nicht besetzt.

"Du kannst mir beim Auspacken des Koffers helfen. Ich habe ein Geschenk für dich mitgebracht."

"Keine Zeit. Wir müssen uns unten hinsetzen und festlegen, wo wir hinfahren."

Er nahm seine Papiere aus dem Bordcase, steckte das Geschenk in die rechte Anzugtasche und schloß das Zimmer wieder ab.

Das Hotel hatte eine Art Bar mit Fliesenboden und Holzdecke und frei im Raum stehenden Tischen auf zwei Ebenen. Nur wenige waren besetzt. Sie suchten sich einen Tisch aus, auf dessen Platte ausreichend Licht fiel. Sie holte einen Packen Reiseprospekte mit Gebirgslandschaften hervor.

"Ich habe es mir überlebt," sagte Arnold. "Ende Mai liegt in den Bergen noch Schnee, und wo er wegtaut, wird der Boden matschig. Es ist einfach zu früh."

Sie sah ihn mitfühlend an. "Ich habe mir schon gedacht, daß es für dich etwas anstrengend wird. Hast du einen anderen Vorschlag?"

"Guilin soll sehr schön sein. Es ist nur eine Flugstunde von hier."

Sie nickte zustimmend. "Warum nicht. Nach Guilin wollte ich immer schon. Das müßte gehen, wenn nicht alles ausgebucht ist."

Ihre Entschlußfreudigkeit überraschte ihn. Er hatte mit langen Diskussionen gerechnet.

"Gib mir deinen Paß und ein par hundert Dollar, dann versuche ich morgen früh gleich als erstes Flugplätze zu bekommen."

Sie steckte alles ein. "Ich sehe dich morgen früh gegen zehn hier im Hotel."

"Mußt du schon gehen? Ich wollte noch..."

"Wir wissen jetzt was wir wollen. Ich muß früh raus. Vielleicht können wir schon morgen nachmittag fliegen."

Er begleitete sie zum Hoteleingang und half ihr beim Einsteigen ins Taxi. Er war überhaupt nicht dazu gekommen, ihr sein Geschenk zu überreichen. Es fühlte sich gewichtig an, als er es in der Jackentasche berührte.

Er bedauerte ein wenig, nicht in das Raketenzentrum zu kommen. Aber das Ziel seiner Reise war das Zusammensein mit ihr gewesen, und nicht technologisches Sightseeing. In der Nacht schlief er schwer ein, und morgens wollte er nicht aufwachen. Nach Kölner Zeit hätte er noch viele Stunden schlafen dürfen.

Als er in den Frühstücksraum kam, waren die Platten mit dem Aufschnitt für das Büffetfrühstück schon größtenteils leer und wurden nicht mehr aufgefüllt. Er nahm sich eine Schale Yoghurt mit Honig und eine Reissuppe.

Er löffelte noch an der Suppe als Zhang Meilan hereinkam.

"Gute Nachricht. Ich habe zwei Flugtickets für morgen mittag." Sie legte seinen Paß, die Flugscheine und eine Menge chinesische Yüan-Noten auf den Tisch. "Hier ist der Rest des Geldes."

"Du wirst noch mehr Ausgaben haben," sagte er, und wollte es ihr zurückgeben.

"Nein, nein. Du brauchst Bargeld. Wechsel keine Dollar. Laß mich das für dich tun."

Sie griff sich einen sauberen Porzellanlöffel und probierte seine Reissuppe.

"Ich wollte dir heute Tschungking zeigen. Es ist etwas dazwischen gekommen. Durch den Flug nach Guilin. Kannst du dich heute Mittag allein beschäftigen? Ich muß noch in die Firma. Ich hole dich am späten Nachmittag ab. Dann gehen wir zusammen essen."

Sie brach auf, ohne auf Antwort zu warten.

Er zog sich auf seinem Zimmer für einen Stadtbummel um. Die meisten Straßen führten steil bergauf oder bergab. Ihm fiel sofort auf, daß es hier kaum Tante Emma-Läden chinesischen Stils gab, jene simplen Verkaufsbuden, die in wirtschaftsschwächeren Gebieten Hauswand an Hauswand das gleiche Angebot führten: Erfrischungsgetränke in Papptüten, Instant-Nudeln und Zigaretten der Marke "Rote Pagode." Tschungking war ein Zentrum der neuen Informationstechnologie. Er sah viele Computergeschäfte, vor allem Softwareshops, die Programme, Spiele und Videokassetten führten. In einem Laden wurden ihm ungefragt die deutschen Versionen von "Windows für Workgroups" und "Winword" für je zwanzig Mark auf CD angeboten. Bei den Geräten ging der Trend zu Servern, Netzwerken, Workstations. Es gab kaum Hinweise auf die Prozessor-Geschwindigkeiten von Einzelgeräten. Das war passee. Mitten in der chinesischen Provinz sah er die Zukunft der Computer-Revolution: Die Vernetzung ganzer Nationen.

Als er seinen Schritten bergab folgte, kam er zur Brücke über den Jialing-Fluß, die hoch über das Flußbett führte, in viel größerer Höhe als die Severinsbrücke über den Rhein. Vor ihm schlenderte ein untersetzter Mann in einem abgeschabten blauen Arbeitsanzug, der eine Art Bumerang auf der Schulter trug. Es dauerte einen Augenblick, bis Arnold begriff, daß dieses Holz eine Tragestange für den Transport von Lasten war, mit einer breit geschnitzten Mulde für die tragende Schulter. Dieser Mann war weniger als ein Tagelöhner, er war in die Stadt gekommen, um seine Arbeitskraft für das gelegentliche Tragen von Lasten zu verdingen. Die Holzstange war sein Arbeitswerkzeug. Der Mann bückte sich und las etwas von der Straße auf. Dann lehnte er sich gegen das Brückengeländer.

Jetzt wird er aus Verzweiflung hinunterspringen, dachte Arnold. Wie kann ich das verhindern? Es waren kaum Fußgänger und fast keine Radfahrer unterwegs. Als Arnold näher kam, sah er, daß der Träger sich aus Kippen eine neue Zigarette drehte. Er hatte ein Feuerzeug, mit dem er sie trotz des Windes anzünden konnte. Als er den Rauch von sich blies, machte er ein so zufriedenes Gesicht, als sei er gerade zum Kaiser von China gewählt worden.

Die Wartezeit bis zum Abendessen verbrachte Arnold auf seinem Hotelzimmer mit dem Beobachten von Fernsehprogrammen. Die Werbeblöcke füllten bis zu einem Drittel der Sendezeit, aber die einzelnen Anzeigenprogramme waren noch nicht so verbraucherpsychologisch ausgefeilt, wie man sie beispielsweise in Thailand sah. Hier gab es noch ein Betätigungsfeld für Werbeagenturen.

Das Telefon klingelte. Sie wartete unten. Es waren nur ein paar hundert Meter zu Fuß zu dem Restaurant, in dem sie einen Tisch vorbestellt hatte. Auf den ersten Eindruck sah es nach nichts aus. Eine Reihe Tische in einer verglasten Terrasse mit Talblick. Die gegenüberliegenden Hügel sah man durch den Smog nur umrißhaft. Die Tische wirkten alle defekt. Ihnen fehlte in der Mitte ein Stück der Tischplatte. Die Beine waren am Boden festgeschraubt, wie im Speisesaal eines Ozeandampfers. Im offenen Ausschnitt der Tischplatte sah er einen Kupferkegel, der die Düse eines Gasbrenners sein mußte, nach dem Schlauch zu urteilen, der an ihm festgeklemmt war.

"Du lernst die Spezialität unserer Stadt kennen," erläuterte Zhang Meilan, "den Tschungkinger Feuertopf."

"Ich habe in Peking den mongolischen Feuertopf gegessen. In Singapore nennt man ihn Steamboat."

"Das kannst du nicht vergleichen. Der mongolische Feuertopf wird in Wasser gekocht. Wir nehmen Speiseöl. Es wird in einer Metallwanne hier in den Tisch eingelassen und dann mit einer Gasflamme heiß gehalten."

Er hatte nicht den Wunsch, sie darüber aufzuklären, daß er in Köln gelegentlich eine Bekannte, der er nahe sein wollte, zum Fondue Bourguignone einlud. Aber hier konnte man nicht übereck am Fondue sitzen, es gab nur zwei gepolsterte Plastikbänke, auf denen man sich gegenüberhockte. Der Gasbrenner erinnerte an ein Chemielabor.

Als erstes servierte man ihnen bitteren Tee in einem halben Dutzend winziger Becher. Er faßte in seine Tasche.

"Ich habe dir etwas mitgebracht. Es ist nicht richtig verpackt, weil ich es durch den Zoll schmuggeln mußte."

"Die ist wunderschön," rief sie, als sie die Halskette aus hochkarätigem Gold sah. Sie drückte die Kette gegen ihre Wange, um ein Gefühl für das Material zu bekommen oder das Metall anzuwärmen. Dann nahm sie die dünne Kette, die sie umhatte, ab und legte sein Geschenk an. Ihre Finger waren so geschickt, daß er keine Gelegenheit hatte, ihr mit dem Verschluß zu helfen.

Genau wie beim Fondue Bourguignone gab es eine Menge schmackhafter Soßen in kleinen Porzellanschälchen. Er probierte sie vorsichtig mit den Spitzen der Eßstäbchen und hatte schnell seine Favoriten gefunden. Das heiße Öl wurde gebracht. Zum Frittieren des Fleischs gab es kleine Metallsiebe.

"Die Spezialität dieses Hauses," erläuterte sie, als zwei beladene Bleche ankamen, "sind fünfzig Sorten Fleisch und fünfzig Sorten Gemüse."

"Wieviel essen wir heute Abend?"

"Alle fünfzig."

Er war schockiert. Es war eine viel zu große Geste, dem bisherigen Stand ihrer Beziehung völlig unangemessen. Es war ein Signal, daß sie mehr mit ihm vor hatte.

Für Chinesen war Essen mehr als Nahrungsaufnahme, es war ein Akt der Kommunion, der menschliche Beziehungen stiftete. Vorerst allerdings saßen sie sich gegenüber, das brodelnde Öl zwischen ihnen.

Er stellte im Kopf eine Tabelle auf. Fünfzig Sorten Fleisch. Dazu gehörten Haustiere, Wildtiere, Vögel, Fische, Schalentiere, Weichtiere, Insekten.

Sie war schon dabei die ersten Krabben für ihn zu fritieren.

Er war überwältigt von Zuneigung für sie und Abneigung gegen das Essen. In Öl gesotten, mußten die fünfzig Gemüsesorten alle ähnlich schmecken, und der Gedanke daran, von was für Tierarten die Fleischfetzen auf dem Blech stammen könnten, schnürte ihm den Magen zusammen. Was ihn durchhalten ließ, war das alkoholarme Bier der einheimischen Marke "Doppelte Gratulation", das auch hier in großen Flaschen serviert wurde.

Nach zwanzig verschiedenen Tierarten - alle  in Öl gesotten - war sein Kooperationswille völlig erschöpft. Sie wollte nicht alles zurückgehen lassen, und er sah mit Verwunderung, wie sie in ihren appetitlichen Mund sog, was Scheiben von Eidechsen, Lurchen, Molchen oder Salamandern sein mochten.

"Als ich ein Baby war," erzählte sie, als ob sie ihm eine Erklärung schuldig  wäre, "hatten wir die drei schwierigen Jahre 196o bis 1962. Viele Menschen sind gestorben. Ich bekam nicht genug Aufbaustoffe. Ich glaube immer, ich muß das nachholen, damit mein Körper länger hält."

"Ich war als Kind auch unterernährt. Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg."

"Bei euch ging es schnell aufwärts. Wir hatten in der Kulturrevolution wieder Probleme. Du hättest mich mit Vierzehn sehen sollen."

Sie hielt ein Eßstäbchen in die Höhe: "So sah ich aus. Meine Periode habe ich erst mit Sechzehn bekommen."

"Du bist auch heute wunderbar schlank."

Sie schenkte ihm einen tiefen Blick und legte die Stäbchen weg. Die halbvollen Platten und das heiße Öl wurden in die Küche zurückgetragen. Er konnte die Hand ausstrecken und ihren Oberarm berühren.

In dieser Nacht schlief er gut, und sein Bett kam ihm nicht mehr zu breit vor für einen allein.

Er sah die goldene Kette wieder an ihr, als sie ihn am Spätvormittag zum Weiterflug abholen kam.

"Können wir ein Taxi nehmen?" fragte sie. "Ich habe meinen Koffer zuhause stehen lassen. Ich war noch im Büro."

In einer ruhigen Wohnstraße hoch auf dem Rücken des Walfischs bat sie den Fahrer, das Tempo zu verringern.

"Da," rief sie unvermittelt, "da steht mein Vater mit dem Gepäck."

Ihr Vater war ein graziler älterer Herr mit weißen Haaren. Arnold sprang sofort aus dem Auto, begrüßte den Vater, überreichte ihm seine Visitenkarte und erklärte ihm, welches seine ständige Adresse war. Er hatte ein schlechtes Gewissen. Er wußte nicht, was die Etikette vorschrieb, wenn man einem Vater die achtunddreißigjährige Tochter ausspannte.

Wenn er gewußt hätte, daß sie sich sehen würden, hätte er ihm ein Geschenk mitgebracht. Der Vater war ein fürsorglicher, abgeklärter alter Mann, für den Arnold genau so viel Sympathie empfand, wie für die Tochter. Er bildete sich ein, in seinem Gesicht zu lesen, daß der Alte ihn mit mehr Wohlwollen als Mißtrauen betrachtete. Er schien weder eine Abneigung gegen Ausländer zu haben, noch ungeduldig darauf zu warten, seine erwachsene Tochter in feste Hände zu geben. Es beunruhigte ihn offenbar nicht besonders, daß ein fünfzigjähriger Fremder sein Kind in eine andere Provinz mitnahm, um dort Tag und Nacht mit ihr zusammenzuleben. Es schien ihn eher ein wenig zu amüsieren. Er schüttelte Arnold lange die Hand und wünschte ihm viel Glück für die Reise.

 

VIERTES KAPITEL

 

Auf dem einstündigen Flug nach Guilin genossen sie den Sonnenschein oberhalb der Wolkendecke. Erst beim Landeanflug  durchstießen sie das wabernde Nebelgrau nach unten und flogen in ein Gebilde hinein, das wie ein riesiges Haufischmaul wirkte. Kirchturmhohe Haifischzähne schnappten nach ihnen.

"Kannst du dir vorstellen," raunte Meilan, "daß das hier vor fünfzig Jahren ein wichtiger Militärflughafen war? Bei diesen Landebedingungen brauchten unsere Piloten gar nicht den Japaner als Feind."

Die Maschine krümmte sich nach links und nach rechts, und dann waren sie sicher auf einem trockenen roten Streifen gelandet. Das Flughafenpersonal schien gerade Schichtwechsel zu haben. Niemand ließ sich blicken. Der Bordingenieur wuchtete die Hecktür, die auch als Treppe diente, nach außen, und die Fluggäste gingen zu Fuß auf das Flughafengebäude zu. Die meisten Reisenden hatten nur Handgepäck und glitten rasch durch die Abfertigungshalle ins Freie. Nur ein paar ausländische Travellers und sie beide mußten in der stockenden Schwüle der Ankunftshalle herumhocken, bis schließlich zwei Arbeiter einen Handwagen zur Maschine schoben, um das Gepäck auszuladen. Als sie es endlich nach draußen geschafft hatten, waren alle Taxis weg. Nur ein vollbesetzter Bus stand noch da, aus dessen geöffneter Eingangstür eine junge Frau in der Uniform einer Schaffnerin ihnen zuwinkte. Sie fanden noch Stellplatz für ihr Gepäck und konnten sich selbst dazwischen zwängen, dann schloß sich die Tür und der Bus fuhr los.

"Haben Sie schon ein Hotel?" fragte die Schaffnerin, die den Fahrpreis kassieren kam.

"Nein."

"Ich setze Sie am Osmanthus-Hotel ab. Das ist ordentlich und preiswert."

Nach einer halbstündigen Fahrt im Stehen, bei der man nicht viel durch das Fenster sehen konnte, hielt der Bus. Ihr Hotel war ein dreigeschossiger Bau mit Zimmern nach zwei Seiten.  Sie waren die einzigen Gäste, die hier ausstiegen. Als sie mit ihren Koffern vor dem Eingang standen, sagte Meilan plötzlich:

"Ich kann nicht mit hineinkommen. Ich kann nicht mit dir in einem Hotel wohnen."

Er war fassungslos. "Was willst du machen? Wo willst du wohnen?"

"Ich werde schon etwas finden."

"Halt, halt," sagte er, "du könntest mir wenigstens bei der Anmeldung hier helfen. Dann weißt du auch, welche Zimmernummer ich habe."

Er ging voran, sie folgte ihm zögernd.

"Guten Abend," sagte er in seinem besten Chinesisch zum Mann an der Rezeption, der sich ihm mit dem Meldeblock in der Hand zuwandte, "wir beide sind gerade mit dem Flugzeug aus Tschungking angekommen. Wir wollen hier ein paar Tage Ferien machen. Meine Freundin befürchtet, weil sie Chinesin ist und ich ein Ausländer bin, darf sie nicht im gleichen Hotel mit mir übernachten."

Der Rezeptionist lächelte Meilan charmant an. "Ich kenne die Vorschriften in Tschunking nicht," er sprach betont langsam und deutlich, damit auch Arnold ihn verstehen konnte, "aber wir haben hier keine Bestimmung dieser Art. Ich gebe Ihnen zwei Zimmer im dritten Stock mit Blick auf den Elefantenkopfberg."

"Das wäre sehr schön," sagte Arnold schnell, und zu Meilan gewandt: "nicht wahr?"

Auf ihrem Gesicht spiegelten sich widerstrebende Empfindungen. Sie war empört, weil er ihre Ausrede hinterfragt hatte, sie fühlte sich geschmeichelt, weil der Empfangschef sie so höflich behandelte, sie war erleichtert, nicht mehr in einer fremden Stadt auf Zimmersuche gehen zu müssen, und sie war besorgt, ob sie auch wirklich das Richtige tat.

Arnold bekam die Schlüssel für die nebeneinander liegenden Zimmer 316 und 318.

"Ich nehme das erste," sagte sie. Er schloß es auf und wollte mit hinein, aber sie versperrte ihm mit ihrem Körper und dem Koffer den Zugang.

"Ich möchte das Zimmer sehen," protestierte er.

"Deines sieht genauso aus."

Sein Zimmer, die 318, war ein schöner Raum mit Badezimmer, Wandschrank und zwei großen Betten, einem Schreibtisch mit Fernseher und zwei bequemen Sesseln. Die durchgehende Fensterwand bot einen wundervollen Ausblick auf ein bizarre Steinmassiv, das der Elefantenkopfberg sein mußte, daneben eine Flußschleife, die sich mitten durch die Stadt zog, und  zuckerhutförmige Steinkegel, die zwischen den Parks und Wohnhäusern der Stadt in die Höhe wuchsen, fünfzig, achtzig, hundertzwanzig Meter hoch, die Haifischzähne, von denen sie beim Anflug beinahe verschlungen worden wären. Es war ein Anblick, wie auf alten chinesischen Rollbildern.

Das Telefon auf seinem Nachttisch läutete.

"Siehst du die Berge?" fragte Zhang Meilan. "Ist es nicht wie ein Traum? Ich hole dich in einer Viertelstunde zum Abendessen ab. Ja?"

Es war gut, daß sie hierher geflogen waren. Das Beste, was ihnen passieren konnte.

 Das Gebäude, in dem sie untergebracht waren, erwies sich als Altbauflügel eines Hotels, zu dem noch ein Zentralgebäude mit Restaurants, Bar und Läden gehörten, sowie ein Neubauflügel mit eigener Rezeption, in dem die Räume doppelt so viel kosteten und hauptsächlich an ausländische Reisegruppen vergeben wurden. Zum Abendessen wollte Meilan von den drei Restaurants des Hotels dasjenige probieren, das westliche Speisen servierte. Sie bestellte Rindersteaks mit Pommes frittes.

Durch die hohen Fenster des Speisesaals fiel der Blick auf einen See, den Bäume säumten, die groß wie Roßkastanien waren, aber dickere, ledrige Blätter besaßen.

"Weißt du, was das für Bäume sind?" fragte er.

"Feigenbäume."

"Bei uns am Mittelmeer sehen Feigenbäume ganz anders aus, niedriger, buschiger, mit violetten Früchten und breiten Blättern, hinter denen sich Adam und Eva versteckten, als sie nicht mehr nackt sein wollten."

"Das geht hier schlecht. Du kommst nicht an die Blätter dran. Unter Feigenbäumen wie diesen hier hat Buddha gesessen und meditiert. Dabei soll er die Erleuchtung erlangt haben."

"Weißt du auch wann das war?"

"Das ist bloß eine Legende."

"Ich kenne das Datum. Es war der siebzehnte Mai vor zweitausendfünfhundertsechsunddreißig Jahren."

"Wie willst du das wissen?"

"Dieser Termin ist in Thailand Nationalfeiertag. Es ist ein buddhistischer Staat."

"Bist du oft in Thailand?"

"Jedes Jahr. Es ist ein angenehmes Land. Ich brauche kein Visum."

"Die Frauen sollen sehr hübsch sein."

"Ich habe keine gesehen, die auch nur halb so schön war, wie du."

Sie strahlte ihn an, bereit, das zu glauben. In dem Augenaufschlag, den sie ihm schenkte, sah er die Verheißung, daß sie gerade erst am Anfang ihres künftigen Glücks standen und das Schönste noch vor ihnen lag.

Die Steaks westlichen Stils, die sie bestellt hatten, waren in einer Weise zubereitet, die chinesischen Eßgewohnheiten sehr entgegen kam. Das Fleisch war vor dem Braten in winzige Steakletts portioniert worden und so stark mit Stärkemehl und Öl mariniert, daß es butterweich auf den Tisch kam. Man konnte jedes Steaklett mit der Gabelkante in zwei mundgerechte Bissen zerteilen und damit auf den in China ungewohnten Gebrauch des Messers ganz verzichten. Der Geschmack war vorzüglich. Als Beilage gab es grünen Gurkensalat in runden Glasschälchen. Meilan würzte ihre Gurken mit jenem extrem scharfen Tschili-Pfeffer-Mus, das in deutschen China-Restaurants unter dem malayischen Namen "Sambal Oleg" auf den Tisch kommt. Da eine Messerspitze davon genügte, um auf Arnolds Zunge Blasen entstehen zu lassen, verzichtete er auf das Angebot. Meilan häufte einen Löffel nach dem anderen auf ihre Beilage und rührte sorgsam um, bis alles Gurkengrün unter einem roten Belag verschwunden war.

"Ich habe schon immer gehört, daß die Leute aus Sezuan Gewürze lieben. Aber so scharf - das hätte ich nie für möglich gehalten."

"Ich kenne das nicht anders. Ißt du deinen Gurken nicht?"

"Ich mag keine rohen Gurken. Entschuldige."

"Darf ich sie haben?"

Um das zweite Schälchen zu würzen, mußte ein Glas mit Pfeffermus nachbestellt werden.

"Was machen wir jetzt?" fragte er, nachdem er bezahlt hatte.

"Ich möchte auf mein Zimmer gehen. Du weißt gar nicht, wie sehr ich es genieße, ein Zimmer für mich allein zu haben. Ein wenig lesen, ein wenig Tagebuch schreiben, Unterwäsche waschen, darüber nachdenken, was die Zukunft bringt. Und was machst du?"

"Ich werde dich vermissen."

"Wir sehen uns morgen zum Frühstück. Acht Uhr. Ja?"

Er begleitete sie bis zu ihrer Zimmertür. Sie schloß von innen ab. Er wollte noch nicht in seine vier Wände zurück und sie nebenan wissen, unerreichbar für ihn. Er ging noch mal in die Hotelhalle. Er wollte sich nicht an die Bar setzen, weil er niemanden im Hotel merken lassen mochte, daß er den Abend getrennt von ihr verbrachte. Der Andenkenladen war geöffnet. Er fand einen englischen Reiseführer für Guilin. Jetzt hatte er eine Aufgabe.

Die Gegend, die sie besuchten, las er, war früher ein Binnenmeer gewesen, das sich im Laufe von Jahrmillionen mit einer zweihundert Meter starken Sedimentschicht gefüllt hatte. Die gleiche Erdbewegung, die auch den Himalaya aus dem Meerwasser in die Höhe gedrängt hatte, machte aus dem Gebiet von Guilin ein Hochplateau, das den Erosionskräften von Wind und Wasser ausgesetzt war, mit dem Erfolg, daß eine bizarre Ansammlung von steinernen Zuckerhüten, Säulen, Türmen, Buckeln und Pyramiden übrig blieb, die von den Geologen Kegelkarstberge genannt werden.

Hauptattraktion für die Besucher Guilins war eine mehrstündige Dampferfahrt auf dem Li-Fluß hinunter nach dem Marktflecken Yangshuo. Während dieser Fahrt konnte man zu beiden Ufern Hunderte von Kegelkarstbergen beobachten, denen die Einheimischen beziehungsreiche Namen verliehen hatten.

Aber auch im Stadtgebiet von Guilin selbst gab es drei Felstürme, höher als der Kölner Dom, die alle ersteigbar waren, auch von ungeübten Wanderern, und einzigartige Ausblicke boten. Arnold hatte seine Bergstiefel also nicht umsonst mitgeschleppt.

Zum Frühstück lud Meilan ihn in das kantonesische Restaurant im Mitteltrakt ein, dessen Spezialitäten er kennenlernen sollte. Sie trug heute ein dunkelgrünes Kleid mit kurzen Ärmeln und tiefgeschnittenem Kragen. Sie setzten sich an einen quadratischen Tisch mit frischer, weißer Tischdecke. Ein junger Kellner goß ihnen Tee mit soviel Schwung ein, daß sich die ersten Flecken auf dem Tischtuch bildeten. Frauen in roten Arbeitskitteln schoben Servierwagen mit runden Bambusflechtkörben zwischen den Tischen hin und her.

"Hier sucht man sich selber aus, was man ißt," erläuterte sie und winkte eine der Frauen heran, die von allen ihren Körben den Deckel heben mußte. Meilan wählte gedämpfte Teigtaschen, die mit Krabben gefüllt waren und Hefeklöße, in denen Schweinefleisch versteckt war. Die Serviererin holte eine Art Lottoschein aus der Tasche, kreuzte eine Zahl an und legte den Zettel auf den Tisch. Heiße Suppen in Porzellanschüsseln mit Deckeln wurden vorübergerollt, es gab Schälchen mit Bohnenkäse, aber in der Hauptsache bestand das kantonesische Frühstück aus einem Überangebot an Mehlspeisen. Es gab sogar Canelloni, die ihm von Meilan hinterhältig als "Schweinedarm" oder "Rinderdarm" vorgestellt wurden, aber in Wirklichkeit eine Teigwarenhülle besaßen und mit den verschiedensten Hackfleischarten gefüllt waren. Zum Bezahlen gab man den ausgefüllten Lottoschein an der Kasse ab.

Er prägte sich das alles ganz genau ein. Es war der Beginn eines neuen Lebens in einer sich ihm neu erschließenden Welt. Auf früheren China-Reisen hatte er an internationalen Frühstücksbüffets herumgestanden.

An der Hotelrezeption konnte man Ausflüge buchen. Sie trafen den Empfangschef wieder, der ihnen gestern mit den Zimmern geholfen hatte. Arnold fragte ihn nach der Flußfahrt, die der Höhepunkt jedes Guilin-Besuchs sein sollte. Der Mann riet ihnen davon ab, eine beliebige Ausflugsfahrt zu buchen. Davon gäbe es Dutzende, alle nach dem gleichen Muster, aber wirklich empfehlen könnte er ihnen nur eine Luxuskreuzfahrt, die ihnen ihr Leben lang in Erinnerung bleiben würde. Für diese Ganztagesfahrt auf dem Li-Fluß von Guilin nach Yangshuo konnte er ihnen Karten für Sonntag, also in zwei Tagen, besorgen. Arnold, der dem Empfangschef vertraute, ging auf dieses Angebot ein und bezahlte gleich im voraus. Meilan machte ein etwas distanziertes Gesicht.

Als Programm für den heutigen Tag schlug Arnold eine Klettertour auf die Karsttürme im Stadtgebiet vor. Dafür mußten sie sich umziehen. Arnold holte seine Bundhose und die Bergstiefel aus dem Koffer, Meilan kam in einem weit schwingenden grün-weiß gestreiftem Rock und einem kurzen Seidenanorak.

Sie erkletterten einen hundertfünfzig Meter hohen Felsturm, und dann noch einen zweiten. Der Aufstieg bereitete keine Schwierigkeiten. Breite Stufen waren schon vor langer Zeit in den Kalkstein gemeißelt worden. Es war, als hätte man die Treppen, die in der Mitte der Kölner Domtürme nach oben führten, großzügig an die Außenseite der Türme angebaut.

Millionen von Besucherfüßen hatten die Kalksteinstufen so abgeschliffen, daß sie glatt waren wie polierter Marmor. Meilan trug zwar Halbschuhe mit Kreppsohlen, aber ihre Sohlen hatten kein Profil, und sie stand nicht so sicher auf dem glatten Fels wie er.

Bergauf war er immer eine Stufe über ihr und zog sie an der Hand nach. Später, nach der Rast auf der windigen Aussichtsplattform oben, stand er ein oder zwei Stufen unter ihr. Sie stützte sich auf seine Hand, und er spürte das ganze Gewicht ihres Körpers, das sie ihm anvertraute. Er genoß es, Meilan an der Hand zu führen. Nach über tausend Treppenstufen bergauf und bergab waren ihm ihre Körperbewegungen vertraut.

Auf einem Gipfel entdeckten sie eine Schar Dohlen, die sich von japanischen Touristen füttern ließ. Wenn die Vögel genug hatten, trippelten sie an die Kante des sonnenbeschienen Südabsturzes des Berges - die Yang-Seite - und ließen sich mit angelegten Flügeln tonlos in die Tiefe plumpsen, wie schwarze Steine. Erst nach vielen Metern freien Falls öffneten sie die Schwingen und schwebten elegant in den Aufwind hinein.

Am Nachmittag durchstreiften sie einen Bambuswald auf der anderen Talseite, der eine ungewöhnliche Struktur hatte. In regelmäßigen Abständen wuchsen aus einem kreisrunden Wurzelfleck Dutzende von armdicken Bambusstäben gemeinsam in die Höhe, um kollektiv die Form eines großen Baums mit dickem Stamm und hoch verzweigter Krone anzunehmen. Die geschlossene Blätterdecke ließ nur gedämpftes Licht auf den Waldboden fallen. Die gebündelten Bäume standen weit auseinander. Man konnte zwischen ihnen hindurchgehen, wie in einer Kathedrale aus grünen Bambussäulen.

"Nicht so nah ran" warnte Meilan, "in den Ästen verstecken sich giftige Schlangen."

Aber er hatte etwas gesehen. An einem kürzeren Bambusstab hing eine fußlange goldene Rispe. Etwas höher noch eine.

"Was ist das?" fragte er Meilan.

"Das sind Gräser, blühende Gräser. Die muß jemand hier hingetan haben."

"Die Blüten sind zu lang für Gräser. Bambus ist auch eine Grasart. Das hier müssen Bambusblüten sein. Ich habe noch nie eine gesehen. Ist das nicht aufregend?"

Sie studierte die feine Rispenstruktur der Blüte aufmerksam. Dann verzog sich ihr Gesicht:

"Das wäre entsetzlich. Der Bambus blüht nur alle hundert Jahre einmal, und wenn er blüht, stirbt er. Alle Pandabären werden verhungern."

Sie sah so tief unglückliches aus, daß er sie tröstend in die Arme nahm.

"Es ist eine Katastrophe," wiederholte sie und schlug mit der Faust auf seine Schulter.

"In Sezuan," tröstete er sie, "blüht er bestimmt in einem anderen Jahr, nicht jetzt. Und in Sezuan leben doch die meisten Pandas."

"Ja, das kann sein." Sie nahm die Bambusblüte als Andenken mit. War es ein gutes oder ein böses Omen, daß sie hier auf diese Blüte gestoßen waren, die sich nur alle hundert Jahre einmal öffnet?

Es war eine solche Fülle von Besichtigungen, in die Meilan sich mit Begeisterung stürzte, daß er den Eindruck gewann, sie wollte die ganze Zeit mit ihm in Bewegung sein, um nicht plötzlich in die Verlegenheit zu geraten, sich ihm und der Entwicklung ihrer Beziehung stellen zu müssen. Mit den großen Schritten des Sightseeing hielten die kleinen Schritte ihrer persönlichen Annäherung im Augenblick noch nicht mit.

 Nach dem Abendessen war Arnold wieder auf sich allein gestellt. Er nahm sich einen Abreißblock, um seine Gedanken zu ordnen. Er hätte Mailan schon längst fragen müssen, was er für sie tun konnte, um ihr Vorwärtskommen im Beruf zu fördern. Sie hatte es schon weit gebracht, aus eigener Kraft, aber vielleicht gab es etwas, das sie näher mit ihm zusammenbrachte.

 Bisher waren ihm Meilans Motive nicht ganz klar geworden. Eine Chinesin flog nicht aus Jux mit einem Ausländer ins Touristenparadies. Sie setzte starke Erwartungen auf ihn, aber was er konkret für sie tun sollte, hatte sie ihm noch nicht angedeutet. Und ihre Reaktion auf seine Werbung um sie war bestenfalls ambivalent. Was steckte dahinter? Worauf lief es hinaus? Seine Nachbarin im Flugzeug, Frau Liu, hatte behauptet, daß es nicht leicht war, für solche Privatreisen die Genehmigung des Arbeitgebers zu bekommen. Gab es geschäftliche Gründe? Suchte ihre Firma einen Kontaktmann, der Schwarzgeld im Ausland unterbrachte? Millionenbeträge? Angesichts der stets übertriebenen Gewinnerwartungen chinesischer Geschäftsleute konnte eine Geldanlage in Deutschland nicht sehr attraktiv sein. Aber wußte sie das? Diese Theorie böte immerhin eine Erklärung für ihre abendlichen Rückzüge.

Hatte sie - zweite Möglichkeit - für ihre eigene Person vielleicht Angst vor einem Rückfall Chinas in den roten Terror nach dem Tode Deng Xiaopings und suchte einen Fluchtpunkt im Ausland? In diesem Fall standen sie erst am Anfang einer langfristig angelegten Beziehung.

Er trat ans Fenster, um den Sonnenuntergang zu beobachten. Die Einbuchtungen des Elefantenkopfberges hatten sich schon mit Schatten gefüllt, aber auf der anderen Seite des Flußes hatte das Abendlicht einen rosigen Schimmer auf die Gipfel der dort stehenden Kegelberge gehaucht, der sie wie riesige Giftpilze aussehen ließ.

Er schlug eine neue Seite auf seinem Notizblock auf. Was wollte er von Zhang Meilan? Er wollte sein jetziges Leben, das aus Zahlen, Informationen und undurchschaubaren Personalintrigen bestand, eintauschen gegen eins, in dem Kultur, Gespräche und Zärtlichkeit den Vorrang hatten. Die Aussichten, daß Zhang Meilan und er ein gemeinsames Ziel verfolgten, standen  vielleicht fünfzig zu fünfzig. Es lag an ihm, mehr daraus zu machen.

Am anderen Vormittag besuchten sie eine der Tropfsteinhöhlen, für die das Gebiet um Guilin berühmt ist. Diese Höhlen befinden sich im Inneren der steilen Felskegel, sind also Karieslöcher in den Haifischzähnen. Aber die Arbeit der Natur bewirkt, daß diese Löcher sich von selber füllen, indem durch den porösen Fels ständig kalkhaltiges Wasser in die Höhlen sickert, das Tropfsteine bildet, die von oben und unten auf einander zuwachsen.

Es ging tief in den Berg hinein. Farbige Scheinwerfergruppen modellierten aus bizarren Tropfsteingruppen phantastische Plastiken heraus. Musik aus unsichtbaren Lautsprechergruppen sollte den unirdischen Zauber noch verstärken. Im flackernden Licht sahen sie einen Ausschau haltenden Löwen. Ein anderes Gebilde konnte die Orgel des Kölner Doms oder ein Stück der Eiger-Nordwand sein. Der Boden war glitschig, und Arnold hatte unter seine langen Baumwollhosen wieder die Bergstiefel gezogen, so daß er Meilan immer eine sichere Hand leihen konnte.

Da sie darauf bestanden hatte, sich nach dem Mittagessen in ihr Zimmer zurückzuziehen, hatte er es auch so gehalten. Es mochte viertel vor drei sein, als Meilan heftig an seine Tür klopfte.

"Schnell, mach das Fernsehen an, der Deutschkurs der Deutschen Welle läuft."

"Hier im Hotel gibt es kein Deutsche Welle Fernsehen, nur BBC."

"Er läuft im Zentralchinesischen Fernsehen. Ich habe ihn schon oft gesehen. Gleich kommt meine Lieblingsstelle."

Das Bild flimmerte sich ein. Meilan schaltete hin und her. Dann fragte eine Stimme auf deutsch: "Und was hätten Sie gern?" Der Mann, der diese Frage stellte, blätterte in einem Versandhauskatalog.

Die junge Frau, die vor ihm stand, forderte überdeutlich:

"Ich hätte gern einen Mann. Wäre das möglich?"

Der Verkäufer erwiderte wie selbstverständlich:

"Das wäre nicht nur möglich. Das ist sogar möglich."

Meilan drehte den Ton weg. Mit funkelnden Augen sagte sie: "Hast du das gehört? Ich hätte gern einen Mann. Wäre das möglich?"

Er legte die Hände auf ihre Oberarme und sagte auf Deutsch: "Das wäre möglich. Ich liebe dich. I love you. Wo Aishang ni. Und du?"

"Es ist möglich," wiederholte sie im Stil der Lektion und drückte seine Hände weg. "Ich mache uns einen Tee."

Auf dem Tisch zwischen den beiden Besuchersesseln standen eine Thermoskanne, zwei blauweiße Porzellanbecher und eine Bambusschachtel mit Teebeuteln. Sie goß das heiße Wasser in die Becher und setzte sich schnell in einen Sessel.

Als er auch saß, fragte er:

"Hast du die Geschichte von der jungen Malerin in Peking gehört, die den französischen Kulturattachee heiraten wollte und ins Arbeitslager gesteckt wurde?"

"Das ist Jahre her. Die Frau hat einen Riesenfehler gemacht. Sie ist seine Geliebte geworden, ohne vorher mit ihrer Einheit darüber zu beraten."

"Gehören Künstler in China einer Einheit an?"

"Jeder ist Teil einer Einheit, eines Organisationsapparates, der seine Personalakte führt und sein Leben mitgestaltet."

"Wer ist deine Einheit?"

"Im engeren Sinne Universal Silk."

"Was macht eigentlich eure Muttergesellschaft Poly-Technologies? Ist das ein Kunstfaserproduzent?"

"Darüber darf ich nicht sprechen. Das ist Staatsgeheimnis."

"Komm, komm, du hast veraltete Vorstellungen. China verfolgt eine Politik der offenen Tür."

"Du kennst die Verhältnisse nicht. Jedes Wort, das ich dir über Poly erzähle, kann mich sofort ins Gefängnis bringen."

"Das glaube ich nicht. Ich habe in Köln im Computer eine dicke Akte über Poly-Technologies. Ich habe nur vergessen, was da drin steht. Aber wenn ich die Möglichkeit hätte, über e-Mail an meine Festplatte heranzukommen, könnte ich dir hier im Business Center des Hotels ausdrucken, was ich alles an Material darüber besitze."

"Wie gut, daß das nicht geht, du könntest uns in Schwierigkeiten bringen." Sie senkte die Stimme: "Du bist doch nicht etwa ein Spion?"

"Ich bin Bankier. Wenn wir Kredite vergeben - und wir tun das, weil wir Geld verdienen wollen - müssen wir wissen, ob wir unser Geld in verläßliche Hände geben oder in unzuverlässige. Das ist Marktwirtschaft."

"Aber wie kommst du an geheime Informationen?"

"Alles, was ich habe, stammt aus öffentlichen Quellen. Ein Beispiel. Als neulich in der Sonderzone Shenzhen die erste Wertpapierbörse der Volksrepublik eröffnet wurde, bin ich hingefahren. Anfangs wurden nur acht Aktien gehandelt. Eine davon war China Southern Glass. Das ist ein Joint Venture, eine Gemeinschaftsgründung der amerikanischen Firma Corning Glass und deiner Mutter Poly Technologies. Zur Börseneinführung gab es einen ausführlichen Prospekt über die Gesellschaft."

"China Southern Glass kenn ich. Die machen Fassadenglas für die Hochhäuser in ganz Südchina. Ein sehr erfolgreiches Unternehmen."

"Du siehst, ich weiß alles. Du brauchst vor mir keine Geheimnisse zu haben."

"Ich hoffe nur, daß meine Einheit nie erfährt, wieviel du weißt."

"Weiß deine Einheit, daß du mich triffst? Wissen sie wer ich bin? Haben Sie dir erlaubt, meine Geliebte zu werden?"

"Sie vertrauen mir, daß ich das Richtige tue."

"Glaubst du, daß wir zusammen passen?"

"Ich mag deinen Humor, deine Art, dich in einem fremden Land zurechtzufinden, als ob es dein Zuhause wäre. Du bist jemand, auf den man sich verlassen kann."

Er streichelte seinen heißen Teebecher.

"Liebe ist nicht nur Vertrauen. Es ist auch der Wunsch sich anzufassen und nicht mehr loszulassen."

Er streckte die Hand nach ihr aus. Sie nahm sie nicht an.

"Wir kennen uns erst so kurz," sagte sie.

"Du hast mir einen Brief nach Köln geschickt, der mich sehr beeindruckt hat."

"Du warst weit weg, ich habe dich vermißt."

"Und jetzt?"

"Laß uns einen Einkaufsbummel machen," schlug sie vor. "Ich habe Lust, mir ein neues Kleid zu kaufen. Du kannst mich beim Anprobieren beraten."

Die Hauptgeschäftsstraße begann gleich hinter ihrem Hotel und führte direkt in die Innenstadt, verstopft mit Touristenbussen, Taxis, Eselskarren, Handwagen, Lastenfahrrädern und mobilen Verkaufsständen. Es war eine Straße der Restaurants, Andenkenläden, Reisebüros und Modeboutiquen, vor deren Auslagen die Touristen erschöpft stehen blieben. Gleich im ersten Geschäft, das sie betraten, blätterte Meilan alle Sommerkleider an der Stange durch, zog eins hervor, hängte es zurück, ließ die Geschäftsführerin kommen und begann ein langes Gespräch. Visitenkarten wurden getauscht, Meilan holte aus ihrer Handtasche ein schwarzes Notizbuch und Photos von Mannequins. Die Verkäuferin nötigte Arnold eine Tasse Jasmintee auf. Meilan machte Eintragungen in ihr schwarzes Notizbuch.

"Das mußt du dir ausrechnen," sagte sie, "hier kommen so viele Touristinnen vorbei, die das Geld und die Figur haben, unsere Kleider zu tragen. Japanerinnen, Malayinnen, Hongkong-Chinesinnen, Koreanerinnen."

Beim nächsten Geschäft, das sie besuchten, wiederholte sich das Spiel. Er bot ihr mehrmals an, ihr ein Kleid ihrer Wahl zu schenken, aber sie winkte ab. Es wurde kein Einkaufsbummel, es wurde eine Verkaufstour. In ihr war der Jagdinstinkt erwacht. Es war persönliche Angriffslust, kein Markterschließungs-Plan.

Es wurde Abendessens-Zeit, und sie befanden sich immer noch im Geschäftsviertel der Stadt. Arnold schlug vor, ein Souterrain-Restaurant zu besuchen, das einen sauberen Eindruck machte. Es gab keine Speisekarte in englischer Sprache. Die Tagesspezialitäten waren mit Kreide auf eine schwarze Tafel gemalt.

"Geschmorte Rindersehnen," übersetzte sie ihm vor, "und gefüllter Bitterkürbis."

"Das nehmen wir," schlug er vor.

"Ich dachte, du magst keine Gua." Im Chinesischen heißen alle Kürbispflanzen Gua - Gurken, Zucchini, Melonen, Kürbisse, sogar Papayas. Nur Auberginen haben einen eigenen Namen, sie werden "Qiezi" genannt.

"Bitterkürbis ist meine Lieblingsspeise." Er hatte vor Jahren, als noch Mangel in China herrschte, zwei Monate lang in Peking nichts anderes gegessen als Reis mit Bitterkürbis und Auberginen.

Das Gericht, das dann auf den Tisch kam, entsprach nicht ganz Arnolds Erinnerungen. Der Koch hatte die Kürbisabschnitte stark ausgehöhlt und das Innere so reichlich mit gebratenem Hammelfleisch gefüllt, daß der Kürbis mehr Dekoration als Geschmacksträger war.

Dafür waren die Rindersehnen, die als eigenes Gericht serviert wurden, so butterweich, wie Arnold es noch nie erlebt hatte. Die Entdeckung eines neuen Leib- und Magengerichtes. Er mußte in Köln Ochsenschwanz und Beinscheiben drei Stunden lang im Dampfkochtopf vor sich hin pfeifen lassen, um einen ähnlichen Zartheitszustand erreichen, und dann waren sie noch lange nicht so schmackhaft wie hier.

"Was hast du eigentlich für Aufträge eingesammelt? Wollt ihr hier italienische Modellkleider verkaufen?"

"Keine Aussicht. Italienische Frauen haben viel dickere Hintern und Hüften als Chinesinnen. Wir entwerfen abgespeckte Zweitfassungen, die wir als neues Design unter unserem Label verkaufen."

"Ist das urheberrechtlich erlaubt?"

"Wieso? Wir verwenden neue Schnittmuster und einen eigenen Markennamen, nicht den italienischen. Bald werden wir auf dem Weltmarkt viel gefragter sein als sie."

Als sie gesättigt ins Hotel zurückkehrten, schlug Arnold noch einen Abstecher an die Bar oder zur Disco vor, aber Meilan wollte ihre Kommissionsaufträge gleich auf Faxformulare übertragen, um sie morgen früh als erstes zu versenden. Und dabei konnte sie seine Hilfe nicht gebrauchen.

Er mußte sich den dritten Abend allein beschäftigen. Dabei gab es im Mitteltrakt des Hotels eine Disco, in der Chinesen und Ausländer unter farbigen Lichtblitzen tanzten.

Das Fernsehgerät in seinem Zimmer zeigte einen chinesischen Krimi, der in Shenzhen spielte, der chinesischen Nachbarzone von Hongkong. Arnold erkannte die Landschaft wieder. Den Pavillon über dem Kap, hinter dem es zum Atomkraftwerk ging. Den alten Pier am Großen Pflaumenstrand. Im Film legte hier ein Landungsboot an, um einen geschmuggelten Mercedes der S-Klasse mit Schwung aufs Festland fahren zu lassen. Die Zöllner in ihren adretten Uniformen griffen nicht zu, sondern nahmen die Verfolgung auf, um die Hintermänner zu erwischen.

Vor vier Wochen - wurde Arnold bewußt - hatte der Zollbeamte Wehrmeyer, der Autoschmuggler aufspürte, noch gelebt, gerade hundertzwanzig Kilometer von diesem Tatort entfernt. "Seidenraupen für Capri" hatte er auf einen Zettel geschrieben. Es konnte ein Codewort für eine internationale Schmuggelaktion sein, aber was mit dieser Notiz gemeint war, würde wohl niemals mehr entschlüsselt werden.

Als sie am anderen Morgen vom Frühstück kamen, das sie früher als sonst eingenommen hatten, war schon eine große Zahl von Gästen in der Hotelhalle versammelt, die auch die Flußfahrt gebucht hatte. Ein Reisebus fuhr vor, und die Besucher drängten sich zu seiner Vordertür, allen voran die wenig Disziplin übenden Hongkong-Chinesen. Arnold hielt seine Karten sichtbar in der Hand, aber der Mann vom Reisebüro, der alle kontrollierte, sagte zu ihm: "Sie noch nicht."

Sie sahen zu, wie der Bus ohne sie abfuhr.

"Und nun?" fragte er. Ihr Betreuer führte sie zu einer schwarzen Limousine und riß ihnen die Fondstüren auf. Das Auto fuhr viel dichter an die Schiffsanlagestelle heran, als es den Bussen erlaubt war.

In der Nähe der Flußbrücke lagen die Ausflugsschiffe in einer breiten Reihe auf dem Wasser vertäut, alle am Heck durch Plankenstege miteinander verbunden, so daß die Reisenden von Heck zu Heck über schwankende Bretter balancieren mußten, bis sie ihr Schiff erreicht hatten. Die Bauweise aller Boote war ähnlich. Sie hatten zwei Decks, ein Ober- und ein Unterdeck, wie die Star-Ferry in Hongkong. Auf beiden Decks standen Tischreihen quer zur Fahrtrichtung, mit Klappstühlen als Sitzgelegenheit.

Nur Arnolds und Meilans Schiff hatte noch eine Art Penthaus-Kabine als drittes Deck. Die Wände waren aus Glas, und in allen vier Windrichtungen prangten die aus rotem Papier ausgeschnittenen Schriftzeichen "Doppeltes Glück", das traditionelle chinesische Hochzeitssymbol. Man hatte ihnen die Kajüte für Flitterwöchner zugewiesen. Für vier Paare war Platz, in jeder Ecke eine bequeme Zweier-Sitzgruppe, nicht zu vergleichen mit den Klappstühlen unten.

Arnold und Meilan saßen rechts vom Eingang, ihnen gegenüber ein Ehepaar, das wohl seine Silberhochzeit feierte, hinter ihnen ein teuer gekleidetes altes Paar, das seiner singenden Sprechweise nach wohl aus Hongkong kam. In der vierten Ecke hockte ein junges einheimisches Paar, unverkennbar frisch verheiratet, der Mann noch etwas steif von einem noch nicht überwundenen Besäufnis. Er trug Bluejeans, Ledersandalen und ein aus bunten Wollresten handgestricktes Sweatshirt. Die Frau, die sofort Blickkontakt mit Meilan aufnahm, hatte ein langes dunkles Kleid und Stoffschuhe mit Schnursohlen an. Sie war eine angenehme Erscheinung, aber so in Sorgen vergrübelt, daß sie den Ausflug nicht richtig genießen konnte.

Der Schiffsboden begann zu vibrieren, als der Motor angelassen wurde. Die Bedienung brachte feuchtheiße Frottiertüchlein und große Teetassen, in denen Jasminblüten schwammen. Eins nach dem anderen setzten sich die Schiffe in Bewegung.

Das Angenehme an der Fahrt war, daß der Li Fluß sich nicht wie der Rhein bei der Lorelei oder der Yangtse südlich von Tschungking schäumend durch Felsschluchten arbeiten mußte, sondern sich praktisch durch ebenes Auenland schlängelte, das vollgestellt war mit bizarren Kalkkegeln, auf deren höheren Hängen Wolfsmilch-Kandelaber wuchsen. Der Fluß hatte nur eine schwache Strömung. An seinen Ufern lagen klobige Boote vertäut, die ihren Bewohnern als ständiger Wohnsitz dienten. Fischer hatten sich aus dicken Bambusstangen lange Flöße gebaut, auf denen sie mit unerschütterlicher Geduld darauf warteten, daß die Kormoran-Vögel, die neben ihnen hockten, nach Fischen tauchten. 

Aus der Lautsprecheranlage des Schiffes erklang chinesische Volksmusik, unterbrochen durch Ansagen, in denen die Uferlandschaft erklärt  wurde. Allerdings waren die Lautsprecher so verteilt, daß sich die Stimmen gegenseitig überlagerten.

"Meine Hochzeitsreise vor fünfundzwanzig Jahren," erzählte Arnold, um Meilans Aufmerksamkeit zu gewinnen, "ging auch durch ein Flußtal, den Rhein entlang. Du hast vom Rhein gehört?"

"Ein romantischer Fluß in Deutschland."

"Es war überhaupt nicht romantisch. Wir hatten in einer alten Klosterkirche geheiratet und bis tief in die Nacht gefeiert. Als wir die Heimfahrt antraten, war über dem Fluß dichter Nebel aufgestiegen, und auf der Straße hatte sich Glatteis gebildet. Wir mußten mit unserem Volkswagen-Käfer Schritt fahren. Normalerweise sind es nur anderthalb Stunden, deshalb hatten wir kein Hotelzimmer genommen, aber durch das Eis und den Nebel haben wir die ganze Nacht gebraucht. Das war meine Hochzeitsreise."

"Wieso bist du nicht mehr mit ihr zusammen?"

"Sie ist gestorben. Schon vier Jahre nach unserer Hochzeit."

"War sie schön?"

"Sie hatte die gleiche tiefe Stimme und genauso dunkle Augen wie du."

"Ich erinnere dich an sie, nicht wahr?"

"Als sie starb, war sie zehn Jahre jünger, als du es jetzt bist."

"Das ist ja schrecklich." Ihre Finger legten sich auf seine rechte Hand.

Der Koch und sein Gehilfe, beide in halbhohen weißen Mützen, stellten sich vor und boten Ergänzungsgänge für das Mittagessen an. Im Reisepreis war zwar schon ein Menü mit acht Gängen und drei Sorten Getränken enthalten, aber man wollte den Gästen die Möglichkeit geben, ihre Partnerin gegen Aufpreis mit einer besonderen Köstlichkeit zu bedenken.

Eine Schildkröte schwamm in einer Emailleschüssel im Kreise. Eine grüne Schlange schlief zusammengeringelt in einem Korb. Arnold entschied sich für riesige Krabben, die ihn aus Stielaugen ansahen. Er bat den Koch, sie ohne Kopf zu servieren. Die Schildkröte kam mit dem Leben davon. Das junge chinesische Paar bestellte nichts.

Arnold genoß das Zusammensein mit Meilan. Allein zu sehen, wie sie mit ihren schlanken Fingern die Eßstäbchen an den Mund führte, erfüllte ihm mit heftiger Freude.

Nach dem Essen packte der Hongkong-Chinese eine Cognac-Flasche aus und bot allen davon an, aber nur die drei Männer mittleren Alters prosteten sich zu. Das junge Paar war schon vor dem Ende des Essens nach unten gegangen.

Arnold legte den Arm um Meilans Schulter und zog sie an sich. Der Hongkong-Chinese beobachtete sie dabei und nickte Arnold wohlwollend zu.

Meilan machte sich steif und versuchte ihn abzuschütteln, ohne daß die anderen es merkten.

"Du bist auf Hochzeitsreise," raunte Arnold ihr zu.

"Bin ich nicht."

"So gut wie," widersprach er und lockerte den Kontakt zu ihrer Schulter. Bis auf diesen einen Reibungspunkt war er vollkommen glücklich.

Der Ort Yangshuo, ihr Reiseziel, hatte eine lange Pier, an der alle Ausflugsschiffe ihre Touristen absetzten, damit sie die Rückfahrt nach Guilin in Autobussen antraten, die auf einem Parkplatz am Ortsrand auf sie warteten. Der Weg von der Schiffsanlegestelle zum Busparkplatz war ein nicht enden wollender Basar, auf dem man Andenken aller Art viel billiger als sonst in China erhandeln konnte.

Die Schriftzeichen für "doppeltes Glück" hingen an einem großen klimatisierten Reisebus, der nur für die acht Benutzer der Penthaus-Kabine reserviert war. Das Silberhochzeitpaar setzte sich zu Arnold und Meilan und zeigte ihnen auf dem Basar erstandene Kalligraphien, "Geschenke für zu Hause". Ihr Zuhause war Taiwan.

 Arnold erzählte ihnen, daß er sich für moderne chinesische Malerei interessierte und die Künstlervereinigung des Fünften Mondes in Taiwan schätzte. Der Taiwanese hatte im Sheraton-Hotel Bilder eines zeitgenössischen Malers gesehen, der in Guilin lebte. Arnold und Meilan sollten sie sich unbedingt anschauen.

Die Landstraße führte durch endlose grüne Weiden, auf denen Rinderherden grasten. Nicht Wasserbüffel, wie man sie am Fluß sah, sondern indische Höckerrinder. "Das hier ist das Gebiet der Zhuang," erklärte der Mitreisende. "Sie essen kein Schweinefleisch und züchten keine Schweine, weil sie Moslems sind. Sie bilden die größte nichtchinesische Bevölkerungsgruppe in Südchina. Ich habe auf der ganzen Fahrt heute nicht eine einzige neu gebaute Moschee gesehen. Ich bin Architekt. Ich habe auch im Fernsehen keine Sendungen in Zhuang-Sprache gehört. Dabei stellen die Han-Chinesen in dieser Provinz nur die Bevölkerungsminderheit."

"Wie wollen Sie denn die Sprache der Zhuang erkennen, wenn Sie sie hören?" erkundigte sich Meilan.

"Es klingt wie Thailändisch."

Der Unmut in Meilans Frage war hörbar gewesen, und der Architekt verstummte. Das war schade, denn der Mann hatte einen überaus lebendigen Gesichtsausdruck, der verriet, daß er sich ständig über seine Umgebung Gedanken machte. Als sie vor ihrem Hotel abgesetzt wurden, sagte Meilan: "Laß uns ein paar Schritte gehen. Ich bin so unruhig."

Sie schritten durch eine Allee niedriger Osmanthus-Bäume, die ihren süßen Blütenduft über sie warfen, und der Geruch erinnerte Arnold an Deutschland, an die Linden, die im Juni in der Südstadt an der Ecke der Alteburger Straße zum Ubierring ihren Blütenduft ähnlich betäubend ausströmten, und an die Linden bei Schubert und Mahler, in deren Liedern aus der Liebe am Ende ein glühendes Messer wird.

"Es war ein wunderschöner Ausflug," meinte er. "Die Leute haben uns alle für ein glückliches Hochzeitspaar gehalten. Ich war so stolz auf uns."

"Wie kannst du so unsensibel sein? Mir war die Reise von der ersten bis zur letzten Minute peinlich. Es gab nur ein Ehepaar, das wirklich ein Recht hatte, in der Flitterwochenkabine zu sitzen. Das waren die beiden jungen Leute, die sich in unserer Gegenwart nicht wohl gefühlt haben, weil sie sich ihrer Armut schämten. In ihrem eigenen Land."

"Wir haben sie nicht herablassend behandelt. Wir haben ihnen von unseren Spezialitäten-Menüs abgegeben."

"Das war ja das Demütigende. Ihr habt ihnen gezeigt, daß sie Habenichtse sind, daß sie sich nicht mit euch vergleichen können. Das hat mich so wütend gemacht."

"Jetzt werde ich dir sagen, was mich traurig macht. Dieser Bräutigam hat für seine Frau nicht eine einzige Fingerspitze Zärtlichkeit aufgebracht."

"Wir zeigen das nicht in der Öffentlichkeit. Wir sind schamhaft."

"Ich wette, dieser Mann ist auch im Schlafzimmer nicht zärtlich. Er weiß gar nicht wie das geht. Das ist beschämend. Die Frau hat mir leid getan."

"Die Frau ist in Ordnung. Sie schafft es, mit ihrem Mann zu leben."

"Wenn du meinst."

"Was mir am schlimmsten auf die Nerven geht," fuhr sie fort, "sind die aufgeblasenen Hongkong-Chinesen, die sich einbilden, wenn sie hundert Dollar in der Hand haben, können sie mit einer Frau machen was sie wollen, und sie muß auch noch dankbar sein." Ihre Entrüstung war so tief und so ohne jeden erkennbaren Anlaß, daß er erschrak.

"Laß uns umkehren."

Sie tauchten wieder ein in den leichten Parfüm-Duft der Osmanthus-Bäume.

"Mit der Flußreise heute," sagte sie, "haben wir in Guilin alles gesehen, was es zu sehen gibt. Laß uns weiterreisen. Mehr von China erleben. Nach Kunming, der Stadt des ewigen Frühlings, oder nach Xi-An, das viele tausend Jahre Hauptstadt war. Wir gehen morgen früh zum Airline-Schalter und fragen, wohin sie Flüge offen haben."

Sie blickte ihn auf jene schelmisch bittende Art an, die ihm versprach, daß seine Zusage sie restlos glücklich machen würde.

Ein betörendes Angebot. Kun Ming war berühmt, Xi-An Weltkultur. Aber er würde er sich dort nicht weiter die Füße ablaufen, ohne Meilan wirklich nahe zu kommen? Wie lange brauchte sie, um herauszufinden ob sie sich für ihn entscheiden konnte, so wie er sich für sie entschieden hatte, als er sie auf der Treppe zum Zollamt sah? Ging das nicht auch in Guilin?

"Ich muß das mit meiner Bank besprechen," sagte er ausweichend.

Seit seiner Ankunft in China hatte sich zwischen ihnen ein Ungleichgewicht des Gefühls entwickelt, mit dem er nicht gerechnet hatte, als er in Köln ihren pastellrosa Liebesbrief las. Zutrauen, Werben, Verführung brauchen ihre Zeit. Die Situation in Tschungking war schwierig gewesen. Aber in Guilin schliefen sie jetzt schon mehrere Nächte Wand an Wand. Zeit genug, dem Teufel drei goldene Haare auszureißen.

"Laß uns im Freundschaftsladen des Hotels nach einer Flasche Champagner suchen. Die können wir auf meinem Zimmer trinken und dazu Geschichten erzählen. Was wir uns gewünscht haben, als wir Kinder waren. Was wir uns heute wünschen. Wir könnten barfuß tanzen."

"Ich habe Kopfschmerzen. Es war ein schrecklicher Tag. Ich möchte auf mein Zimmer und nichts mehr von der Welt sehen."

"Du kannst auch Tee trinken. Das hilft gegen Kopfschmerzen."

"Wir machen das ein andermal. Nicht heute. Gute Nacht."

Die Hochzeitsreise war zu Ende. Die Frage der Weiterreise war beantwortet. Wohin sie auch führen, er würde die Abende allein in seinem Hotel vor dem Fernseher oder an der Hotelbar verbringen müssen. Das hatte er sich so nicht vorgestellt, als er auf dem Kölner Flughafen durch das Gate ging.

Meilan war eine Frau, die man nicht im ersten Anlauf erobern konnte. Sie war es wert, daß er ihr Zeit ließ, sich auf ihn einzustellen. Aber er wollte auch nicht, daß sie seine Werbung um sie für etwas Selbstverständliches hielt. Er nahm sich vor, nicht von einer Touristenattraktion zur anderen weiterzureisen, sondern von Guilin aus die Rückreise nach Deutschland anzutreten, bevor er sich selbst für eine lächerliche Figur halten mußte.

Er fand im Freundschaftsladen einen alten Reiswein und trank sehr schnell fast eine halbe Flasche. Dazu aß er eine ganze Tablette Dormicum. Die Müdigkeit, die sich auf ihn senkte, erstickte sein Selbstmitleid, ohne ihm die Selbstachtung zu rauben. Was vom Tag übrig blieb, war das Glück, tiefe Gefühle erlebt zu haben.

 

FÜNFTES KAPITEL

Es überraschte Arnold, wie emotionslos Meilan es  aufnahm, als er ihr beim Frühstück eröffnete, daß er nicht weiter mit ihr durchs Land ziehen könnte, weil seine Bank ihn dringend zu einer Sondersitzung der Weltbank nach New York entsenden wollte.

Sie gratulierte ihm nicht, sie bedauerte die Trennung nicht, sie zweifelte nicht an der sachlichen Richtigkeit seiner Aussage, sie schlug ihm nicht vor, auf die Teilnahme an der Tagung zu verzichten.

"Wir setzen unsere Reise ein anderes Mal fort," war ihr einziger Kommentar, "heute Vormittag besorgen wir die Flugtickets." Sie sah so schön und anmutig aus wie immer.

Arnold wußte wo das Ticketingbüro der Fluggesellschaften lag. Er hatte es vom Bus aus gesehen, der sie aus Yangshuo zurückbrachte.

Sie brauchten zu Fuß nur zehn Minuten von ihrem Hotel. Es war eine Art Wartesaal mit zwei vergitterten Verkaufsschaltern, vor denen sich die Kunden wie Bittsteller aufreihen durften. Schon für eine Fluganfrage mußte man ein längeres Formular ausfüllen.

Es gab eine Schwierigkeit, mit der Arnold nicht gerechnet hatte. Er konnte zwar sofort nach Hongkong fliegen. Es waren immer Sitzplätze frei. Aber einen Flug nach Tschungking konnte Meilan erst in drei Tagen bekommen. Meilan war bereit, die drei Tage allein in Guilin zurückzubleiben. Aber Arnold hatte sie hierher eingeladen, ihr diese Reise aufgedrängt, er wollte sie auch sicher wieder ins Flugzeug nach Hause setzen und dann erst in seine Maschine nach Hongkong einsteigen. Das entsprach seinem Verständnis von Partnerschaft, und Meilan war erleichtert.

Meilan mußte, um ihr Flugticket zu erhalten, nicht nur ihren Personalausweis vorlegen, sondern auch eine von ihrer Firma unterschriebene und abgestempelte Bescheinigung, daß ihre Reise dienstlich erforderlich sei. Sie hatte mehrere solcher schon unterzeichneter Blankovollmachten bei sich. Ohne dieses Papier, erklärte sie ihm, bekämen Privatleute offiziell kein Flugbillett, denn Flüge seien das Privileg höherer Kader und ausländischer Touristen. Als er sein Ticket in Empfang nahm - sein Flug ging eine halbe Stunde nach ihr - war er höchst zufrieden. Noch drei Tage an ihrer Seite, aber lauter letzte Tage, nicht mehr belastet mit Ungeduld im Wartezimmer des Herzens.

Am Nachmittag besuchten sie den Elefantenkopfberg, der das Panorama vor ihren Hotelzimmerfenstern beherrschte. Meilan hatte ein helles Sommerkleid mit einem fröhlichen Blütenmuster angezogen, dessen weit schwingender Stoff ihre Figur abwechselnd betonte und verbarg. Der Elefantenkopfberg, der in eine Biegung des Li Flusses ragte, war nicht so steil wie die Felstürme, die sie zuvor erklettert hatten. Sanft steigende Wanderwege führten an seinen bewaldeten Flanken empor. Auf der höchsten Stelle seines Rückens stand ein Rundtempel, von dem aus man weit über das Flußtal blicken konnte. Der Kopf des Elefanten war begehbar. Eine steinerne Balustrade schützte die Besucher vor dem jähen Absturz in das grau strudelnde Wasser des Flusses. Arnold machte viele Abschiedsphotos von Meilan. Sie setzte sich auf Mauern und Felsblöcken in Pose, den Rock über den Oberschenkeln hochgerafft, den Busen ins streifende Seitenlicht gedreht. Er stellte sich vor, daß die erotischen Signale, die sie aussandte, für das Objektiv der Kamera bestimmt waren.

Nach dem Abendessen wollte Meilan ihm in einem Karaoke-Club Lieder vorsingen. Ihr eigenes Hotel hatte keinen Karaoke-Raum. Im Nachbarhaus gab es eine Disco, aber ihr farbiges Stroboskop-Blitzlichtgewitter war auf die Nerven zehn- bis fünfzehnjähriger Besucher abgestimmt. Sie schlenderten die Hauptstraße hinab, auf der Suche nach einem Karaoke-Lokal, wie schon an ihrem ersten Abend am Perlfluß. Auf dem Bahnhofsvorplatz stand im rechten Winkel zum Hauptbahnhof ein Geschäftshaus, das in den Untergeschossen Restaurants und Läden beherbergte. Im obersten Stock warb eine  große Leuchtschrift für den Karaoke-Betrieb. Sie mußten über ein seitliches Treppenhaus hinaufsteigen, das ziemlich breit und verschmutzt war. Oben fanden sie einen großen Saal voller Gäste, die an einer langen Theke lehnten, an Tischen saßen oder einfach im Raum herumstanden. Die kleine Vorsing-Bühne ganz hinten verschwamm im Zigarettenqualm. Dafür war die Verstärker-Anlage um so lauter gestellt. Die Bedienung, die Meilan ansprach, machte gleich darauf aufmerksam, daß es für Gesangsauftritte eine Warteliste von mindestens zwei Stunden gab. Heute abend herrsche Hochbetrieb.

"Warum nehmen Sie nicht einen kleinen Raum? Da können Sie gleich anfangen." Die Kellnerin schloß ihnen eine Kammer neben der Bar auf. Das Zimmer enthielt einen Fernseher mit aufgesetzten Lautsprechern, einen viereckigen Couchtisch mit zwei Mikrophonen und der in Leder gebundenen Lieder-Bestellkarte, sowie zwei tiefe Plüschsofas.

Meilan begann sofort den Katalog der abrufbaren Songs zu studieren. Die Serviererin brachte unaufgefordert zwei Tassen schwarzen Tee und legte einen Kassenbon über 34 Yüan daneben. Normalerweise war Tee kostenlos.

"Sonderbar," sagte Meilan, "auf dieser Liste kenne ich keinen einzigen Titel."

"Haben Sie noch einen speziellen Wunsch?" fragte die Kellnerin. Ohne auf Antwort zu warten, ließ sie die Tür ins Schloß knallen.

"Das Mikrofon ist ja gar nicht angeschlossen," stellte Meilan fest.

Arnold überprüfte das. Die Mikrofon waren tatsächlich ausgeklinkt. Offenbar hatten die Vorbenutzer des Raumes die Töne, die hier erzeugte wurden, auf den privatesten Bereich beschränkt haben wollen.

"Wir müssen hier raus," erklärte Arnold. Der Zustand der schmierigen Plüschsofas verriet ihm alles. Er hatte solche Etablissements schon gesehen - auf der Reeperbahn, an der Rue de Saintes Innocentes und in den Geylang Lorongs von Singapur. Sie bedeuteten höchste Gefahr für Gesundheit und Geldbeutel.

"Wieso?" fragte Meilan, "was ist los?"

"Erinnerst du dich an das Hotel in Zhuhai, in dem du nicht singen wolltest, an unserem ersten Abend? Das hier ist noch viel schlimmer."

Er stieß die Tür auf und rief "Laojia maidan! Wir wollen zahlen."

Die Serviererin erschien sofort mit einer Rechnung über hunderfünfzig Yüan.

"Das bezahlen wir nicht," erklärte Meilan, "das ist Betrug, das fechte ich an."

Arnold gab der Bedienung das Geld.

"Es ist schon bezahlt. Ich habe meine Gründe, ich erklär dir das unten."

Er schritt mit Meilan durch die Clubhalle, und sie traten hinaus auf den Podest des Treppenabsatzes. Dort herrschte ein starker Andrang von Leuten, aber es waren keine modisch gekleideten Disco-Besucher, sondern Treibgut des Großstadtlebens, Bettler, Obdachlose, kleine Gauner, die vorhin noch nicht dagewesen waren. Da Meilan in der Öffentlichkeit gern auf Distanz zu Arnold hielt, hatten sich schnell zwei Männer zwischen sie gedrängt. Einer packte sie am Arm, zog sie weiter weg und forderte lautstark: "Gei Qiän - gib Geld." Meilan riß den Arm los und erwiderte etwas Scharfes. Aber weitere Personen schoben sich zwischen sie und ihren deutschen Begleiter.

Drei Figuren, die Arnold an ihren breitflächigen Tätowierungen als Triaden identifizierte, Mitglieder einer verbotenen Geheimgesellschaft, fette, muskulöse Kerle mit schlechtrasierten Gesichtern, die nur ärmellose Unterhemden und viel zu kurze blaue Turnhosen trugen, nahmen Meilan in ihre Mitte und drängten sie nach hinten ab, wo sich plötzlich eine Tür in einen unbeleuchteten Raum aufgetan hatte. Das ging alles so schnell, so virtuos einstudiert, daß Arnold kaum Gelegenheit hatte, sich der Bedeutung des Geschehens bewußt zu werden. Die erstaunt schweigende Meilan auch nicht.

Arnold, der völlig nüchtern war, drückte sich vor und rammte seine Schulter als Keil zwischen zwei Kerle, die Meilan zwischen sich eingequetscht hielten.

"Duibuqi," rief er, "ta schi wode - sie gehört mir!"

Sie wichen unwillig auseinander. Er nahm Meilan fest in beide Arme und führte sie gewissermaßen in Tanzschritten über das breite Treppenpodest zu den Stufen, begleitet vom lauten Gemurmel der Zurückbleibenden, und dann die Treppe hinunter, Stufe für Stufe, ohne Meilan einen Augenblick loszulassen. Als sie den Eingang erreichten, waren sie allein. Meilan zitterte am ganzen Körper. Er umfaßte ihre Schultern und führte sie zurück auf die hell erleuchtete Hauptstraße.

"Willst du bei der Polizei Anzeige erstatten?"

"Auf keinen Fall."

"Dieses Land ist ein Polizeistaat. Ich kann dir auf Anhieb drei Organisationen nennen, an die du dich wenden kannst. Da gibt es die Pai Chu Suo, das örtliche Polizeirevier, das Gong An Bu, das Sicherheitsbüro, und den Guojia Anchüan, den Staatssicherheitsdienst."

"Du kennst unser Land nicht. Wenn eine Organisation so offen auftreten kann, dann verfügt sie über beste Beziehungen zu den örtlichen Machthabern, dem Polizeichef, dem Garnisonskommandanten, dem obersten Parteisekretär. Jede Anzeige würde abgewürgt. Schlimmer noch: wenn ich dich als Zeugen mitbringe, habe ich einen ausländischen Beobachter davon überzeugt, daß in unserem Lande organisierte Kriminalität besteht, und damit mache ich mich selber strafbar, wegen Verrats eines Staatsgeheimnisses. Das kannst du nicht wollen."

Sie gingen die Hauptstraße zurück in die Richtung ihres Hotels. Arnold drehte sich ein paar Mal um, aber sie wurden nicht verfolgt.

"Hast du nicht den Wunsch, etwas zu unternehmen, damit andere Frauen nicht in die gleiche Situation geraten, wie du eben?"

"Es gibt nichts, was du tun kannst. Du kannst dich nur selbst in Sicherheit bringen. Jedes Jahr werden von Verbrecherringen Zehntausende von jungen Frauen entführt und als Ehefrauen in weit entfernte Bauerndörfer verkauft."

"Warum laufen sie nicht zurück zu den Eltern?"

"Weil sie sich schämen. Weil sie nicht wissen, wo sie sind. Weil sie zu Hause auch kein besseres Leben erwartet."

"Du siehst nicht wie eine typische Bäuerin aus."

"Das hat mich auch gewundert. Es gibt Bordelle für Fernfahrer an einsamen Straßen, wo die Mädchen angekettet werden."

"Vielleicht wollten sie sich auch nur einen schönen Abend mit dir machen."

"Es gibt noch eine Sache, die nie an die Öffentlichkeit kommt: Es gibt jedes Jahr Tausende von Kidnapping-Fällen mit hohen Lösegeldforderungen. In den meisten Fällen zahlen die Angehörigen."

"Das ist ja schlimmer als auf den Philippinen. Aber deine Familie ist nicht wohlhabend."

"Ich trage teure Kleider. Vielleicht war das mein Fehler."

Sie waren am Osmanthus Hotel angelangt.

"Ich muß jetzt unbedingt ein heißes Bad nehmen."

"Das kann ich verstehen. Ich ruf dich später an."

"Tu das."

Da in diesem Hotel in allen Badezimmern ein Nebenanschluß des Zimmertelefons hing, wählte er nach einer Viertelstunde ihre Nummer.

"Geht es dir jetzt besser?"

"Viel besser. Aber ich will heute Abend keinen Mann mehr sehen. Das kannst du doch verstehen. Bitte."

"Wenn das dein Wunsch ist."

"Dann sage ich dir jetzt am Telefon Gute Nacht."

"Gute Nacht."

Er hatte eigentlich angenommen, daß das Gefühl der Verlassenheit, das ihn überfiel, wenn er sich abends aus ihrem Leben ausgesperrt sah, nach seinem Abreiseentschluß fortbleiben würde, denn er erwartete in diesem Urlaub nichts mehr von ihr. Aber jetzt hatte er sie aus den Händen der Mafia gerettet. Das war etwas anderes. Er wollte sich mit seiner allabendlichen Isolation nicht abfinden und ging hinunter zur Lobby. In die Hotelbar war eine Reisegruppe deutscher Pauschaltouristen eingebrochen. Er fand einen freien Platz zwischen einem schlanken Weißhaarigen, der ein blaues Oberhemd mit Bügelfalten trug, und einem agilen Dicken, dessen fast haarloser Schädel durch einen kräftigen Sonnenbrand gerötet wurde.

"Do you speak Englisch?" sprach er Arnold an.

"Es kann auch Deutsch sein. Ich heiße Feldmann."

Die beiden stellten sich vor und wollten wissen: "Mit welchem Veranstalter sind Sie hier?"

"Ich reise allein."

"Ist das erlaubt?"

"Ich mache das seit mehr als zwanzig Jahren."

"Wir sind zum ersten Mal hier. Mit Medicus Universal."

"Eine Weltreise auf Kosten des Steuerzahlers," sagte Arnold leichthin.

"Das sehen Sie falsch," protestierte der Dicke. "Die Steuerzahler, das sind wir. Vierundfünfzig Prozent Einkommensteuer. Mehrwertsteuer. Benzinsteuer, Versicherungssteuer, Solidaritätszuschlag. Nicht auf Kosten der Steuerzahler, auf eigene Kosten sind wir unterwegs, und wenn das unsere Steuerschuld um ein paar Tausender reduziert, bleibt sie immer noch viel zu hoch."

"Sie haben recht," sagte Arnold, "ich habe mich ungeschickt ausgedrückt. Haben Sie erfahren, was Ärzte hier in China verdienen?"

"Es ist ein Skandal," sagte der Weißhaarige, "ein absoluter Skandal. Aber ich muß auch sagen, das Berufsethos hier hat mir nicht gefallen. Wissen Sie, ich bin Frauenarzt, und ich habe mich mit dem Leiter der Gynäkologischen Station einer Shanghaier Klinik unterhalten. Die machen dort sehr viele Abtreibungen. Und wissen Sie, was sie tun? Sie machen die Eingriffe alle ohne Betäubung. Das tut doch weh, sagte ich. Es soll auch weh tun, erwiderte mein chinesischer Kollege. Es soll weh tun, damit die Frauen das nächste Mal besser aufpassen. Was ist das für eine Einstellung?"

"Nach außen," sagte der Dicke, "tun die Menschen hier alle umwerfend höflich, immer nur lächeln, aber im Innersten sind sie Barbaren."

"Quält die westliche Klinikmedizin ihre Patienten nicht auch?" warf Arnold ein. "Künstliche Sterbeverlängerung durch Apparate. Ärztlich verordnete Agonie."

"Das ist tragisch. Aber wir lassen niemanden mit Absicht leiden. Das ist der Unterschied."

"Was ist der Zweck Ihres China-Besuchs?" erkundigte sich Arnold.

"Eine Informationsreise zum Thema Akupunktur."

"Waren Sie mit dem Programm zufrieden?"

"Wir haben eine Menge Einsichten gewonnen."

"Sind Sie der Wirkungsweise der Akupunktur auf die Spur gekommen?"

"Ich glaube schon. Der Reiseleiter ist noch nicht überzeugt. Aber nach unserem Erkenntnistand scheint die Akupunktur ein System korrelationsloser Phänomene zu sein."

"Was bedeutet das?"

"Früher hatten wir im Abendland das ptolomäische System der Astronomen, das haargenau erklärte, weshalb die Sonne und die Planeten sich um die Erde drehten. Das System war logisch unangreifbar und tausend Jahre lang herrschende Lehrmeinung. So ähnlich ist es auch mit der Akupunktur. Man stellt zwischen separat existierenden Fakten einen künstlichen Zusammenhang her. Es gibt Punkte auf der Haut mit besonderer elektrischer Leitfähigkeit, aber ihre Funktion ist noch nicht geklärt. Jeder Mensch, dem ich eine Nadel in die Haut stoße, schüttet Endorphine aus, die sein Immunsystem beeinflussen. Aber daß dabei Energie durch sogenannte Meridiane fließen soll, halte ich für Humbug."

"Es gibt eine Menge Berichte über Heilwirkungen der Akupunktur."

"Spontanheilungen treten immer auf. Dreißig Prozent der Heilerfolge bei jeder Therapie beruhen auf dem Placeboeffekt. Das ist ein Phänomen, das viel zu wenig erforscht wird, weil die Pharmaindustrie daran kein Interesse hat."

"Der Placeboeffekt," meinte Arnold, "ist wahrscheinlich das Ergebnis der persönlichen Überzeugungskraft des Arztes."

"Das haben Sie gut beobachtet," sagte der Gynäkologe. "Darf ich für Sie noch etwas zu trinken bestellen?"

Die Ärzte machten auf Arnold trotz ihrer Fähigkeit, sich klar auszudrücken, einen leicht verunsicherten Eindruck. Sie schienen unter dem Zwang zu stehen, angesichts des Einsturms all der neuen Eindrücke einer fremden Kultur die eigene Welt aggressiv verteidigen zu müssen. Arnold hatte diese emotionelle Hilflosigkeit, die bis zu Wutausbrüchen und hysterischen Lachanfällen führen konnte, selber schon durchlitten. Er hatte ihr den Namen China-Koller gegeben.

Als er auf sein Zimmer zurückging, begegneten ihm im Hotelflur zwei höhere Offiziere der chinesischen Armee, die keine Zimmerschlüssel trugen. Hatte Meilan doch Anzeige erstattet? Oder hatte es einen Grund für ihren Entführungsversuch gegeben, von dem er nichts wußte? Er bückte sich vor Meilans Tür, um zu sehen, ob bei ihr noch Licht brannte. Er konnte nichts erkennen.

Am nächsten Vormittag hatte Meilan Lust auf ein Picknick. Beim Studium des Reisehandbuchs, das Arnold im Hotelshop gekauft hatte, fanden sie heraus, daß es in einer Autostunde Entfernung das 1200 Jahre alte Grab eines Tang-Prinzen gab. Dort wollten sie hinfahren. In Guilin selber gab es keine historischen Gebäude, abgesehen von einem alten Stadttor, das jetzt im Zentrum stand. Dabei war die Stadt hundert Jahre älter als Köln.

"In Peking," sagte Meilan, "unternehmen die Leute gern Tagesausflüge zu den Kaiser-Gräbern der Ming-Zeit, und die wurden erst vor fünfhundert Jahre gebaut."

Sie übernahm es, Essen und Getränke zu besorgen. Es war ein warmer, leicht windiger Tag, ideal zum Nichtstun. Der Taxifahrer, der sie am Eingang zur Grabanlage absetzte, bot ihnen an, auf sie zu warten, bis sie mit der Besichtigung fertig waren.

"Das kann Stunden dauern."

"Hier kommt niemand vorbei, der Sie zurückbringt. Sie müssen den ganzen Weg zu Fuß gehen. Das sind 45 Meilen."

"Wir gehen gerne zu Fuß," sagte Meilan gutgelaunt, "wir müssen die Tradition des Langen Marsches hochhalten."

Das weitläufige Friedhofsareal, das sie betraten, war zwölf bis fünfzehntausend Quadratmeter groß und vollständig von einer Mauer umschlossen, deren Krone durchgehend mit blauen Dachziegeln gedeckt war. In der Nähe des Eingangs sahen sie gepflegte Blumenrabatte, in Zentrum flankierten zwei Reihen einstöckiger Gebäude einen gepflasterten Platz. Es gab einen buddhistischen Tempel, ein Museum, einen Andenkenladen,  Wirtschaftsgebäude. Japanische Touristen, die mit einem großen Bus gekommen waren, verdeckten die wenigen Ausstellungsstücke im Museum. Arnold und Meilan gingen weiter, zum Grabestor, hinter dem auf dem restlichen Drittel des Friedhofs ein lichter Kiefernwald wuchs. Der Grabhügel war nicht zu erkennen. Eine Hecke trennte das Kiefernwäldchen vom Besucherbereich ab. Niemand achtete auf sie, als Meilan und Arnold sich durch die Büsche zwängten.

Der trockene Boden war vollständig mit hellbraunen Kiefernadeln bedeckt, zwischen denen sich dünne Grashalme hervorschlängelten. Meilan hatte ein großes Seidentuch mitgebracht, das sie auf dem Boden ausbreitete. Sie setzten sich, und Meilan packte das Essen aus. Es gab Hefeklöße, die mit süß-saurer Bohnenmarmelade gefüllt waren und schnell sättigten. Zu trinken hatten sie  Chrysanthementee und Sojamilch in ziegelförmigen Papptüten mitgebracht.

"Im Westen," erzählte Arnold, "züchten wir Kühe, die uns Milch, Käse und Fleisch geben. In China macht man Ersatz-Milch, Ersatz-Käse und Ersatz-Fleisch aus Bohnen. Warum eigentlich? In der Tang-Zeit, als der Mann lebte, der hier begraben liegt, hatte ganz China sechzig Millionen Einwohner, so viele wie Westdeutschland vor der Wiedervereinigung. An Platz für Kühe kann es also nicht gefehlt haben. Eine Milchkuh deckt den Nahrungsbedarf von acht Personen. Die Kuh auf die Weide zu treiben und zu melken, macht weniger Arbeit als Sojabohnen zu pflanzen, zu ernten und zu verschroten. Warum haben deine Vorfahren nicht den leichteren Weg gewählt?"

"Deine Sicht der Dinge," sagte Meilan, "ist die eines Fremden. Bei uns käme niemand auf die Idee, anderen Menschen Arbeit zu ersparen. Das setzt die Achtung vor dem anderen voraus. Die gab es nicht mal zwischen Mann und Frau. In unserer alten Feudalgesellschaft bedeutete die Ehe die Alleinherrschaft des Mannes über die Frau. Ein verheirateter Mann hatte das Recht, Konkubinen ins Haus zu bringen, oder sich mit Dienstmädchen zu amüsieren, aber wenn seine Frau sich mit einem anderen einließ, durfte er seine Frau totschlagen oder an ein Bordell verkaufen."

Ihre Stimme klang bitter, ihr Atem ging heftig. "Sieh dir diesen schönen Park an. Ein riesiges Grundstück als Grab für einen einzigen Mann. Er war vielleicht einen Meter fünfundsiebzig lang und fünfzig Zentimeter dick. Warum brauchte er soviel Platz?"

Meilan streckte sich der Länge nach auf dem Seidentuch aus und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Der Anblick der schwarzen Kräuselhaare in ihren Achselhöhlen beunruhigte ihn nicht. Dies war ein Ort des Friedens für Tote und Lebende. Ein paar Insekten zirpten gegen die Mittagshitze an. Die Kiefern rauschten im Wind, und es klang wie das Rauschen des Meeres, das vor Jahrmillionen diese Landschaft bedeckt hatte. Arnold war im Einklang mit sich selbst und mit seiner Nachbarin. Alle Spannungen hatten sich gelöst.

Als sie sich auf den Rückweg machten, döste am Eingang ein einsamer Andenkenverkäufer, der ihnen keine Beachtung schenkte. Sonst war die Welt wie ausgestorben. Sie hatten tatsächlich einen langen Marsch vor sich.

Die unbefestigte Straße führte an Reisfeldern vorbei, auf denen die Schößlinge schon versetzt waren. Die Wurzeln im Wasser, drängten die jungen Pflanzen in die Höhe und in die Breite. Es sah aus, als wüchsen sie auf Spiegeln. Am Eingang zum nächsten Dorf kam ein bucklichtes rotes Taxi hupend auf sie zugefahren.

Hinter dem Lenkrad saß eine junge Frau mit zerzaustem Haar und Staubstreifen auf dem Gesicht. Meilan öffnete die Beifahrertür. Arnold quetschte sich auf den Rücksitz, der so eng war wie in einem Porsche und ihn zwang, den Kopf einzuziehen, bis er halb zwischen den Vordersitzlehnen hing.

Die Fahrerin redete ununterbrochen, doch Meilan reagierte nur mit einsilbigen Einwürfen. Arnold konnte das Chinesisch der Frau gut verstehen.

"Seid ihr verheiratet? Habt ihr Kinder? Hast du schon seine Eltern im Ausland besucht? Wie hast du ihn kennengelernt? Ist es wahr, daß Ausländer im Innenraum viel zu bieten haben? Ich möchte gern einen Ausländer kennenlernen, aber ich verstehe die Sprache nicht. Er muß mich nicht gleich heiraten. Er sollte mir einen Wagen mit vier Türen schenken. Damit könnte ich mehr Geld verdienen und mir ein Haus aus gebrannten Ziegeln mit einer Dachterrasse bauen. Und immer wenn er in China ist, könnte er bei mir im Haus wohnen und das Geld für das Hotel sparen. Weißt du wie teuer Hotels in Guilin sind? Und wenn er im Ausland ist, könnte meine Mutter auf der Dachterrasse sitzen und die Vögel beobachten. Meine Mutter hat nicht mehr viel Bewegung, seit ihr letztes Jahr das Bein amputiert wurde, wegen Zucker."

Sie drehte sich um und lächelte Arnold an. Sie hatte eine frische, arglose Art, die ihn rührte. Er nahm an, daß sie eine Angehörige der nationalen Minderheit der Zhuang war, die in dieser Provinz die Mehrheit bildete. Kein Wunder, daß er ihr Chinesisch so gut verstand, es war für sie selbst eine Fremdsprache.

"Sieh auf die Straße," herrschte Meilan die Fahrerin an.

Arnold gefiel die Zhuang Frau. "Ich finde, sie fährt gut," verteidigte er sie.

"Bist du verrückt? Die Karre fliegt jeden Augenblick auseinander. Wir haben Glück, wenn wir lebend nach Guilin kommen."

Beim Aussteigen kontrollierte Meilan, wieviel Trinkgeld er gab. Arnold verabschiedete sich von der Fahrerin mit den Worten:

"Koop khun krap. La goon."

Ein Lächeln des Verstehens ließ ihr Gesicht noch lebendiger wirken. Erfreut erwiderte sie:

"Koop khun kha. Pop gan mai, na kha..."

"Was habt ihr besprochen?" wollte Meilan wissen, die kein Thai verstand.

"Ich habe sie gefragt, ob sie eine Zhuang ist."

"Das hätte ich dir gleich sagen können."

Das bucklichte rote Taxi fädelte sich laut hupend in den Verkehrsstrom ein.

Als sie beim Abendessen saßen, färbte sich der Himmel hinter den Feigenbäumen leuchtend rot, als schössen Flammen aus dem Horizont. Ein Abglanz dieser Glut vergoldete die Wellentäler im Wasser des kleinen Sees.

"Wieviel Geld muß man wohl für ein Ziegelhaus mit Dachterrasse ausgeben?" fragte Arnold.

"Willst du so wohnen? Ein Haus auf dem Lande. Ohne Autobushaltestelle. Ohne fließendes Wasser, ohne Kanalisation. Diese Zhuang-Frauen waschen sich so gut wie nie. "

Es war nicht der verächtliche Ton, in dem sie das sagte, der ihn verletzte. Es war das Bewußtsein, daß ihre Reinlichkeit keinen Bezug auf das Zusammensein mit ihm hatte.

Sie schien ihm die Gedanken vom Gesicht abzulesen. Sie legte die Hand auf seine Rechte.

"Im Gegensatz zu dieser Frau will ich dich heiraten."

"Ich will dich auch heiraten. Laß uns auf dem Zimmer weiter reden."

Zum ersten Mal auf dieser Reise folgte sie ihm nach dem Abendessen auf sein Hotelzimmer. Sie rückten die beiden Lehnsessel zusammen, in denen man tief einsank, holten sich das Licht der schwachen Stehlampe. Sie lehnte sich zurück.

"Was ist das Problem?"

Er wich ihr nicht aus, obwohl ihre aggressive Art ihn verlegen machte.

"Du bleibst abends lieber allein in deinem Zimmer als mit mir tanzen zu gehen."

"Das ist in unserer Gesellschaft vor der Ehe nicht üblich." Ihre Antwort verriet, wie klar ihr bewußt war, daß es ihm nicht nur ums Tanzen ging.

"Wir sind keine Anfänger. Du warst schon einmal verheiratet. Gleich in den Flitterwochen hast du entdeckt, daß du deinen Mann nicht ertragen konntest."

"Das habe ich nie gesagt."

"Aber es war so."

Sie nickte. Ihre Augen füllten sich bis zu den Wimpern mit Nässe.

"Ich versteh nicht, warum diese Sache so wichtig sein soll, wenn man sich wirklich liebt, wenn man heiraten will."

"Bei deinem Mann war es dir wichtig. Unendlich wichtig. Daß ihr euch trenntet."

Sie nickte wieder.

"Ich will nicht, daß es dir mit mir genauso ergeht. Ich kann nur eine Frau heiraten, die mit mir zusammen sein will."

"Glaubst du, ich bin jemand, den man ausprobieren kann, um dann zu sagen: Danke, es war nichts?"

"Ich stelle mir vor, wenn wir erst einmal anfangen, wollen wir überhaupt nicht mehr aufhören."

"Meinst du das ernst?"

"Du bist eine Frau, ich bin ein Mann."

"Das sagst du so." Ihre Stimme klang ratlos, verirrt, verloren.

Er lehnte sein Gesicht an ihre Wange. Sie saßen stumm zusammen. Er fühlte, wie das Vertrauen zu ihm in ihren Körper strömte und dann wieder zurückwich, wie Wellen am Meeresstrand. Er konnte nicht erkennen, in welcher Phase der Gezeiten sie sich befand, Flut oder Ebbe.

"Versuch es einfach," sagte er, sie etwas fester haltend.

"Ich bin todmüde," sagte sie, "ich muß mich hinlegen und über alles nachdenken. Wir sehen uns morgen."

Als sie sich erhob, umarmte er sie. Sie legte beide Arme um seinen Hals. Ihr Mund war weich und zustimmend, verschloß sich, kam offen zurück und schloß sich wieder.

"Gute Nacht," sagte sie, und er spürte die Kraft in ihren Armen, als sie sich losriß.

Am westlichen Frühstücksbüffet lud Meilan anderntags alle angebotenen Wurst- und Fleischarten auf ihren Teller. Dann probierte sie aus, was davon sich noch durch Sambal Oleg im Geschmack verbessern ließ.

"Was machen wir heute?" fragte sie mit vollem Munde.

"Ich will zum Sheraton-Hotel gehen und nachsehen ob dort wirklich so gute zeitgenössische Bilder hängen, wie unser Reisegefährte aus Taiwan behauptet."

"Lassen die uns rein?"

"Was hast du für Vorstellungen? Wir sind Touristen. Die typischen Hotelbesucher."

"Wie kommen wir hin?"

"Es liegt am Li Fluß, in der Nähe der Brücke."

Sie nahmen den Shuttle-Bus ihres Hotel zum Stadtbüro des "International Tourist Service" und gingen von dort die Uferpromenade hinauf. Leichter Dunst hing über dem Wasser. Die Schiffssirenen der Ausflugsboote kündigten den Aufbruch zu neuen Tagestouren nach Yangshuo an. Ein junger Mann kam auf einem Fahrrad an sie herangefahren, bremste ab und rief: "Ich möchte mich mit Ihnen auf Englisch unterhalten."

"Wir sprechen kein Englisch," blockte Arnold auf Chinesisch ab.

"Wo kommt ihr her?" fragte der Junge aufdringlich weiter.

"Aus Singapur." Es war ihm eingefallen, weil dort viele gemischte Paare leben.

"Das glaube ich nicht," rief der Radfahrer. "Sie ist von hier, sie ist von hier." Dann trat er schnell in die Pedale und verschwand.

"Wieso hält er dich nicht für eine Auslandschinesin?" wunderte sich Arnold. "Bei deiner Kleidung."

"Vielleicht die Schuhe. Vielleicht ist es auch, weil die Auslands-Chinesinnen eine natürliche Dreistigkeit besitzen, die uns abgeht. Uns hat man in der Kulturrevolution das Rückgrat gebrochen." 

Das Sheraton war eine aus roten Sandsteinquadern aufgetürmte Touristenburg. Der Türsteher riß ihnen beflissen die schwere Glastür auf. Da Arnold nicht an der Rezeption nachfragen wollte, suchten sie die Lobby und die Piano-Bar ab. Ein junges Serviermädchen trat auf sie zu, verlor aber bei Meilans Anblick die Sprache und stotterte: "Ni shi zhen mei - du bist wunderschön."

Arnold erklärte ihr, was sie suchten, und sie führte sie zu einem Ölgemälde, das im Hintergrund an einer Wand ganz für sich hing.

Auf den ersten Blick machte es keinen überspannten Eindruck. Einfaches Dorfleben am Ufer des Li Flußes. Frauen mit freiem Oberkörper gingen vor einer Bambushütte der Arbeit des Reismahlens nach. Man glaubte die Bäuerinnen singen zu hören. Ein schwarzes Schwein wälzte sich auf der Straße, ein Kind jagte ein Huhn.

Es war ein Dorfidyll, aber zugleich lag über dieser friedlichen Szene eine alptraumhafte Spannung des Bedrohtseins, als könnte jeden Augenblick ein unsichtbarer Vulkan ausbrechen und alles Leben auf dem Bild unter Staub und glühenden Steinen begraben.

"Das ist großartig," sagte Meilan. Sie drückte seinen Oberarm kurz über dem Ellenbogengelenk.

"Der Maler lebt hier in Guilin, hat der Architekt erzählt."

"Wie können wir mehr über den Maler dieses Bildes erfahren?" fragte Arnold die Serviererin, die ihnen nachgegangen war.

"Die Geschäftsführerin im Freundschaftsladen hat Bilder von ihm zum Verkauf. Sprechen sie mit ihr."

Eine aparte Frau in Meilans Alter bediente im Andenkenladen des Hotels.

"Wir interessieren uns für den Maler Ma, dessen Ölgemälde in der Lobby hängt."

"Ein wundervolles Bild, nicht wahr?" sagte die Geschäftsführerin. "Sie haben Glück, ich habe zwei Gemälde von ihm zum Verkauf." Sie lief zu einem Vorhang an der Seite, hinter dem sie mit einigem Kraftaufwand zwei ungerahmte Ölbilder hervorholte. Das eine war eine konventionelle Darstellung einer Frau, die im Li-Fluß badete, umstellt von phallischen Kalksteinfelsen. Das zweite zeigte eine Frau mit bloßem Oberkörper, der ein zerzauster kleiner Affe auf der Schulter saß. Über der Darstellung lag ein Ausdruck von Nähe und Verlorenheit, der Arnold tief berührte. Meilan musterte die Verkäuferin ungeniert vom Scheitel bis zur Taille. Sie war das Modell für dieses Gemälde. Aber sie hatte Meilans taktlosen Blick nicht bemerkt, weil sie Arnolds Reaktion auf das Bild beobachtete.

"Eine großartiges Gemälde," sagte Arnold, "wir würden den Maler gerne persönlich kennenlernen."

"Das geht nicht," sagte die Frau, "er verkauft nur durch uns. Fünftausend US-Dollar für dieses Ölgemälde."

"Wir sind Journalisten aus Deutschland," behauptete Meilan. "Wir wollen ein Interview mit ihm machen."

"Ich könnte ihn anrufen," meinte die Verkäuferin skeptisch. Sie ging zum Telefon und wählte eine Nummer, die sie auswendig wußte. Sie sagte ein paar Worte, dann überreichte sie Meilan den Hörer: "Er will Sie sprechen."

"Wei," sagte Meilan, und im nächsten Augenblick veränderte sie sich völlig. Ihre Haltung straffte sich, ihre Augen strahlten, ihre Stimme wurde süß und schmeichelnd. Arnold hatte sie noch nie so animiert gesehen.

"Seid ihr zwei verheiratet?" wandte sich die Verkäuferin eifersüchtig an Arnold.

"So gut wie," beschwichtigte er sie.

Als das Telefongespräch zu Ende war, hatten sie einen Termin für den gleichen Tag, und die Verkäuferin malte ihnen den Weg zum Atelier des Malers auf.

Bevor sie sich auf den Weg machten, besorgten sie im Feinkostladen ihres Hotels eine Literflasche Whisky und eine Zweihundert-Gramm-Dose Nescafe als Gastgeschenk.

Ma war ein untersetzter Mann in Arnolds Alter mit warm und schwermütig blickenden Augen, einem Kinnbart und kräftigen Oberarmen. In seiner Gesellschaft befand sich ein weißhaariger Mann mit junggebliebenen Gesichtszügen, der als Kunstkritiker aus Peking vorgestellt wurde, der gerade ein Buch über Ma schrieb.

Ma war sofort von Meilan begeistert und schlug ihr vor, für ihn Modell zu sitzen.

In ihrer Firma in Tschungking, wich Meilan aus, hätte sie Modelle, die tausendmal schöner wären als sie.

"Dann bring Sie her, alle!"

Sie zog ihr schwarzes Notizbuch heraus und sagte zustimmend: "Wir könnten eine Modenschau veranstalten, wenn es eine Bühne dafür gibt." Modenschauen waren in China das jugendfreie Gegenstück zu "Crazy-Horse"-Revuen.

Ma öffnete die Whisky-Flasche und goß jedem ein Wasserglas halb voll. In seiner unwiderstehlich gewinnenden Art nötigte er selbst Meilan, zu trinken, bis sie husten mußte.

"Ihre Geliebte," sagte er plötzlich zu Arnold, mit der Hand in der Luft malend, "hat ein unglaublich interessantes Gesicht. Stellen Sie sich das weibliche Fettgewebe fort, und Sie sehen Züge von männlicher Kühnheit."

Arnold hatte keine homoerotischen Wünsche, und er sah, wenn er Mas Anregung folgte, etwas ganz anderes. Er sah den Engel der Verkündigung, wie er auf Gemälden der italienischen Frührenaissance erschien. Aber das konnte er den Anwesenden nicht vermitteln.

Im Nebenraum hatte Ma ein großes Lager an unverkauften und zur Zeit auch nicht ausgeliehenen Bildern. Zusammen mit dem Kunstkritiker schleppte er sie ins Atelier, um eine Privatausstellung für Meilan und Arnold zu veranstalten.

Seine Bilder hatten fast alle einen festen Themenkreis.  Seine Lieblingsmotive waren Bambushütten, Palmen, Reisfelder, Bambusbüsche, Arbeitselefanten, Wasserbüffel. Das alles bevölkert von halbnackten Frauen. Ein wenig Gaugin, ein wenig das Bali, das Walter Spies in den Dreißiger Jahren hatte zeigen wollen.

Aber die Welt, die er malte, war nicht idyllisch. Jeder Gegenstand, jedes Wesen, das er schuf, hatte ein bedrohliches Eigenleben, versprach künftiges Unheil.

Von Arnold wurde ein Urteil erwartet.

Er stellte sich neben eine Zweitversion des Halbakts mit dem Affen.

"An dieser Darstellung beeindruckt mich, daß beiden Figuren der Wunsch geliebt zu werden, anzusehen ist, aber sie können einander dieses Bedürfnis nicht erfüllen. Es gibt keine Hoffnung für die Liebenden."

"Ich habe dieses Bild Mona Lisa mit dem Affen genannt," erläuterte Ma.

"Die echte Mona Lisa, die Leonardo gemalt hat," merkte der Kunstkritiker an, "hatte ein rätselvolles Lächeln, dessen Geheimnis die Nachwelt nie gelöst hat."

"Kennen Sie die Legende vom Elefantenkopfberg?" fragte Ma.

"Wir wohnen an seiner Flanke, aber die Geschichte kennen wir nicht."

"Es war einmal ein großer weiser Elefant, geht die Legende, der von einer Rotte unbarmherziger Jäger gehetzt wurde. Er rannte und rannte, bis er vor Erschöpfung nicht mehr weiter konnte. Da war er am Ufer des Li Flusses angelangt. Er wollte sich mit einem Schluck Wasser stärken und kniete am Ufer nieder. Als er den Rüssel ins Wasser tauchte, sprang ein Jäger auf seinen Nacken und trieb ihm sein langes Messer zwischen die Halswirbel. Der Elefant war auf der Stelle tot."

"Eine entsetzliche Geschichte," meinte Arnold, "das Böse siegt über das Gute."

"Die Gegend hier ist voll von solchen schrecklichen Legenden. Im Augenblick, da wir glauben, unseren Durst zu stillen, müssen wir sterben."

Meilan hatte eine ganz persönliche Interpretation zu Mas Malstil. In der chinesischen Literatur, referierte sie, gab es das Gegensatzpaar "Djia" und "Dschen". "Djia" hieß falsch, unecht, Schein, Illusion. "Dschen" war das Wahre, das Echte, die Substanz. Im Roman "Traum der roten Kammer" hießen die beiden Großfamilien Djia und Dschen. In der "Pilgerfahrt nach dem Westen" begegneten die Hauptfiguren dauernd falschen Buddhas, die "djia" waren. In der Malerei Mas gab es keinen schönen Schein, kein "Djia", nur "Dschen".

Meilan redete sich in Begeisterung. Sie lebte auf im Ungang mit Künstlern und Intellektuellen, mehr als in der Welt der Zahlen und Geschäfte.

Aus dem Depot wurden weitere Bilder geholt, deren Thematik zunehmend bedrohlicher wurde.

Um einen toten Wasserbüffel saßen barbusige Frauen, die ihn beweinten. Ein sterbender Elefant lag auf der Seite, von vielen Speeren durchbohrt. Die Stoßzähne ragten anklagend in den Himmel. Eine erschossene Frau versank in einem Reisfeld, der Wasserspiegel unter den grünen Halmen war hellrot getönt. Ein Regen von Totenschädeln ging auf eine buddhistische Stupa nieder. Die Köpfe waren fast lebensgroß, bei manchen klebten noch Haare und Blut an den gebleichten Knochen.

"Diese Bilder habe ich nach dem vierten Juni gemalt."

"Nach dem Massaker von Peking," fügte Meilan erläuternd hinzu."

"Ich war während der Demokratiebewegung in Peking," sagte Arnold. "Bekommen Sie keine Schwierigkeiten mit dem Staatssicherheitsdienst, wenn sie solche Bilder malen?"

"Die sind so beschränkt," sagte Ma, "die glauben doch, daß ich das japanische Massaker von Nanking darstelle."

Zusammen mit dem Kritiker schleppte Ma noch ein zwei Meter langes Gemälde an, das einen Berg von ausgebluteten Embryos unter Kokospalmen zeigte. Das Motiv kam Arnold bekannt vor, aber er wußte nicht woher.

"Das hätten alles erwachsene Frauen werden können," schimpfte Ma, "aber die moderne Ultraschalltechnik ermöglicht die Geschlechtserkennung im Mutterleib. Und das ist das Ergebnis."

Ma richtete eine kaum hörbare Frage an Meilan, auf die sie unwirsch reagierte.

Arnold stieß sie an: "Er hat dich gefragt, ob du abgetrieben hast?

"Ja."

"Und, hast du?"

"Ich habe niemals einem Mann erlaubt..." Sie brach ab. "Ich vertrage den Whisky nicht. Ich will heim."

Aber so schnell kamen sie nicht davon. Ma hatte eine Einladung zu einer Ausstellung im Herbst in New York, und die Besucher mußten ihm erklären, welche Gemälde er hinschicken sollte. Bei den Embryos war Arnold sich im Zweifel, aber von vielen anderen versprach er sich starke Wirkungen. Der Kritiker hielt sogar Verkaufspreise in der Lage von zwanzigtausend bis achtzigtausend Dollar vorstellbar. Meilan wurde aufgefordert, ihre Vorstellungen von Djia und Dschen für den New Yorker Ausstellungskatalog zu Papier zu bringen. Bevor sie gingen, mußten sie noch einmal auf den Erfolg anstoßen.

An der frischen Luft vor dem Haus faßte Arnold Meilan um die Hüfte. Sie lehnte sich leicht gegen ihn. Von einem Imbißstand am Straßenrand kauften sie knusprig gebratenes Hühnerfleisch und aßen es im Gehen mit den Fingern. Sie ließ es zu, daß er anschließend ihre Fingerspitzen sauber leckte.

"Kann es sein," fragte er, "daß du noch Jungfrau bist?"

"Wie sollte das angehen? Ich bin Achtunddreißig und geschieden. Aber ich mag Männer nicht besonders."

Trotzdem kam sie noch zu einem Gutenachtkuß in sein Zimmer. Weil sie den Abend weggewesen waren, standen die schweren Fenstervorhänge noch offen, und man konnte den erleuchteten Umriß des Elefantenkopfberges sehen. Aber man konnte von draußen nicht in ihr Zimmer blicken. Er zog die Vorhänge nicht zu, weil er Angst hatte, sie scheu zu machen. Sie wollte nichts zu trinken, sie hatten bei Maler Ma genug bekommen. Als sie vor ihm stand und er mit beiden Händen ihren Busen umfaßte, seufzte sie, aber sie stoppte ihn nicht, ließ sich von Bluse und BH befreien. Das Gefühl, das seine Hände und Lippen in ihr auslösten, schien sie unvorbereitet zu treffen. Er empfand eine atemberaubende Zärtlichkeit für ihre plötzlich ausbrechende Sinnlichkeit. Wenn er sie losließ, um durchzuatmen, holten ihn ihre Hände zurück. Eine Stunde verging so, oder anderthalb. Das Profil des Elefantenkopfberges war bei ihnen. Das Verlangen nach Zärtlichkeit nahm nicht ab. Das einzige, was sie nicht spüren wollte, war das Tasten seiner Finger auf ihrer Strumpfhose. Ihre Hände wiesen ihn energisch zurück.

"Warum nicht?" fragte er.

"Niemals," raunte sie.

"Bist du sicher?"

Sie rollte sich auf die Seite und zog seinen Kopf auf ihre Schulter.

"In diesem Land," sagte sie, nahe an seinem Ohr, "kann ich dir niemals gehören, solange wir nicht verheiratet sind."

Er streichelte immer noch ihre Haut, aber die unerträglich gewordene körperliche Erregung schwächte sich ab und machte einer angenehmen Spannung Platz.

"Ich sage nicht," erklärte sie, "daß ich nicht will. Ich sage nur, hier geht es nicht. Du kennst dieses Land nicht. Du siehst den wirtschaftlichen Fortschritt, aber was hinter der Oberfläche passiert, weißt du nicht. Wir stehen unter Beobachtung. Überall hier können Mikrophone versteckt sein, die jedes Wort, das wir sprechen aufnehmen. Und wenn sie feststellen, daß ich etwas Verbotenes tue, werden sie warten, bis du abgereist bist und mich dann ins Gefängnis bringen, ohne daß du je erfährst, was passiert ist."

"Ich würde Himmel und Erde in Bewegung setzen, um dich freizukaufen, wie es der französische Kulturattachee getan hat."

Er nahm ein kleines Frottiertuch in die Hand und rieb ihren noch etwas feuchten Körper trocken. Er konnte sich vorstellen, daß es Menschen gab, die eine irrationale Angst vor dem System hatten, aber sie gehörte wohl nicht dazu. Sie unterschätzte seine Kenntnis der Verhältnisse in China und übertrieb deshalb phantasievoll. Sie hätte schon Mitarbeiterin der Sektion zwei des militärischen Abschirmdienstes sein müssen, um durch ihn ernste Probleme zu bekommen. Aber er sagte nichts, weil er ihr nicht das Gesicht nehmen wollte.

Sie setzte sich auf, so daß er ihre Schönheit wieder im Lampenlicht sah, und ihm wurde schwindlig vor Glück.

"Da sagst, hier geht es nicht. Aber wo? Wo dann?"

"Warum lädst du mich nicht nach Deutschland ein?"

"Du hast hier einen Job als Managerin. Kannst du fort?"

"Für ein Deutsch-Studium im Lande bekäme ich Urlaub. Kein Problem. Wir wollen den deutschen Markt erobern."

"Warum hast du das nicht früher gesagt?"

"Ich dachte, du würdest von selbst darauf kommen."

Empört kniff er sie ins Gesäß, so gut das durch drei Schichten Bekleidung hindurch möglich war. Ihr Gesichtsausdruck verriet ihm, daß sie nicht verstand, was in ihm vorging, aber die Berührung schien ihr zu gefallen.

"Hilfst du mir? Ich brauche eine offizielle Einladung, und die bestätigte Anmeldung zu einem Studiengang."

"Wo willst du wohnen?"

"Bei dir zunächst. Wenn du Platz hast."

"Ich habe nur ein Bett. Ein Meter fünfzig breit."

"Das reicht vollkommen." Sie sah ihn erwartungsvoll an, eine Managerin, die ein Geschäft abschließen wollte, in diesem Fall einen Exportabschluß über ihre eigene Person. War das ihr Ziel von Anfang an gewesen? Hatte sie ihn hereingelegt? Nein, sie gab ihm eine Chance. In Köln würde sich ihre Zukunft entscheiden. Wenn sie sich erlaubte, die Leidenschaft, die er heute in ihr entdeckt hatte, in Deutschland weiter wachsen zu lassen, würden sie nach wenigen Tagen eine völlig neue Beziehung haben, so aufregend, wie er es sich vorgestellt hatte, als er sie zum ersten Mal sah, auf den Treppenstufen vor dem Zollamt.

"Wann kannst du frühestens kommen?"

"Bei Anfang eines Studiengangs. Erster Juli, erster Oktober, das mußt du herausfinden."

Sie streifte sich den BH über, bevor sie ihn umarmte. "Abgemacht?"

"Abgemacht."

Der nächste Vormittag war wieder von den Zwängen des Sachlichen bestimmt. Zunächst mußte geklärt werden, was aus den Zimmern wurde. Eigentlich sollten sie um zwölf geräumt werden, aber der Empfangschef war damit einverstanden, daß sie Arnolds Zimmer zu zweit noch bis sechzehn Uhr benutzten, wenn sie die 316 gleich nach dem Frühstück übergäben. Meilan hatte schon gepackt. Er half ihr die wenigen Sachen in sein Zimmer zu tragen. Es war das erste Mal, daß er ihre vier Wände zu Gesicht bekam, sie glichen den seinen wie ein Ei dem anderen, nur war die Einrichtung spiegelverkehrt.

Nachdem sie das geregelt hatten, gingen sie hinunter zum Fluß und mieteten ein Boot, das von einer kräftigen alten Frau gerudert wurde. Sie trieben mit der Strömung, die ganz schwach war, auf den Rüssel des Elefantenkopfberges zu. Es brächte Glück, sagte die Alte, wenn beide den Rüssel gleichzeitig mit beiden Händen berührten. Dazu mußten sie aufstehen. Das Boot schwankte heftig, und sie hatten am meisten damit zu tun, sich gegenseitig zu stützten.

Dann gelang es der Alten, das Boot so zu stabilisieren, daß sie ihre vier Handflächen nebeneinander auf den Elefantenrüssel legen konnten, und der Stein fühlte sich vom vielen Anfassen ganz speckig an, und als sie ihn losließen, machte das Boot einen Satz, und sie fielen einander in die Arme, um nicht aus dem Boot geschleudert zu werden. Ein Schicksal, das nicht wenigen passierte, die man naß, aber vergnügt, auf einem Felsen weiter unterhalb kauern sah.

Nach dem Mittagessen schmusten sie ein wenig in Abschiedsstimmung auf seinem Zimmer. Um halb drei verkündete Meilan, daß sie baden müsse, und ließ Wasser in die Wanne laufen. Sie ging mit einem Stapel Kleidungsstücke ins Bad und schloß die Tür fest zu. Es dauerte fast eine Stunde, bis sie frischgeschminkt und vollbekleidet wieder herauskam.

An der Rezeption bestand sie darauf, daß zwei getrennte Rechnungen ausgestellt wurden, eine auf ihren Namen für ihr Zimmer und eine auf seinen Namen für sein Zimmer. Aber sie hatte nichts dagegen, daß er beide Rechnungen mit seiner Kreditkarte bezahlte.

Am Flughafen stellte sich heraus, daß es zwei getrennte Abflughallen für Inlands- und  Auslandsflüge gab. Sie konnten nur einen Augenblick auf einer Bank zwischen den beiden Hallen Platz nehmen, um sich die Hände zu drücken. Arnold erzählte ihr schnell noch, daß er auf der Dachterrasse seiner Kölner Wohnung einen großen Bambus stehen hatte, und das schien ihr Mut zu machen. Dann mußte jeder zu seiner eigenen Abfertigung. Meilans Maschine startete etwas früher. Arnold stand an der großen Glasscheibe seines Wartesaals - den braunen Vorhang hatte er zur Seite geschoben - und beobachtete, wie die Passagiere nach Tschungking zu ihrer Propellermaschine geführt wurden. Meilan konnte er nicht ausmachen. Einen Augenblick später ging sie ganz allein über das Rollfeld, sehr aufrecht. Er erkannte den langen Seidenrock, den sie im Badezimmer angelegt hatte. Er besaß jenen satten Farbton, der in der  BMW-Werbung als "brokatrot" bezeichnet wurde. Als sie am oberen Ende der Gangway angelangt war, drehte sie sich nicht zu einem letzten Winken um, sondern begrüßte die Stewardeß mit einem Scherzwort.

Gleich darauf mußte auch Arnold zu seiner Boeing 737 wandern. Sie war ganz neu, erst vor wenigen Tagen in Dienst gestellt worden, und innen roch alles noch nach Lack, Plastik und Schmieröl.

 

SECHSTES KAPITEL

 

Jedes Mal, wenn er über die Severinsbrücke nach Köln zurückkehrte, war es nicht die Silhouette des Doms, die ihm bei der Fahrt über den Rhein das stärkste Heimatgefühl schenkte, sondern das in sich ruhende Geviert von Sankt Martin.

Er war zwölf Tage weggewesen. Auf seinem Scheibtisch hatte sich nichts bewegt. Dr. Nagel hatte sich nicht entschließen können, auch nur einen einzigen der Vorgänge, die bei ihm schon seit Wochen auf Entscheidung warteten, an Arnold weiterzureichen.

Conrad war über Pfingsten in den Allgäu gefahren und hatte sich mit ihrem Mann alte Bauernhäuser angeschaut.

Die Unterlagen für Zhang Meilans Visumsantrag hätte er in sechs Stunden zusammenhaben können, wenn er sich ausgekannt hätte. Auch so ging es sehr schnell. Da es in Köln kein Goethe-Institut gab, und er sie auf keinen Fall außerhalb unterbringen wollte, etwa im Sauerland, besuchte er die Leiterin der Berlitz School, die im Zentrum von Köln Intensivkurse für Ausländer anbot. Er traf eine kompetente, verständnisvolle und hilfsbereite Dame, die seine Situation besser verstand als er selbst. Das Visa-Sonder-Kontingent für Deutsch-Lernende gab es nicht mehr, und eine achtunddreißigjährige kaufmännische Angestellte hätte auch nie eins erhalten. Keine Schwierigkeiten gab es, ein Besuchervisum auf neunzig Tage zu bekommen. Darauf hätte seine Bekannte sogar zwei Mal im Jahr einen Anspruch. Die Berlitz School veranstaltete Ganztages-Intensivkure, in denen ein Ausländer in drei Monaten hervorragend Deutsch lernen könnte. In knapp vier Wochen, Anfang Juli, ging es wieder los.

Der nächste Gang führte ihn ins Ausländeramt, wo die Besucher vor Türen mit Namens-Buchstaben warteten. Bei Z saß niemand auf der Bank, und die Sachbearbeiterin unterbrach ihr Akten-Studium, um ihn zu beraten.

Das wichtigste war eine Verpflichtungserklärung, die er vor einem Beamten der Stadtverwaltung unterschreiben und gebührenpflichtig abstempeln mußte. Darin garantierte er, alle Kosten für die An- und Abreise, den Unterhalt in Deutschland und eine eventuell erforderliche polizeiliche Abschiebung zu übernehmen. Er mußte eine Krankenversicherung für seinen Gast abschließen, ein Flugticket für den Hin-und Rückflug kaufen und der Deutschen Botschaft in Peking seine Gehaltsbescheinigung vorlegen. Auch war der Nachweis zu erbringen, daß er in Köln eine Wohnung besaß, in der er Besuch aufnehmen konnte.

 Bevor Arnold das Merkblatt mit allen diesen Vorschriften einsteckte, fragte er noch, was für eine Möglichkeit es gäbe, nach der Einreise das Visum zu verlängern. Nur durch Heirat, es genüge eine Bescheinigung des Standesamtes, daß das Aufgebot bestellt sei.

Als erstes rief er Meilan an. Sie war entsetzt, daß sie nur für neunzig Tage eingeladen werden sollte.

"Kannst du denn nichts durch Beziehungen machen?"

"Man kann eine Menge tun, aber erst mußt du da sein."

Er diktierte ihr, welche Daten er für seinen Einladungs-Antrag brauchte. Dazu gehörte ihre Paßnummer.

"Ich habe keinen Reisepaß. Der wird erst ausgestellt, wenn ich eine Einladung vorlege."

"Dann schreib die Nummer des Personalausweises hin. Soll ich dir einen Flugschein für den 1.Juli mitschicken, oder bekommst du so schnell keinen Paß?"

"Das macht sich gut, wenn der Flug schon gebucht ist."

"Ich schicke dir alles wie beim letzten Mal zu. Ich liebe dich."

"Ich dich auch."

Beim Mittagessen in der Kantine der Bank steuerte Cornelia den Tisch an, an dem er alleine saß. Sie hatte ein Mineralwasser und einen Salat Capricciosa auf ihrem Tablett.

"Haben Sie Urlaub gemacht?" fragte sie.

"Keine Zeitungen, kein Fernsehen," erklärte er, um mögliche Wissenslücken zu entschuldigen. "Ist der Vorstand mit dem Kanzler in Asien unterwegs, um Schecks zu verteilen?"

"Das können Sie ja nicht wissen. Wir bekamen ganz plötzlich eine Einladung zur Sondertagung der Weltbank in New York. Thema China." Die Weltbank tagte also tatsächlich.

"War das wichtiger als eine Reise im Kanzlerflugzeug?"

"Na ja. Es war zugesagt, daß er mit dem Kanzler mitfliegt. Aber dann hat die Flugbereitschaft das Abfluggewicht der Maschine überprüft, und das Kanzleramt hat sich entschuldigt und uns vorgeschlagen, über ein Bonner Reisebüro einen Linienflug zu buchen und vor Ort zur Kanzlermannschaft zu stoßen."

"First Class mit Singapore Airlines kann man aushalten."

"Es gibt keine First Class in den Anschlußflügen ab Singapur. Das müßten Sie wissen. Und die Business Class auf diesen Strecken ist Wochen im voraus ausgebucht. Dann in der Gluthitze der Tropen an Paßkontrolle und Zoll Schlange stehen und von erpresserischen Taxifahrern zu falschen Hotels gebracht werden, während das Kanzlerteam cool durchgewinkt wird und in die wartenden Busse steigt. Würden Sie das machen?"

"Ich würde dem Kanzler kein Geld mitgeben."

"Wohl wahr. Habe ich Ihnen eigentlich gesagt, daß es bei der Weltbanktagung um China geht? Wenn Sie da gewesen wären, hätten Sie für den Vorstand ein Exposee schreiben können."

"Ich war in China. Privat. Ich habe die Zukunft gesehen, und ich habe eine Idee für unsere Arbeit hier mitgebracht."

"Ja," sagte sie erwartungsvoll und stützte den Ellenbogen auf, die Gabel verkehrt herum zwischen die Zähne klemmend.

"Das ganze Wissen, das meine Abteilung über Asien gesammelt hat, das wir für Exposees, Länderberichte, Anfragen aus der Wirtschaft benutzen, das möchte ich alles in eine Datenbank unseres Hauses einbringen, die öffentlich zugänglich ist, über Compuserve etwa, in der Form von Hypertext."

"Ich bin dafür. Man sagt aber nicht mehr Hypertext. Das ist Schnee von gestern. Was Sie wollen, ist eine Webseite im World Wide Web. Es wird Einwände geben. Beraten Sie sich mit Hartmann, der SAP betreut. Der kennt die Widerstandsnester am besten."

Sie spießte ein großes Stück Thunfisch auf und schob sich den Rest eines widerspenstigen Salatblattes in den Mund. "Wir bleiben in Kontakt."

Auf einmal ging es im Berufsleben wieder aufwärts. Das war ein gutes Gefühl. Es würde ihm helfen, die Spannungen, die mit Meilans Besuch sicherlich auf ihn zukämen, besser auszubalancieren.

Als Conrad ihm ein Fax aus Tschungking brachte, fragte sie ihn, ob er sich ihre Pfingstphotos ansehen wolle. Sie und ihr frühpensionierter Mann hatten sich richtig Mühe gegeben, schön gelegene Bauernhäuser in Höhenlagen von achthundert bis tausend Metern aus allen Perspektiven zu fotografieren. Es waren gut erhaltene Anwesen, denen nur eins fehlte, Menschen und Tiere, die darin wohnten. Arnold bekam Lust, über Almwege zu schlendern, den Harzduft der Tannen einzuatmen und aus Trogbrunnen frisches Bergwasser zu trinken.

"Das könnte ein Hobby werden," kommentierte Arnold. Er dachte ans Photographieren.

"Ja, nicht wahr?" Conrads Augen glänzten. Arnold war sich nicht sicher, was sie sich dabei vorstellte.

Am Hansaring hatte ein "Last-Minute"-Reisebüro aufgemacht, das verbilligte Linienflüge anbot. Der Berater, der Arnold bediente, hatte jene persönlich verbindliche Art, wie man sie oft bei früheren Osho-Anhängern traf, auch wenn sein gut geschnittener Anzug darauf keine Rückschlüsse mehr zuließ. Ein Ticket Peking-Frankfurt-Peking gab es für zwölfhundert Mark. Er konnte es gleich mitnehmen, wenn er bar bezahlte. Der junge Mann wußte auch, daß der ADAC im Schalterverkauf Krankenversicherungen für Ausländer ausstellte, die Deutschland besuchen wollten. Am anderen Morgen ließ Arnold seine Garantie-Erklärung auf dem Einwohnermeldeamt abstempeln, dann sagte er der Poststelle Bescheid, daß er auf den Besuch des DHL-Boten wartete.

Der IT-Spezialist Hartmann war ein alterslos wirkender Mittvierziger mit schlanker Figur und kurzgelocktem graublondem Haar. Arnold sah ihn manchmal an der Bushaltestelle stehen, wenn er mit seinem BMW aus der Tiefgarage herausgefahren kam. Dann nahm Arnold ihn gewöhnlich bis zu einer Straßenbahn-Haltestelle mit. Hartmann war der bescheidenste und höflichste Mensch, den Arnold je kennengelernt hatte, und diese Eigenschaften brauchte man wohl auch, wenn man Abteilungsleitern, die ihre Banklehre gewissermaßen noch am Stehpult absolviert hatten, hundertmal am Tage klarmachen mußte, daß das SAP System R3 nicht nach den Regeln des gesunden Menschenverstandes funktionierte, aber trotzdem brauchbare Resultate lieferte.

 Arnold hatte keine Probleme mit SAP. Es befriedigte bei ihm jenen Spieltrieb, den andere Computernutzer auf karriereschädlichere Weise mit "Minesweeper" oder importierten Programmen auslebten. Arnold hatte sich von Hartmann sogar dazu überreden lassen, auf seiner Etage als SAP-Nothelfer zur Verfügung zu stehen, was ihm manchmal Überstunden am letzten Arbeitstag eines Monats eintrug, wenn die Monatsabschluß-Eingaben gemacht werden mußten.

Hartmann hatte Zeit für Arnold. Er begriff sofort, worum es ging, und er demonstrierte ihm, mit was für Widerständen er rechnen mußte.

"Warum in alles in der Welt," fragte Hartmann, "soll die Bank Hunderttausende, wenn nicht Millionen, in ein Projekt stecken, das ihr keine Gebühren, keine Zinsen, keinen kalkulierbaren Profit bringt?"

"Unser Geschäft ist es, Geld zu bewegen. Es bewegt sich nicht von selbst. Es braucht Informationen dazu. Im Augenblick beziehen unsere Kunden ihre Informationen von Dritten. Ich will Entscheidungshilfe liefern, unsere finanziellen Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen. Mehr Information, schnellerer Umsatz."

"Vielleicht macht das Sinn," sagte Hartmann, "vielleicht nicht. Ich habe keine Vorstellung, wie Sie das durchbringen können. Ich kann Ihnen nur eines sagen. Im Haushaltsplan sind für dieses Jahr zwei Millionen für sogenannte Pilotprojekte elektronisches Banking fest eingeplant aber noch nicht abgerufen. Ich schreibe Ihnen hier die Nummer des Haushaltstitels auf. Im Augenblick blocken die EDV-Leute alles ab, aber wenn Sie Ihr Pilotprojekt außerhalb des hauseigenen Netzwerks zum Laufen bringen, sehe ich gewisse Chancen. Die Mittel sind da." 

"Am Donnerstag," sagte Conrad, "ist Fronleichnam. Ich dachte mir, wenn ich den Mittwoch davor und den Freitag danach Urlaub nehme, könnte ich mit meinem Mann fast eine Woche im Allgäu sein."

"Das wäre der zweite Besuch in diesem Monat."

"Mein Mann platzt vor Tatendurst. Ich weiß gar nicht, womit ich ihn zuhause noch beschäftigen kann."

"Dann ist er wohl zu früh in den Ruhestand getreten."

"Er hatte keine andere Wahl. Abfindung und Frühpension oder arbeitslos. Wie hätten Sie sich entschieden?"

"Ich bin erst zweiundfünfzig"

"Er ist auch gerade Achtundfünfzig."

Als Dr. Nagel von dem offenen Etatposten erfuhr, wurde er sehr aufmerksam. Auch der Prestigegewinn für seine Abteilung wurde ihm sofort klar. Er beauftragte Arnold bis sechzehn Uhr einen Antrag auf ein solches Pilotprojekt zu formulieren. Schriftlich und auf Diskette.

Auf zwei Kopien seines Entwurfs schrieb Arnold "Vertraulich. Nur zur persönlichen Information", steckte sie in noch unbenutzte Hauspostumschläge und legte sie auf der Poststelle persönlich in die Fächer von Hartmann und Cornelia.

Am Fronleichnam wurde er früh durch einen Anruf geweckt. Er erkannte das Satellitenpfeifen aus Tschungking. Aber Meilans Stimme erkannte er nicht. Sie war vollkommen klanglos. Entmutigt.

"Ich war gestern auf der Botschaft in Peking. Sie haben mir das Visum verweigert."

"Gestern? Du hast schon einen Reisepaß? Sie können dich nicht ablehnen."

"Es ging ganz schnell mit dem Paß, und ich hatte eine Möglichkeit, nach Peking mitzufliegen. Aber sie wollen mich nicht in Deutschland haben."

"Das ist ein Mißverständnis. Ich brauche dich hier. Du bekommst dein Visum. Ich muß nur anrufen. Heute ist ein deutscher Feiertag. Morgen Abend kann ich dir alles erklären. Halte die Tränen so lange trocken. Wir sehen uns am 1.Juli. Es wird alles gut. Ich verspreche es dir. Ich liebe dich. Ich tue alles für dich."

Arnold kannte den Wirtschaftsattachee der Deutschen Botschaft, einen Graf Muskau. Er schickte ihm regelmäßig seine Ausarbeitungen über China per AA-Courier und hatte mit ihm in Peking schon auf einem Bankett mit den chinesischen Gastgebern die Gläser gekreuzt. Er hatte sogar die Privatnummer seiner Pekinger Dienstwohnung in seinem Reiseadreßbuch. Graf Muskau war ein häuslicher Mensch, er besuchte weder die Große Mauer noch die Ming-Gräber. Arnold bekam ihn sofort an den Apparat.

"Bei euch in Deutschland muß doch noch Nacht sein. Bist du wieder auf dem Sprung hierher?"

"Es ist ein völlig privater Vorgang, bei dem ich dich um Amtshilfe bitten will. Ihr habt doch eine Konsularabteilung im Hause."

"Ja, aber nicht mehr hier, sondern in einem anderen Gebäude, seit wir die DDR-Botschaft geerbt haben."

"Ich habe eine Bekannte. Chinesische Unternehmerin. Die habe ich zu einem Neunzig-Tage-Besuch eingeladen. Gerade ruft sie mich an und behauptet, die Botschaft habe ihren Visums-Antrag abgelehnt."

"Die sind dazu gar nicht berechtigt. Ich gehe gleich morgen früh hin und frage für dich nach. Buchstabier mir den Namen."

Arnold verbrachte den Fronleichnam wie in Trance. Er fuhr zwar mit der Straßenbahn zur Mühlheimer Brücke und sah sich die Schiffsprozession an. Aber die Erinnerung an die Penthaus-Kajüte auf dem Li Fluß mit den Schriftzeichen "Doppeltes Glück" trieb ihn wieder zurück. Die Lindenbäume am Ubierring rochen nach Autoabgasen. Der Spargel, den er sich in dem Feinkostladen an der Ecke gekauft hatte, schmeckte nach zu selten abgetautem Kühlschrank.

In der Nacht träumte er von fettleibigen Triaden-Gangstern, die ihre blauen Turnhosen auszogen, aber immer noch etwas darunter anhatten. Das Telefon weckte ihn, bevor er das Schlimmste sah.

"Muskau hier. Da ist tatsächlich etwas dumm gelaufen. Ich habe mit dem Beamten persönlich gesprochen. Er kann sich gut an die Bewerberin erinnern, er hat sich lange mit ihr unterhalten. Was ihn nicht überzeugt hat, ist ihre Loyalität dir gegenüber. Wir haben in letzter Zeit mehrere Fälle gehabt, daß gutmütige China-Touristen eine Reisebekanntschaft eingeladen haben und die Frau dann nach wenigen Tagen abgetaucht ist, ohne nach neunzig Tagen die Rückreise anzutreten. Wenn sie geschnappt wird, darf der glücklose Gastgeber auch noch die Kosten der Abschiebung übernehmen."

"Will mich die Botschaft entmündigen? Mir jedes Risiko abnehmen?"

"Außerdem gab es sicherheitsdienstliche Erkenntnisse. Man hat mir nicht gesagt, was für welche."

"So ein Unsinn. Das kann nur eine Verwechslung sein. Für euch sieht doch ein Chinese wie der andere aus."

"Es war ein übereifriger Beamter. Er wußte nicht, wer du bist. Ich habe es ihm gesagt. Deine Frau Zhang bekommt ihr Visum jetzt. Sie muß es nur abholen. Bildhübsche Frau übrigens, auf dem Antragsphoto. Viel zu gut für einen alten Papiertiger."

Arnold hatte das Bedürfnis, sich erst die Zähne zu putzen, bevor er in Tschungking anrief.

"Es war ein Mißverständnis. Sie haben nicht gewußt, daß die Einladung von mir ausgeht. Sie haben alles in Ordnung gebracht, Du kannst dir das Visum jetzt abholen"

"Weißt du, wie schwer es ist, von Tschungking nach Peking ein Flugticket zu bekommen? Du weißt es. Und weißt du, wie lange die Eisenbahnfahrt dauert? Über einen Tag und eine Nacht."

"Ich habe nicht geahnt, daß du sofort losfliegst, sonst hätte ich vorher in der Botschaft Bescheid gesagt. "

"Du meinst, ich habe alles falsch gemacht, weil ich schnell zu dir nach Deutschland kommen wollte?"

"Es ist nichts entschieden. Das Visum liegt für dich bereit."

"Weißt du, wie mich die Beamten behandelt haben? Wie eine Kriminelle. Das habe ich nicht erwartet."

"Ich will nicht auf dich verzichten. Ich überweise dir Geld auf die Bank of China in Tschungking."

"Ich brauche kein Geld. Das Schicksal ist gegen uns. Du kannst nichts gegen das Schicksal tun. Vielleicht sehen wir uns in einem anderen Leben wieder, vielleicht in einem anderen Land. Ich werde immer davon träumen."

Sie schluchzte und legte auf.

Er war enttäuscht und wütend zugleich. Anstatt die Sache rational anzugehen, hatte sie sich in eine ihrer Launen fallen lassen. Das würde vorübergehen. Bis zum ersten Juli war noch Zeit. Notfalls müßte er nochmal nach Tschungking fliegen, um mit ihr zusammen das Konsulat zu besuchen. Er war nicht bereit, seinen Traum vom Glück aufzugeben.

Arnold wurde eingeladen, vor dem Ausschuß EDV-Projekte über das Pilotprojekt der Volkswirtschaftlichen Abteilung zu referieren. Die Sitzung fand in einem klimatisierten Konferenzsaal statt, in dem geraucht werden durfte. Die meisten Teilnehmer waren Arnold persönlich nicht bekannt. Der Vorsitzende, ein Techniker, hatte seine eigenen Wertmaßstäbe.

"Wir wollen uns nichts vormachen," sagte er, "die Sicherheit der Geräte und der Netze ist noch so wenig erprobt, daß es verantwortungslos wäre, jetzt neue Gefahrenquellen aufzumachen."

"Wenn Sie gestatten," sagte Arnold, "es geht bei diesem Projekt nicht um Zahlungsverkehr, sondern um Informationsbrokering." Er hielt einen Stapel Broschüren hoch. "Wir veröffentlichen jedes Jahr diese Wirtschaftshandbücher über den ostasiatischen Markt. Ein Kunde, der hier nachschlägt, liest Geschichten, die vielleicht ein Jahr alt sind. Wir wollen die Dinge, die hier stehen, in tagesaktueller Form im World Wide Web präsentieren. Wir wollen, mit anderen Worten, aus der Postkutsche umsteigen auf den Telegrafen. Und wir wollen ein System, das wasserdicht abgeschottet ist gegen unsere Hausnetze, damit kein Hacker aus dem einen in das andere springen kann."

"Das wäre die Mindestvoraussetzung." Es wurde noch lange darüber diskutiert, daß Electronic Banking ein Widerspruch in sich sei und keine Zukunft habe, aber es kamen keine Frontalangriffe gegen das Pilotprojekt.

Als er vor der Heimfahrt seinen Schreibtisch aufräumte, erschien auf seinem summenden Telefondisplay eine interne Nummer, die er nicht auswendig kannte. Er nahm ab. Es war Cornelia.

"Wenn Sie Lust haben, eine Minute rauf zu kommen, kann ich Ihnen frisch erzählen, was die Weltbank beschlossen hat."

Sie war allein in ihrem Zimmer. Der Schreibtisch war leer. An der Seite stand wieder eine Flasche wertvollen Cognacs, wie er ihn nur aus Anzeigen in teuren Zeitschriften kannte.

"Trinken wir einen Schluck?" fragte sie, seinen Blick verfolgend. "Den habe ich geschenkt bekommen." Sie hatte nur einfache Gläser und stieß mit ihm an. Der Alkohol brannte in der Speiseröhre. 

Sie goß beiden noch etwas nach.

"Was die Weltbank beschlossen hat, wollte ich Ihnen erzählen." Sie setzte sich mit ihrem Modellkleid auf die Schreibtischplatte und hob ihre Schuhe auf den Stuhlsitz. "In China wird der Drei-Schluchten Staudamm am Yangtse nicht unterstützt. Zu viele Umweltprobleme. Aber am Gelben Fluß wird ein Aufforstungsprojekt am Mittellauf gefördert. Der Vorstand meint, wir sollten uns da in die Vorstudien mit reinhängen. Klingt das nicht gut?"

"Ich unterstütze Sie gerne."

"Auf gute Zusammenarbeit."

Sie stießen wieder an.

Ihre Schuhe waren aus hauchzartem Leder ohne jeden Schnörkel.

"Sie haben Schuhe, die Kunstwerke sind," sagte er, "italienisch?"

"Was denn sonst?"

"Darf ich?" fragte er. Sie hob den linken Fuß leicht an, und er nahm ihn in die Hände.

"Unglaubliches Material," sagte er und führte das Leder an seine Wange. Dann streichelte er aus einer plötzlichen Eingebung heraus ihr Fußgelenke. Sie trug keine Strumpfhosen. Der Kontakt war viel stärker als erwartet.

"Mach keinen Scheiß," protestierte sie, "ich will mit dir reden."

Sie sprang vom Schreibtisch herunter, das Cognacglas in der Hand. Sie hatte eine Sitzgruppe, die aus einem kleinen Tisch und zwei unbequemen Armstühlen bestand.

Er erkannte, daß es ihr wichtig war, sich mit ihm in einer Stimmung des Vertrauens auszusprechen, und er schämte sich seines plumpen Annäherungsversuches. Sie hätte seine Tochter sein können, 23 Jahre jünger als er, und er war immer noch auf Meilan fixiert.

"Der Vorstand macht sich Sorgen um die Zukunft unseres Hauses. Ich auch. Es hat sich eine Kampfgruppe gebildet, um einen Abgeordneten im Finanzausschuß des Bundestages, die wollen allen Geldhäusern, die eine Konkurrenzgefahr für die Großbanken bilden, das Lebenslicht abdrücken. Zerschlagung verkrusteter Strukturen nennen sie das."

Er hörte ihr aufmerksam zu.

"Die Zahl der Landeszentralbanken soll auf fünf reduziert werden. Die öffentlich-rechtlichen Institute, wie wir, die Kreditanstalt für Wiederaufbau, die Lastenausgleichsbank undsoweiter sollen erst fusioniert werden, unter Entlassung von Zehntausenden von Mitarbeitern, und dann ganz geschlossen. Das geht auch gegen die Sparkassen mit Massenentlassungen. Warum denken Menschen, Abgeordnete unseres Volkes, sich so etwas aus?"

"Die Philosophie von Mao Tsetung sagt - ich meine das ganz ernst - das Leben ist ein ständiger Kampf von Widersprüchen. Wenn ein Kampf zu Ende ist, beginnt der nächste. Wir haben den kalten Krieg gewonnen. Jetzt beginnt im Westen der Weltbürgerkrieg zwischen sozialer Marktwirtschaft und Manchesterkapitalismus. Das hohe Maß an sozialer Balance, das wir in Deutschland erlebt haben, Wohlstand für alle, ist weltweit die absolute Ausnahme. In den meisten Ländern, die ich kenne, Indonesien, Philippinen, lebt die Mehrzahl der Familien von hundert Mark im Monat, während ein paar Superreiche in Luxussiedlungen hausen, die von Scharfschützen bewacht werden. Das kann auch unsere Zukunft werden."

"Ich habe dir noch nicht alles erzählt. Die gleichen Leute, die uns fusionieren wollen, planen auch, den Vorstand durch einen Mann ihres Kalibers zu ersetzen, um dann handstreichartig die Tarifverträge zu kündigen. Keine Betriebspensionen mehr, keine Festanstellung auf Lebenszeit, nur noch Zeitverträge. Leute wie du sind davon nicht direkt betroffen. Aber man will alle Angestellten ab Fünfundfünfzig in den Vorruhestand drängen, und ihre Stellen mit jungen Leuten besetzen, die Verträge mit zwei bis drei Jahren Laufzeit bekämen."

"Das bringt doch nur Mehrkosten," widersprach Arnold. "Ich werde in zweieinhalb Jahren Fünfundfünfzig. Als Vorruheständler bekäme ich achtzig Prozent meines jetzigen Nettogehalts und mein Nachfolger fünfzig Prozent als Anfangsgehalt. Das macht nach Adam Riese dreißig Prozent Mehrkosten."

"Aber nur bis du tot bist. Vielleicht langweilst oder säufst du dich ja ganz schnell zu Tode. Ein Deutscher lebt um zu arbeiten. Nimm ihm die Arbeit. Du nimmst ihm das Leben."

"Und wer profitiert davon?"

"Niemand. Dein Nachfolger kommt zu unserer Hypothekenabteilung und sagt, ich will ein Haus bauen. Gebt mir eine Hypothek mit dreißig Jahren Laufzeit. Wir fragen: Wie lange läuft Ihr Arbeitsvertrag? Zwei Jahre. Nein danke. Das Haus wird nicht gebaut, die Bank macht kein Geschäft. Die Zukunft wird unberechenbar, niemand hat eine Perspektive. Es ist wie im Krieg. Jeden Tag kann eine Rakete deine Existenz zerstören. Du stehst vor dem Nichts."

Arnold hatte nicht erwartet, daß Cornelia ähnlich dachte wie er.

"Was kannst du dagegen tun?" fragte er.

"Ich weiß es noch nicht. Das Schlimme ist, der Vorstand ist so von sich eingenommen, daß er die Gefahr nicht erkennt. Im Grunde hat er auch nichts mehr zu befürchten."

Cornelia dagegen hatte noch sechsunddreißig Berufsjahre vor sich, sechsunddreißig Jahre, in denen sie einen Beruf ausüben konnte, sofern es eine Position für sie gab.

Was sie bei ihm suchte, waren Orientierungshilfen für ihr künftiges Leben. Er durfte sie nicht enttäuschen. Sie war eine Frau, die etwas leisten wollte und nicht im sozialen Netz schaukeln. Es war gut, sie als Verbündete zu haben.

In seinem Arbeitszimmer wartete Conrad auf eine Gelegenheit, ihn unter vier Augen zu sprechen. Wie einem Kind mußte er ihr zusagen, ihren Wunsch nicht abzulehnen. Sie wollte ihn zum Abendessen ins griechische Restaurant einladen. Nur sie beide und auf ihre Rechnung.

"Ich mag Sie sehr gern," sagte er und legte den Arm um ihre Hüfte. Sie war fast so zierlich wie Zhang Meilan, nur etwas gesetzter. "Ohne Sie kann ich mir die Arbeit hier nicht vorstellen."

Sie senkte den Kopf und stieß ein Keuchen aus, das wie Schluchzen klang. Dann riß sie sich los und knallte die Tür hinter sich zu.

Beim Griechen gab es an diesem Abend in Butter gebratenen Thunfisch mit jungen Kartoffeln aus dem Backofen und Auberginen. Dazu hatte Conrad einen Krug mit trockenem Weißwein bestellt. Sie prostete ihm zu, als wollte sie sein Bewußtsein einnebeln.

"Lassen Sie mich raten," - sie siezten sich immer noch nach allen diesen Jahren der Zusammenarbeit - "Sie wollen mir mitteilen, daß Sie sich ein Ferienhaus im Allgäu gekauft haben."

"Das ist es nicht. Ich meine, ja, wir haben etwas gefunden."

"Meinen Glückwunsch," sagte er und legte die Hand auf ihren Handrücken. Die Berührung war ihr unbehaglich.

"Sie müssen es wissen," unternahm sie einen zweiten Anlauf. "Ich habe mit meiner Ärztin gesprochen. Sie hat festgestellt, daß ich eine Sehnenscheidenentzündung in beiden Armen habe. Sie will mich krank schreiben, bis es wieder gut ist. Ich darf eigentlich nichts anfassen. Ich habe sie gebeten, mit dem Attest zu warten, bis ich mit Ihnen gesprochen habe."

"Wie kann ich Ihnen helfen?"

"Man weiß nicht, wie lang es dauert, bis ich wieder gesund bin."

"Die Bank bezahlt Ihr Gehalt nur sechs Wochen weiter. Dann ist Schluß."

"Ich habe mit dem Personalrat gesprochen. Er sagt..."

Arnold war froh, daß er den Thunfisch schon gegessen hatte. Er hätte keinen Bissen mehr herunterbekommen. Der Weißwein drehte sich in seinem Kopf.

"Die Bank als Arbeitgeber zahlt so viel zu meinem Krankentagegeld dazu, daß ich auf achtzig Prozent meines letzten Gehaltes komme. Und das Geld von der Krankenkasse ist nicht steuerpflichtig."

Jetzt legte sie ihre Hand auf seine. "Man weiß nicht, wie schnell ich wieder gesund bin. Es kann zwei Wochen dauern, es können zwei Jahre werden. Sie müssen sich eine Aushilfe suchen, die meine Arbeit macht."

"Sie werden immer nur auf zwei Wochen krank geschrieben. Wie soll ich da eine Aushilfe beantragen?"

"Sie schaffen das. Ich dachte mir, vielleicht kann Ihre chinesische Freundin diese Aushilfe übernehmen."

"Sie bekommt keine Arbeitserlaubnis." Mehr wollte er ihr von der jüngsten Entwicklung nicht anvertrauen.

"Das ist ungerecht. Ich komme morgen früh etwas später ins Büro, ja?"

Etwas später, begriff er, hieß nie mehr. Jahrelang nicht mehr. Er hatte das Verlangen, Teller und Gläser an die Wand zu werfen, wie das die Griechen bei Feierlichkeiten taten. Aber es gab nichts zu feiern. Der saure Wein brannte ein Loch in seinen Magen.

Er hatte immer geglaubt, daß Conrad gerne mit ihm zusammenarbeitete. Aber was war die Attraktivität eines Chefs im Vergleich zu einem unausgelasteten Ehemann? Herr Conrad, den seine Firma in den Vorruhestand wegrationalisiert hatte, suchte eine Aufgabe, die seinem Leben noch einmal Bedeutung gab. Vom Instandsetzen eines verfallenden Bauernhauses versprach er sich ein solches Erfolgserlebnis. Und seine Frau sollte bei ihm sein, um seine Nützlichkeit zu bestätigen, seinen Erfolg zu teilen. Hätte er bis zur gesetzlichen Altersgrenze von Fünfundsechzig in seiner Firma weiterarbeiten können, käme Conrad noch jahrelang ins Büro. Arnold fragte sich, ob er ihr Verhalten hinnehmen durfte, oder ob er etwas dagegen tun mußte und konnte.

Am nächsten Morgen kam Frau Conrad wirklich nicht mehr ins Büro. Da Arnold ihre Arbeit mit erledigte, mußte er den Flug nach Tschungking verschieben, bis er eine Vertretung gefunden hatte. Meilan war immer noch eingeschnappt, weil die Deutsche Botschaft sie so herablassend behandelt hatte. Der erste Juli kam und ging, ohne daß er sie am Flughafen abholen konnte. Der nächste Intensivkurs begann am ersten Oktober. Weihnachten in Deutschland müßte ein unvergeßliches Erlebnis für eine Chinesin sein.

Als er sich das nächste Mal mit Cornelia traf, wollte er ihr von seinem Problem mit Frau Conrad erzählen, von seiner Wut und seiner Trauer, aber sie war nicht in der Stimmung ihm zuzuhören, in ihr steckten zuviel Spannungen, zu viele Probleme, über die sich aussprechen wollte.

"Ich habe mir überlegt," sagte sie, "wie wir die Bank gegen feindliche Übernahmen und Zusammenlegungen schützen können. Wir müssen unattraktiv wie ein Seeigel werden, keine freie Liquidität zeigen. Wir könnten Marketmaker für ausländische Aktien an der Deutschen Börse werden. Dazu müßten wir erst einmal Bestände im Werte von Hunderten von Millionen hinlegen. Wir könnten ins Derivategeschäft gehen. Für drei, vier Milliarden Mark Standardaktien auf Kredit kaufen und darauf dann Optionsscheine emittieren, die an der Börse gehandelt werden. Langfristig bringt das Gewinn, kurzfristig ist der Ofen aus. Hörst du mir überhaupt zu?"

Am ersten heißen Augustabend fand er in seinem Briefkasten einen pastellfarbenen Briefumschlag mit großen, bogenförmigen Buchstaben. Der Poststempel enthielt keine chinesischen Schriftzeichen, er entzifferte den Namen Rosebank. Aus der Briefmarke sprang ihn eine Gazelle an. Schweiß floß über seine Stirn und bildete Tropfen in den Augenbrauen. Er hastete die fünf Treppen hoch und öffnete den Briefumschlag behutsam mit einem Küchenmesser.

"Lieber Arnold, ich bin schon vier Wochen in Johannesburg, finde erst heute Gelegenheit zum Schreiben."

Der Brief fiel ihm aus der Hand. Wieso hatte sie ihn nicht informiert? Sie mußte sich gleich nach dem erfolglosen Besuch auf der Deutschen Botschaft für Südafrika entschieden haben, spielte aber am Telefon die Beleidigte. Waren sie nicht ein Paar mit einem gemeinsamen Lebensziel? Hatte man sie vielleicht gegen ihren Willen auf den schwarzen Kontinent versetzt, und sie hatte sich bis zur letzten Minute dagegen gesträubt?

Er bückte sich und hob den Brief auf, um weiter zu lesen. "Wir sind hier neu ins Geschäft gekommen. Ich kann mich vor Arbeit nicht von der Stelle rühren. Besuch mich mal am Wochenende. Von Deutschland ist es nur ein Sprung."

Drei Photos, die sie hineingelegt hatte, zeigten sie vor einem klassizistischen Gebäude. "In Pretoria" hatte sie auf die Rückseite geschrieben.

Er rief unter der Telefonnummer an, die sie ihm angegeben hatte, aber niemand nahm ab. Am anderen Tag hatte er mehr Glück. Sie wurde an den Apparat gerufen, war aber nicht allein.

"Wann kannst du kommen?" fragte sie sofort.

Er hatte sich schon ein paar Wochenend-Daten herausgesucht. "Wie wäre es am 30. August?"

"Warte mal." Sie deckte die Mikrofonmuschel ab und unterhielt sich auf Chinesisch. Dann war ihr Atem wieder zu hören. "Das geht. Drei Tage. Samstag, Sonntag, Montag. Sag mir Bescheid, mit welchem Flug du ankommst."

Im "Last Minute" Reisebüro am Hansaring hatte er noch die Gutschrift aus dem nicht benutzten Peking-Ticket offenstehen. Der Berater, den Arnold schon kannte, klärte ihn darüber auf, daß Südafrikaflüge genauso preisstabil waren, wie das Diamantenmonopol von De Beers. Aber es gab einen Ausweg. Air Namibia bot im August verbilligte Business und First Class Flüge nach Windhoek an. Mit Anschlußverbindung nach Kapstadt oder Johannesburg. Arnold hatte ein nostalgisches Bild von Deutsch Südwestafrika und fand es abenteuerlich, in Windhoek umzusteigen, ganz unabhängig von der Ersparnis.

"Dieses Ticket," erklärte sein Gegenüber, "hat einen großen Vorteil. Es ist ein ganzes Jahr gültig und kann jederzeit kostenlos auf einen anderen Termin umgebucht werden."

"Das habe ich nicht im Sinn." Obwohl - auf dem Rückweg - ein Abstecher nach Lüderitz, Swakopmund, zum Caprivi-Zipfel... Das hing vom Ausgang seiner Johannesburg-Reise ab.

Weil er jetzt im Büro die Geräte mitbedienen mußte, sah er als erster das Fax aus Südafrika, das an ihn persönlich gerichtet war. "Wir müssen den Termin 30.August verschieben. Eine unerwartete Geschäftsreise. Ich melde mich, wenn ich wieder zurück bin. M."

Zum Glück hatte er keinen Urlaub beantragt. Er hatte Freizeitausgleich nehmen wollen, aber erst unmittelbar vor der Abreise. Mit Cornelia hatte er auch noch nicht darüber gesprochen gehabt. Er zerriß das Fax in viele kleine Stücke, und je winziger die Papierfetzen wurden, die übrig blieben, desto kleiner wurde seine Enttäuschung. Als er schließlich alles mit der Handkante in den angehobenen Papierkorb fegte, war er geradezu erleichtert. Er hielt es jetzt für möglich, ja geradezu für wahrscheinlich, daß Meilan ein falsches Spiel mit ihm trieb, - "Djia" nicht "Dschen" - und daß ihr Interesse an ihm nur vorgetäuscht war, eine von mehreren Optionen, die sich offen hielt. Er durfte sich nicht zum Narren halten lassen.

Das sogenannte Pilotprojekt Dr. Nagel wurde viel schneller genehmigt, als Arnold es erwartet hatte. Schon zum 1.September durften sie einen Informatiker und eine Viertelsekretärin mit Fristvertrag einstellen, um eine Webseite für den Testbetrieb aufzubauen

"Können Sie mir erklären," fragte Arnold die Chefsekretärin seines Chefs, "wie eine Viertelsekretärin aussieht? Was bekommen wir da? Die rechte Hälfte des Oberkörpers? Oder das halbe Sitzfleisch mit einem Bein?"

"Keine Anzüglichkeiten," rief Dr. Nagel aus dem Hintergrund. Durch seine offenstehende Zimmertür hatte er alles mitgehört und kam jetzt persönlich heraus. "Wir bekommen eine Kraft, die jeden Tag zwei Stunden für uns arbeitet."

"Wo soll sie sitzen? Der Tisch von Frau Conrad ist jetzt frei."

"Nein, nein," korrigierte Dr.Nagel, "an Frau Conrads Tisch sitzt ab Montag der Herr Paul, unser Informatiker. Er hat sich heute morgen bei mir vorgestellt und seinen Vertrag gleich unterschrieben. Sie müssen ihn sich mal ansehen, Feldmann, denn er arbeitet ja mit Ihnen zusammen."

Paul war nicht der Nach- sondern der Vorname eines Informatikstudenten im elften Semester, der über ein Online-Bulletinboard von der Jobmöglichkeit erfahren und sich sofort per e-mail beworben hatte. Er wollte, wie er Arnold erzählte, sich noch nicht binden, aber das Leben einmal von der institutionellen Seite kennenlernen.

Die Viertelsekretärin, die auch auf der Stelle anfangen konnte, war überhaupt keine Bürokraft, sondern eine 3ojährige Sinologiestudentin, die gerade ihre Doktorarbeit abgegeben hatte und darauf wartete, daß die Gutachter das Manuskript lasen und ihr den Termin für die Abschlußprüfung, das Rigorosum, gaben. Sie hieß Sidney und sprach Chinesisch ohne den typischen westlichen Satzrhythmus, an dem man die Europäer sofort erkennt. Sie duzte sich mit Paul, und sie begriff schnell, wie man das Archivmaterial datenbankgerecht aufarbeitete. Arnold konnte ihr die Länder Ostasiens überlassen und sich selber auf Südostasien und die aktuelle Arbeit konzentrieren.

"Aus der gemeinsamen Gutachtertätigkeit mit der Weltbank wird nichts," erfuhr er von Cornelia. "Die oberen Zehntausend gönnen dir das nicht. Sie haben Angst, daß du ein zu großes Stück vom Reiseetat verbrauchst und für ihre First-Class-Ausflüge nicht mehr genug übrig bleibt. Gut, daß es mit dem Internet klappt. Wir müssen ständig in Bewegung sein."

Frühmorgens, wenn Arnold in seinen BMW stieg, sah er schon die ersten gelben Linden- und Roßkastienenblätter auf der Straße. Er gab  vorsichtig Gas. Die KFZ-Werkstätten warben für eine kostenlose Adjustierung der Scheinwerfer.

Wochenlang hatte er nichts von Zhang Meilan gehört und sich auch nicht bei ihr gemeldet. Er wollte ihrer Ausstrahlung nicht verfallen bleiben. Aber der Klang ihrer Stimme am Telefon riß alle alten Beunruhigungen wieder auf.

"Ich bin so froh, daß ich dich erreiche," meldete sie sich. "In Südafrika beginnt jetzt der Frühling, es wird jeden Tag wärmer. Ende August war es eiskalt. Es war gut, daß du nicht kommen konntest." Er erkannte jenen suggestiven Klangreichtum in ihrer Stimme wieder, der ihm aufgefallen war, als sie im Sheraton-Hotel in Guilin mit dem Maler Ma telefoniert hatte, und er erinnerte sich, wie sie den Abend danach in seinem Zimmer verbracht hatten.

"Ich habe das Flugticket noch," sagte er, von Sehnsucht überwältigt. "Es ist nicht verfallen."

"Das ist wunderbar. Ich kann mir jetzt viel mehr Zeit für dich nehmen. Ein oder zwei Wochen, das liegt an dir."

"Wie sieht es mit den Hotels aus? Können wir uns ein Zimmer teilen?"

"Ja, natürlich. Mandela ist Präsident geworden. Alle Menschen sind frei."

"Ich spreche mit meinem Chef über den Urlaub."

"Ich habe im Augenblick kein Telefon. Ich rufe dich in zwei Tagen wieder an."

"Ich freue mich."

Die Bereitwilligkeit Dr. Nagels, ihn in Urlaub gehen zu lassen, war etwas völlig Unerwartetes. Er konnte von Anfang November bis zum ersten Advent wegbleiben.

"Was hören Sie von Frau Conrad?" fragte Dr. Nagel unvermittelt. Im Klang seiner Stimme lag Aggression.

"Nichts. Haben Sie Informationen, die ich wissen müßte?"

Auf Dr. Nagels Gesicht las Arnold das Schwanken zwischen Verschwiegenheitspflicht und Mitteilungsbedürfnis.

"Haben Sie wirklich nichts gehört?" fragte Dr. Nagel noch einmal.

"Nein."

"Der Personalabteilung liegt ein fachärztliches Gutachten vor. Der Krankheitsverlauf ist nicht absehbar."

"Das ist wenigstens etwas."

"Wie bitte?"

"Sechs Wochenenden nach Krankheitsbeginn endet die Gehaltsfortzahlung durch unser Haus, und sie bekommt Tagegeld von der Krankenkasse. Das muß in diesen Tagen sein. Das Haus spart eine Menge Geld, das uns zusteht. Wir könnten eine Aushilfe einstellen."

"Frau Conrad kann morgen schon wieder gesund sein. Eine Aushilfe wird niemals bewilligt."

"Es ist unser Geld. Wir können es auf Monatsbasis versuchen."

"Allein die Einarbeitung dauert Wochen."

"Vielleicht hat Sidney Lust, ihre Viertelstelle vorübergehend aufzustocken."

"Haben Sie das hinter meinem Rücken eingefädelt?"

"Es war Ihre Entscheidung, Paul und Sidney zu nehmen. Ich habe beide vorher nie gesehen."

"Schon möglich. Halten Sie Sidney für fähig?" Arnold hatte auf einmal den Verdacht, daß Dr. Nagel diesen Gesprächsausgang von Anfang an geplant hatte. Er schaffte es nie, seinen Chef zu durchschauen.

"Ja, ich halte sie für fähig," sagte er trocken.

 

SIEBTES KAPITEL

 

Die Reise nach Windhoek, der ehemaligen deutschen Kolonialhauptstadt, fiel weniger nostalgisch aus, als Arnold es sich vorgestellt hatte. Er hatte den ganzen Tag in der Bank gearbeitet und war mit dem Spätzug nach Frankfurt gefahren. In der Boeing der Air Namibia bekam er einen Fensterplatz. Die Maschine schaukelte aufs Rollfeld hinaus, mußte dann aber über eine Stunde auf Starterlaubnis warten. Durch das gespannte Stillsitzen im Flugzeugsessel bekam Arnold Muskelkrämpfe in der Brust, und zwar in jenem Teil des Brustkorbs, der durch die Arbeit am Schreibtisch verspannt wird. Er dehnte und streckte sich und massierte die Haut, ohne daß der Krampf wegging. Von den Flugbegleiterinnen ließ sich keine blicken. Schließlich kam er auf die Idee, ein paar Tabletten Triazolam trocken zu zerkauen und mit Spucke herunterzuschlucken, um sich Linderung zu verschaffen. Tatsächlich wirkte das Präparat sehr schnell. Als sie die Flughöhe erreichten, in der serviert werden durfte, war er schon so schlaftrunken, daß er nur ein Käsebrötchen zu sich nahm und immer wieder ein Glas Weißwein, bis die Stewardeß eine dünne braune Decke über ihn ausbreitete.

Bei der Ankunft in Windhoek war sein Ich-Bewußtsein noch wenig aufnahmefähig. Die Übergangszeit für den Flug nach Johannesburg war so kurz bemessen, daß Arnold den Transitbereich nicht verlassen durfte und von niemandem nach seinem Paß gefragt wurde. Über den Hinweisschildern, die einreisende Fluggäste zum Ausgang leiteten, fiel ihm ein handgemaltes Begrüßungs-Plakat auf: "Willkommen Teilnehmer der Namibisch-Südafrikanischen Sicherheitskonferenz." Wie ein Roboter bestieg er die Maschine nach Johannesburg, schlief sofort wieder ein und sah nichts von der Kalahari.

Beim Aussteigen in Johannesburg folgte er der Masse, bekam seine Aufenthaltserlaubnis in den Paß geklebt und passierte unkontrolliert den Zoll.

Meilan hatte ihn schneller entdeckt als er sie. Er nahm sie in die Arme. Sie war zierlicher, als er sie in Erinnerung hatte, aber die Wiedersehensfreude verlieh ihrem Körper Spannung. Sie erkannte, daß er reisemüde war, und behandelte ihn so fürsorglich wie eine Schwester oder Tochter. Er fühlte sich nicht nur zu Hause angekommen, sondern auch angenommen.

"In Johannesburg," erklärte sie, während sie gemeinsam seinen Koffer über den Vorplatz rollten, "gibt es jetzt von Schwarzen gesteuerte Minibusse, die als Sammeltaxen alle Stadtteile ansteuern. Die sind viel billiger als reguläre Taxis. In Tschungking haben wir das schon lange."

Bei der über eine Stunde dauernden Fahrt im halbvollen Bus bekam Arnold von der Stadt kaum etwas mit. Er hielt Meilans Hand und ließ ihre Nähe auf sich einwirken. Der Minibus-Fahrer war so hilfsbereit, sie direkt vor ihrem Hotel im Ortsteil Rosebank abzusetzen. Das "Protea Inn" war ein gepflegtes Drei-Sterne-Hotel für Geschäftsreisende.

Protea, lernte Arnold im Hotelprospekt, ist der Name einer Blume, die an der Spitze eines hohen Triebes einen schuppigen Kelch voll goldener Staubgefäße trägt und als südafrikanisches Nationalsymbol gilt. Eine nach dieser Blume benannte Hotelkette unterhielt gepflegte Häuser im ganzen Land. Arnolds Zimmer war groß und hell mit einem Wandschrank und einem zwei Meter breiten Bett. Der Balkon war nur ein Stehbalkon, von dem man hinausschauen konnte auf die üppigen subtropischen Pflanzen des Hotelgartens. Eine Protea sah Arnold nicht darunter.

Meilan wollte wissen, ob er Hunger hatte. Es war bereits ein Uhr mittags, und sie schlug ihm einen Lunch in einem Restaurant der Umgebung vor. Sie machten einen Spaziergang rund um den Platz, an dem das Hotel stand. Er sah einen Supermarkt, der genau das gleiche SPAR-Namensschild führte, das er aus Deutschland kannte. Offenbar ein internationaler Ableger.

Das Restaurant, in das sie ihn führte, war auf angenehme Weise altmodisch. Weiße Tischdecken, weiße Servietten, Kupferkessellampen über den Tischen. Arnold bestellte als erstes ein Kännchen Kaffee. Meilan wählte als Vorspeise Weinbergschnecken in Kräutersauße.

"Ich habe in der Pekinger Abendzeitung gelesen, Chinesen ekeln sich davor, Weinbergschnecken zu essen, obwohl sie sonst nichts fürchten," wunderte er sich.

"Das ist wahr, aber man muß sich der Welt öffnen. Ich habe das hier kennen gelernt und bin ganz verrückt darauf."

Zu Arnolds Erstaunen ließ sie auch den Geschmack der Knoblauchbutter auf sich einwirken und verzichtete darauf, alles mit einer Schicht Chili abzudecken.

Nach dem Essen zogen sie sich zur Siesta auf sein Zimmer zurück. Sie streckten sich auf dem breiten Bett aus. Ihr Kopf ruhte auf seiner Schulter, und ihre Körperhaltung kündigte an, daß sie ihm eine Menge zu erzählen hatte.

"Ich habe jetzt Zeit für dich, weil ich meine Stelle gekündigt habe und im Augenblick keine Arbeit habe. Der Chef unserer Niederlassung hier, mußt du wissen, war Taiwanese. Die Republik Südafrika hat immer nur zu Taiwan diplomatische Beziehungen unterhalten. Jetzt will Mandela China anerkennen und die Beziehungen zu Taiwan abbrechen. Alles muß neu geordnet werden. Vielleicht mache ich mich auch selbständig. Ich bräuchte nur ein kleines Darlehen für Geschäftsräume, Fax, Telefon und ein gebrauchtes Auto. Das wäre doch kein Problem für dich." 

"Gewiß nicht. Aber hast du nicht gerade gesagt," fragte er, "daß Südafrika im Augenblick noch Beziehungen zu Taiwan unterhält und nicht zu China? Wieso hast du dann eine Aufenthaltsgenehmigung? Wieso kannst du hier arbeiten und dich selbständig machen?"

"Weil ich pro forma mit einem Südafrikaner verheiratet bin."

"Verheiratet?" Er setzte sich erschrocken auf. "Seit wann?"

"Seit ich hier bin. Mein Chef hat das arrangiert. Alles nur auf dem Papier."

"Von einem Tag auf den anderen?"

"Es gibt eine Gesetzeslücke. Die früheren Homelands, in denen es eine schwarze Selbstverwaltung gab, dürfen noch Eheschließungen vornehmen, auch wenn sie als politische Einheiten nicht mehr existieren."

"Zeig mir deinen Trauschein."

Sie holte ein zusammengefaltetes Papier aus der Handtasche, das tatsächlich die Eheschließung von Frau Zhang Meilan mit einem Mann dokumentierte, dessen Name aus lauter Konsonanten bestand.

"Wie gut hast du deinen Ehemann kennengelernt?"

"Ich habe ihn nur auf dem Standesamt gesehen, und ich weiß nicht einmal ob er wirklich der Mann war, dessen Name hier steht."

"Hat es kein Hochzeitsbankett gegeben?"

"Natürlich nicht. Ich habe ihm zwei Flaschen Weinbrand geschenkt. Warum fragst du?"

"Es gibt einen taiwanesischen Spielfilm "Das Hochzeitsbankett." Dort fragt der Schein-Ehemann die Schein-Ehefrau: Was machst du da unter der Bettdecke? Sie erwidert: Wo jiefang ni - ich befreie dich."

"Ja, das habe ich auf Kassette gesehen. Ich habe mich halb totgelacht. Vor allem über den amerikanischen Liebhaber, dessen Chinesisch genauso klingt wie deins."

"Wenn du jetzt Ehefrau bist, was wird aus unserer Heirat?"

"Das ist doch nur ein Stück Papier."

"Ich bin nicht aus Papier. Ich bin ein echter Tiger. Kennst du das Sprichwort vom Ritt auf dem Tiger?"

Sie drückte ihn. "Man sagt, der Tiger schleicht sich langsam an. Ich habe mir vorgestellt, daß wir eine Reise durch Afrika machen und das Land zusammen kennen lernen. Ich habe fast nichts gesehen, weil ich soviel Arbeit hatte. Ich dachte mir, du mietest ein Auto und wir fahren in aller Ruhe von einem Ort zum anderen."

"Ich bin Linksverkehr nicht gewohnt."

"Das lernst du in einer Stunde. Alle lernen das. Der Verkehr ist hier ganz dünn. Der Hotelmanager hat Beziehungen zu einem Autoverleih. Durch ihn können wir günstig mieten."

Sie gingen hinunter zur Rezeption und ließen sich eine Mietwagenliste zeigen. Wenn er schon auf der falschen Straßenseite fahren mußte, wollte Arnold wenigstens in einem Auto sitzen, das ihm vertraut war. Also ein Golf oder ein Dreier BMW.

Ein 316er mit Klimaanlage und automatischer Schaltung war im Angebot. Der Mietpreis lag weit unter dem, was man in Deutschland für einen einfachen Golf bezahlen müßte. Arnold entschloß sich, den Wagen für zwei Wochen zu mieten. Morgen früh um zehn würde er vor der Tür stehen.

Als das geregelt war, gingen sie mit einer Südafrika-Karte, die sie auf der Rezeption gefunden hatten, auf sein Zimmer zurück, um die Reiseroute zu besprechen. Sie schwärmte von dem neu eröffneten Hotel "Palace of the Lost City" in Sun City, dem zur Zeit beliebtesten südafrikanischen Urlaubsort. Er wollte in die entgegengesetzte Richtung fahren, zum Indischen Ozean. Auf der Landkarte sah Richardson Bay unweit der Grenze zu Mozambique wie ein Ort aus, an dem man im Meer schwimmen konnte.

Um ihn von den Vorzügen von Sun City zu überzeugen, reichte Meilan ihm einen Stapel Photos, die sie bei einer Geschäftsreise aufgenommen hatte. Die Photos waren mit einer Billigkamera geschossen, die das Datum automatisch einblendet. Den Palace of the Lost City hatte er schon in einer Fernsehreportage gesehen. Es war ein teures Haus mit kitschigem Wüsten-Ambiente. Auf einem der Photos stand Meilan neben einem riesigen Container mit der Aufschrift "Evergreen". Er blickte auf das eingeblendete Datum. Es war der 29.August dieses Jahres.

"Ist das dein Kleiderwagen?" fragte er.

"Oh, wir transportieren alles," erwiderte sie, "nicht nur Mode. Jede Art von Textilien, die sich in Shopping Centern und auf Märkten verkaufen läßt."

"Der Container hier trägt den Namen einer Schiffahrtslinie aus Taiwan. Ist Sun City nicht viele hundert Kilometer vom nächsten Hafen entfernt?"

"Das ist richtig. Wir landen in Durban an, der Hafenstadt am Indischen Ozean. Dann transportieren wir die Ware im versiegelten Container nach Gaborone im Nachbarland Betschuanaland. Wenn du von Windhoek kommst, mußt du Betschuanaland überflogen haben. Dort liegt die Kalahari."

"Das habe ich bemerkt."

"In Gaborone haben wir Näherinnen, die unsere Ware überarbeiten."

"Warum macht ihr das?"

Meilan lächelte belustigt. "Sie nähen in jedes Stück ein Etikett "Made in Betschuanaland". Du kennst das Internationale Textilabkommen und die Quotenregelung?"

"Danach kann China nicht so viel exportieren, wie es produzieren möchte."

"Diese Bestimmung umgehen wir mit der Umarbeitung in Gaborone. Was wir von dort in die Republik Südafrika bringen, gilt als Produkt des Betschuanalandes. Wir müssen nicht einmal Zoll bezahlen."

"Glaubst du, daß ihr das auch machen könnt, wenn es bald gute Beziehungen zwischen Peking und Pretoria gibt?"

"Es gibt kein Problem, das sich nicht lösen läßt."

Arnold wußte, daß Länder ohne eigene Textilindustrie die ihnen im Textilabkommen zugesprochene Ausfuhrquote an exporthungrige Länder verkaufen durften, aber dann brauchten sie nicht auf diese Weise vorzugehen.

Offenbar hatte Meilan sich einer Schmugglerorganisation angeschlossen. Eine Aktivität, die sie von einer Minute zur andern ins Gefängnis bringen konnte. Die Unbefangenheit, mit der sie das alles ausplauderte, verschlug ihm dem Atem. War es möglich, in wenigen Wochen so viel zu erreichen, ohne eine persönliche Gegenleistung anzubieten? Er suchte in ihrem Gesicht nach Zeichen einer Veränderung. Hatte sie Schlimmes durchgemacht? Er fand nichts. Sie sah immer noch umwerfend aus.

Daß sich die Heirat mit dem schwarzen Ehemann so und nicht anders abgespielt hatte, glaubte er sofort. Kein Grund zu Eifersucht oder Ekel. Er war lange genug mit ihr in Guilin zusammen gewesen, um nichts zu befürchten. 

"Was hältst du davon," fragte sie, während sie die Photos einsammelte, "wenn wir als erstes nach Durban fahren? Du willst ja ans Meer. Ich kenne mich in Durban aus, weil dort die Container mit unserer Ware ankommen. Durban ist in einem Tag zu machen. Der Strand ist berühmt."

Der Rest war schnell besprochen. Diese Nacht sollte er noch allein im "Protea Inn" schlafen, weil sie zum Packen in ihre Wohnung mußte. Aber morgen würden sie in Durban gemeinsam ein Zimmer beziehen. Er war mit allem einverstanden und begleitete sie ein Stück zu Fuß in die Richtung ihrer Wohnung. Sie wollte, daß er wieder umkehrte, bevor es dunkel wurde.

 Er blieb stehen und blickte ihr nach, wie sie schnell und zielstrebig vorwärts eilte, um Vorbereitungen für ihr gemeinsames Unternehmen zu treffen. Was trieb sie dabei an? Suchte sie Hilfe oder die Gesellschaft eines vertrauten Menschen in einem fremden Land?

Sie hatte ihre Stellung verloren, sie war eine verbotene Scheinehe eingegangen und hatte illegale Geschäfte betreut. Nur gut, daß sie bei ihrer Firma gekündigt hatte. Dadurch befand sie sich jetzt nicht mehr im Visier der Zollfahndung. War sie - fragte er sich beklommen - nur deshalb unter die Pascher gegangen, weil ihr in Peking das Deutschland-Visum verweigert worden war? Oder hatte sie schon in Zhu Hai dazu gehört? Hatte sie etwa auf ihn gewartet, auf den Stufen vor dem Zollamt, in dem Wehrmeyer starb?

Unmöglich! So miserabel war seine Menschenkenntnis nicht. Meilan war bestimmt unverschuldet in den Schatten krimineller Machenschaften geraten. Gut, daß er in Johannesburg war.

Eine Gruppe von Demonstranten hatte sich vor dem Spar-Supermarkt versammelt. Es waren alles junge Schwarze, mehr Frauen als Männer. Sie hielten Transparente und rezitierten Sprechchöre, die mutlos klangen. "Kauf nicht bei Ausländern!" stand auf einem Plakat.

"Excuse me," sagte Arnold zu den Leuten, die den Eingang verstellten, "this shop is from my country." Sie ließen ihn durch. Er fand im menschenleeren aber gut bestückten Laden ein Stück Schnittkäse, eine Schachtel Cracker, eine Flasche Südafrikanischen Weißweins, und zur Probe nahm er noch einen halbe Flasche einheimischen Weinbrands der Marke "KWV" mit. Als er den Supermarkt verließ, die prägnante SPAR-Tüte in der Hand, belästigte ihn keiner der Demonstranten, obwohl er ein paar Rufe hörte, die sich auf ihn bezogen. Es war vorstellbar, daß die Spannungen, die es hier gab, sich auch in einer Geschäftsplünderung entladen könnten. Aber alles wirkte sehr diszipliniert. War das der Mandela-Bonus?

Im Hotelzimmer stellte er den Cognac in den Kleiderschrank und sah dabei den hellblauen Anorak hängen, in dem Meilan ihn am Vormittag auf dem Flughafen begrüßt hatte. Er griff die Taschen ab, ob sie nichts Wichtiges vergessen hatte, die Haustürschlüssel etwa, aber er fand nur eine angebrochene Packung Monatsbinden.

Das Gewitter, das sich schon den ganzen Nachmittag angekündigt und ab und zu ein paar dicke Regentropfen vorausgeschickt hatte, brach nach Einbruch der Dunkelheit mit lauten Donnerschlägen und Wassergüssen los. Empörte Schreie stimmgewaltiger Vögel quittierten kreischend die Lärmbelästigung.

 

ACHTES KAPITEL

 

Arnold saß noch beim Frühstück, als der BMW gebracht wurde. Es war das neueste Modell, dessen Rundungen nicht recht zur Geltung kamen, weil der Wagen knallrot lackiert war. Arnold ließ sich die Funktion der Schlüssel und die Automatik erklären. Die Klimaanlage konnte man für beide Vordersitze getrennt einstellen. Der Wahlhebel für die automatische Gangschaltung lag links vom Fahrersitz, war also mit der linken Hand zu bedienen. Gut, daß er die Gänge nicht per Hand schalten mußte. Er fuhr einmal um den Parkplatz herum und unterschrieb den Mietvertrag.

Er hatte sein Gepäck schon im Wagen verstaut und die Hotelrechnung bezahlt, als Meilan ihn abholen kam. Sie wohnte nur wenige Kilometer entfernt in einem eingezäunten Parkgrundstück mit einem alten Herrenhaus. Ein großer Schäferhund kam angerannt, als Meilan das Tor öffnete, damit er hineinfahren konnte. Sie gab dem Hund einen Klaps auf den Hals, und er trollte sich wieder. Meilan wohnte in einem kleinen Satteldachbungalow, der nur einen großen Wohnraum mit Kamin und angrenzender Küche enthielt. Ihre Bettcouch war mindestens anderthalb Meter breit. Als er ihr Gepäck zum Wagen schaffte, gab es ein unerwartetes Problem.

Jeder von ihnen besaß einen Schalenkoffer - sie grün, er schwarz - von der Größe, wie ihn Flugreisende in der Touristenklasse ohne Schwierigkeiten aufgeben können. Aber sie paßten nicht zusammen in den Kofferraum. Weder übereinander, noch nebeneinander, noch verkehrt herum. Hergottsakrament, hatte er einen Reisewagen gemietet oder einen Gartenzwerg? Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als den schwarzen Koffer auf die hinteren Sitze zu stellen. Was die Sicht nach hinten behinderte und Autoknacker auf Ideen bringen konnte. Außerdem hatte sie dort eine Tasche mit Getränken griffbereit abstellen wollen. Es wurde noch voller im Viersitzer, als sie beim Einsteigen eine große Plastiktüte in ihren Fußraum hob.

"Kann das nicht nach hinten?" fragte er.

Sie zeigte ihm, was drin war. Eine riesige Sammlung von Musikkassetten. Die erste schob sie gleich in den Rekorder des Autoradios.

"Das hören wir unterwegs." Fröhliche Operettenmusik erklang.

"Ich habe alles. Oper, Konzerte, Musical, Schlager." Begleitet von den Klängen der "Leichten Kavallerie" setzte der BMW sich in Bewegung. Sie mußten nur der Ausschilderung N3 folgen, um die Autobahn nach Durban zu finden. Johannesburg als Stadt erinnerte an das alte Ruhrgebiet. Rostende Industriehallen und riesige Abraumhalden. Es dauerte fast eine Stunde, bis sie grünes Farmland erreichten.

Die erlaubte Höchstgeschwindigkeit auf südafrikanischen Autobahnen betrug einhundert Stundenkilometer. Deshalb überraschte es Arnold, daß etwa anderthalb Stunden hinter Johannesburg ein großer Geländewagen ihnen immer näher an die Stoßstange rückte, als wollte er sie zum Spurwechsel zwingen. Arnold tippte ein paar Mal das Bremspedal an, um den Wagen hinter ihnen durch das Aufleuchten der Bremslichter zu erschrecken, aber der Geländewagen schob sich näher und näher an sein Heck heran, bis er im Rückspiegel überhaupt keinen Zwischenraum mehr erkennen konnte. Er blinkte rechts und bog auf die rechte Fahrspur ab, die in Südafrika eigentlich die Überholspur war. Da er dort nicht zu langsam fahren wollte, drückte er kräftig aufs Gas. Den Geländewagen verlor er aus den Augen. Als er den Kopf nach links drehte, um zu sehen, ob er auf die Langsamfahrspur zurück könnte, sah er den Geländewagen im spitzen Winkel von links auf sich zurasen. Mit der Ecke seines stählernen Rammschutzes hatte er fast schon die Beifahrertür erreicht, an der Meilan saß. In weniger als einer Sekunde mußte Meilans Leben in einer Explosion aus Glas, Blut und Blech enden. War er nur deshalb von Köln nach Johannesburg geflogen, um hier auf der Autobahn an Meilans Seite den Tod zu finden? Er riß das Lenkrad scharf nach rechts herum. Der Wagen machte einen Bocksprung hoch durch die Luft und landete wieder auf allen vier Rädern. Sein alter BMW hätte das nicht geschafft, er hätte sich überschlagen. Was aus dem Wagen wurde, der sie rammen wollte, konnte er nicht sehen. Alles, was er wahrnahm, war ein gewaltiges Hupkonzert. Arnolds BMW rollte wieder in die richtige Richtung. Sein Herz hämmerte Fehlzündungen.

"Die Schwarzen können nicht Auto fahren," sagte Meilan gelassen.

Ihm war nicht klar, ob die Fahrer des Geländewagens an alkoholseliger Sorglosigkeit gelitten oder einen gezielten Versuch unternommen hatten, ihn und Meilan ins Jenseits zu befördern. An der ersten Ausfahrt fuhr Arnold links raus und fand eine Raststätte im Rancherstil. Er parkte den BMW so, daß man ihn von der Straße aus nicht sehen konnte. Sie waren die einzigen Gäste im geräumigen Restaurant. Eine riesengroße Negerin mit hochtoupiertem Haar brachte ihnen eine Anderthalbliterflasche Cola und zwei Strohhalme.

"Habt ihr keine Gläser?"

"Muß ich erst waschen." Aber sie tat es, und Meilan wischte ihres sorgfältig mit einem Papiertaschentuch nach.

"Was können wir essen?"

"Ihr müßt euch im Minimarkt an der Tankstelle etwas aussuchen. Ich habe nichts." Dabei lag eine dicke, in Kunstleder gebundene Speisekarte auf dem Tisch.

Sie zeigte ihnen den Weg, und beim Anblick des spärlichen Angebots im Shop ging Arnold zurück in die Gaststätte und fragte die Bedienung, ob sie ihm Spiegeleier mit Schinken aufbraten könnte.

"Für dich mach ich alles, Baby."

Als er ihr die Einkaufstüte in die Hand drückte, flüsterte er ihr zu: "Mach drei Portionen daraus, für dich auch eine."

"Danke," erwiderte sie und quetschte seinen Arm.

Er kehrte an seinen Tisch zurück. Als der Geruch des angebratenen Schinkens in seine Nase drang, drehte sich ihm der Magen um. Er schaffte es gerade noch, die Toilettentür hinter sich zuzumachen und den Klodeckel hochzureißen. Die Todesangst hatte ihn eingeholt. Er spuckte und würgte, bis nur noch grüne Galle kam. Dann wusch er sich den Mund mit kaltem Wasser, bis er kein Gefühl mehr in den Fingern hatte.

"Ist dir nicht gut?" fragte Meilan besorgt. "Du siehst blaß aus."

"Es ist nichts. Im Gegenteil, ich bin froh, daß ich hier sitze. Hast du in China Auto fahren gelernt? Hast du deinen Führerschein gemacht?"

"Ich besitze einen chinesischen." Sie holte eine Plastikkarte aus der Handtasche. "Der ist gefälscht, aber das sieht hier niemand. Das Problem ist, ich habe keine Fahrpraxis. Ich dachte mir, wenn wir zusammen diese lange Reise unternehmen, kannst du mir unterwegs ein paar Fahrstunden geben. Dann kann ich mir ein Auto kaufen und selber fahren."

Die Serviererin, die bemerkt hatte, daß Meilan Arnolds Finger drückte, setzte die Teller mit einem Knall auf den Tisch.

Auf der Weiterfahrt kamen sie durch weit gewelltes Gelände, vorbei an Ortschaften mit anrührend altmodischen Namen wie Harrismith und Ladysmith. Dann fuhren sie in eine Nebelwand hinein.

"Der Nebel ist immer hier," kommentierte Meilan. "Jedesmal so dicht."

Es war nicht so schlimm, wie auf Arnolds Hochzeitsreise, von der er Meilan auf dem Li Fluß erzählt hatte, aber die Ungewißheit, wie langsam die Autos vor einem fuhren, und wie schnell die Wagen hinter einem aufrückten, zerrte an den Nerven. Der Nebel war im Grunde eine Wolkenbank, die der Monsun, aus der Weite des indischen Ozeans kommend, gegen die Gebirgskontur des afrikanischen Kontinents drückte, ähnlich wie er es im Anaga-Gebirge von Teneriffa tat.

Als der Nebel sie freigab, schimmerte am Horizont das blaue Band des Indischen Ozeans. Kurz vor Durban teilte sich die Autobahn, um als als N2 sowohl nach Süden als auch nach Norden an der Küste des Ozeans entlangzuführen. Arnold hatte keine Lust sich als Linksfahrer in den Feierabendverkehr einer Millionenstadt zu stürzen. Und weil auf der südlichen Hälfte der Erdkugel das Meerwasser immer wärmer wird, je weiter man nach Norden kommt, folgte er der Beschilderung, die zu den Stränden der Delphin-Küste im Norden führte. Auf den Hängen links von der Autobahn lagen erbärmlich elende Slumsiedlungen - Shantie-Towns - mit rostigen Blechdächern, Plastikfolien als Fensterersatz und in der Sonne trocknenden knallbunten Wäschestücken.

Die erste Ausfahrt hinter Durban führte zum mondänen Seebad Umhlanga Rocks, dessen Hotelhochhäuser in vielen Reiseprospekten abgebildet waren. Bevor Arnold darüber nachdenken konnte, ob er hier absteigen wollte, hatten sie die Ausfahrt schon passiert. Das Meer war jetzt ihr ständiger Begleiter. Die Sonne warf schon lange Schatten und legte ihnen das Halmmuster der Zuckerrohrfelder auf die Fahrbahn.

"Ich habe einen Riesenhunger," erklärte Meilan. Arnold fuhr an der nächsten Ausfahrt - sie hieß Toongat Beach - von der Autobahn runter und erblickte an einer zum Meer führenden schmalen Asphaltstraße das Hinweisschild Westbrook Hotel. Das Schild führte sie zu einem etwas altmodischen, aber gut gepflegten mehrteiligen Hotelkomplex direkt über dem Meer. Sie konnten ein Doppelzimmer mit Meerblick und Halbpension bekommen. Als Arnold die Koffer aus dem Auto hob, kam die Hausdienerin, um ihnen ihr Zimmer zu zeigen. Sie war eine dicke Negermammi, die sich gegen Arnolds Protest Meilans grünen Schalenkoffer auf den Kopf wuchtete und freihändig zur Zimmertür balancierte, eine Erscheinung aus einer längst vergangenen Epoche.

Ihr Zimmer hatte ein solides Doppelbett und französische Fenster, die sich auf eine Terrasse zum Meer hin öffneten. Arnold gab der Trägerin ein Trinkgeld und ließ sich auf einen Rattansessel der Terrasse fallen. Die Luft war von starker Frische. Der Meerwind wühlte in seinen Haaren und drückte Meilans Rock gegen ihre Beine. Dann bemerkte Arnold, daß er eins nicht sah. Das Meer. Der kurzgeschnittene Rasen fiel so sanft zum Strand ab, daß man die Brandung zwar hören aber nur grünes Gras erblicken konnte. Arnold suchte die Treppe zum ersten Stock und stieg hinauf. Von hier aus sah er die hohen Brandungswellen am felsigen Ufer aufschäumen.

"Wenn ich schon am Meer wohne," sagte er zu Meilan, die ihm zögernd gefolgt war, "will ich auch auf das Wasser blicken." Sie überzeugten sich davon, daß die Zimmer im ersten Stock große Balkone mit Korbstühlen hatten. An der Rezeption bekam Arnold problemlos den Schlüssel für das Zimmer über ihnen. Die Koffer trug er alleine hoch. Als er die Balkontür öffnete, spürte er den Monsun noch stärker als unten. Er war warm und weich, wie der Fallwind, der in den Alpentälern die Holzchalets ächzen läßt. Meilan bestand darauf, noch vor dem Abendessen ihren grünen Koffer auszupacken und die Kleider in den Schrank zu hängen. Ihr Nachthemd legte sie auf das linke Kopfkissen.

"Der wievielte Tag ist es heute bei dir?" fragte er.

"Der vierte. Morgen ist es wahrscheinlich vorbei.

Das Abendkleid, das sie zum Dinner tragen wollte, hatte einen langen Reißverschluß im Rücken. Meilan warf ihm einen hilfesuchenden Blick zu. Er küßte sie auf den Nacken, während er den Zipp hochzog, und sie erschauerte.

"Wie bekommst du ihn sonst zu?" fragte er.

"Ich verrenke mich."

Das Abendessen war so reichhaltig, daß es allein schon den Halbpensionspreis wert war. In fast völliger Finsternis kehrten sie auf ihr Zimmer zurück. Meilan leistete Arnold nur kurz auf dem Balkon Gesellschaft. Dann verschwand ihr Körper unter der breiten Bettdecke, in der er nur eine schmale Ausbuchtung bildete. Arnold war zu aufgeregt, um zu schlafen. Er holte sich den KWV-Weinbrand auf den Balkon. Er schmeckte ihm besser als der feinste Cognac, den er je auf Langstreckenflügen genossen hatte. Über ihm funkelten die Sternbilder des südlichen Himmelsgewölbes, fremde Konstellationen, deren Namen er sich nicht vorstellen konnte. Er versuchte vergeblich, das Kreuz des Südens zu erkennen.

Am Horizont schwankten die gelben Positionslichter der Containerschiffe mit Fracht für Durban. Der Monsun wehte stoßweise und packte ihn wie mit hundert weichen Händen. Arnold war trunken von Meerluft und Glück. Die Frau, die er liebte, schlief in seinem Bett. Es war nicht nötig geworden, ihre Leiche aus einem zerquetschten PKW herauszuschweißen. Die Zukunft war noch nicht zu Ende.


NEUNTES KAPITEL

 

Als sie in den Speisesaal zum Frühstück gingen, wies ihnen der dicke indische Kellner, der eine kunstvoll gebundene Leibbinde trug, einen Tisch in einer Nische mit Meerblick an. Bedeutungsvoll las er ihnen das Menü vor:

"Kaffee oder Tee, Obstsalat, Porridge, gebackenen Fisch, gebratene Eier mit Speck, Wurst und Tomaten, Toast mit Butter und Orangenmarmelade, Kuchen."

"Was davon nehmen wir?" fragte Arnold.

"Sie haben die Wahl zwischen Kaffee und Tee. Alles andere servieren wir komplett."

Arnold sah Meilan ungläubig an.

"Ich habe Appetit," erklärte sie mit einem zufriedenen Lächeln.

Arnold hatte noch nie ein so reichhaltiges Frühstück am Tisch serviert bekommen. Er handelte mit Meilan aus, daß sie ihm ihren Teller Porridge überließ, das Lieblingsgericht seiner Kindheit. Dafür verzichtete er auf den gebackenen Fisch, für den es ihm zu früh war.

Mit Begleiterstolz und Beschützerwärme sah er ihr zu, wie sie sich über das Frühstück hermachte. Als sie auch noch seine gebratenen Eier mit Wurst und Schinkenspeck wegputzte, fragte er sich, wie ihre Figur wohl am Tag ihrer Silberhochzeit aussehen würde.

"Was ist los?" fragte sie besorgt.

"Ich mag dich."

"Später." Ihre Stimme wies ihn zurück, als seien Gefühle für sie nicht mit Öffentlichkeit vereinbar.

Am Nachbartisch saß ein älteres Ehepaar, das wohlwollende Blicke über sie streifen ließ. Der Mann mochte an die Achtzig sein. Er hatte ein beeindruckendes, von Lebenserfahrung und Weisheit gezeichnetes Gesicht, das Arnold an das Porträt des Frankfurter Kunsthändlers Dr. Sakon erinnerte, das Max Beckmann in den Zwanziger Jahren gestochen und als "Bildnis Dr. S." veröffentlicht hatte.

"Entschuldigen Sie," sagte Arnold zu ihm, als sie vom Tisch aufstanden, "ich habe Sie vorhin so angeschaut, weil Sie mich an jemanden erinnern."

"Sie können Deutsch mit mir sprechen," sagte der Alte, "ich freue mich meine Muttersprache zu hören." Er hieß Simon, nicht Sakon, besaß ein Geschäft auf dem Highveldt und machte jedes Jahr mit seiner Frau in diesem Hotel ein paar Tage Urlaub.

"Sie müssen an den Strand gehen," riet Simon ihnen, "jeden Vormittag um zehn kommt ein Schwarm von Delphinen am Hotel vorbeigeschwommen. Das ist die große Sehenswürdigkeit hier. Deswegen heißt diese Gegend Delphin-Küste."

Strahlender Sonnenschein lag über dem Indischen Ozean. Die Brandung war so hoch, daß sie auf einen Felsen klettern mußten, um die Meeresoberfläche besser zu überblicken. Kurz nach zehn sahen sie die verspielten Tiere, die aus dem Wasser schnellten, als wollten sie einen Blick auf die Menschen werfen.

Sie versuchten am Ufer den Delphinen zu folgen. Aber der Sandstrand war mit bizarren Felspartien durchsetzt, die mühsam zu überklettern waren, und nach einer Weile hatten sie und die Delphine einander aus den Augen verloren.

"Hier kann ein Mensch nicht schwimmen," bemerkte Arnold, "die Brandung ist viel zu stark."

"Der Monsunwind ist schuld. Ich habe den Ozean schon ganz ruhig gesehen."

Das Mittagessen mußten sie im Hotel einnehmen, weil es in der näheren Umgebung kein Restaurant und keinen Schnellimbiß gab. Als Vorspeise wünschte Meilan sich Weinbergschnecken in Knoblauch. Zu trinken gab es frischen Guaven-Saft in großen Gläsern.

Nach dem Mittagsschlaf wollte Meilan das Schwimmbad des Hotels ausprobieren. Sie trug einen einteiligen schwarzen Badeanzug, der ihren Busen etwas verkleinerte, aber ihre schlanken Beine noch länger wirken ließ. Arnold war es gewohnt, in der Wärme tropischer Meere zu schwimmen, zwischen Südchina und Singapur, und das Wasser des Swimmingpools war für sein Körpergefühl viel zu kalt. Er drehte ein paar Anstandsrunden und zog sich in seinen Bademantel zurück. Aber Meilan legte unermüdlich ihrer Bahnen zurück, Viertelstunde um Viertelstunde, langsam, gewissenhaft, zielstrebig. Arnold hatte Angst, daß sie sich im kühlen Wasser erkälten könnte, aber sie ließ sich nicht beeinflussen. Erst als ihre Lippen schon blau waren, stieg sie aufs Trockne. Danach saßen sie auf einem Felsen über der Brandung. Die Luft war viel wärmer als das Wasser des Pools.

Arnold kannte die Gewohnheit der Chinesen, unmittelbar vor dem Schlafengehen zu duschen. Er wollte es auf dieser Reise auch so halten, ließ Meilan aber den Vortritt. Als er frisch rasiert und nach Armani duftend ins Schlafzimmer trat, hatte Meilan das Licht schon gelöscht. Die schweren Vorhänge bauschten sich im Monsunwind. Er blieb an ihrer Bettseite stehen und suchte mit den Augen nach der Lage ihres schwarzen Haars auf dem Kopfkissen.

"Ich möchte dir einen Gutenacht-Kuß geben," sagte er. Sein Herz pochte bis in die Lippen und ins Zahnfleisch hinein. "Ich kann dich riechen," erwiderte sie. "Ich mag das."

Er legte sich neben sie. Ihr Gesicht suchte sich einen Platz an seinem Hals. "Ach Arnold," flüsterte sie, "ich weiß nicht, was los ist."

"Ni shi zhen hao," sagte er, "du bist richtig gut." Er hatte diesen Satz oft in Liebesfilmen gehört. Ihr Atem ging unregelmäßig. Er fuhr mit der rechten Hand über ihren Rücken, preßte den Stoff ihres Nachthemdes gegen ihre Haut, tastete nach den Muskeln rechts und links von der Wirbelsäule.

"Erinnerst du dich," fragte sie, "wie du mir gestern Abend das Kleid zugemacht und mich dabei geküßt hast? Glaubst du, du findest die Stelle wieder?" Sie setzte sich auf und zog sich das Nachthemd über den Kopf. Dann streckte sie sich wieder aus, ihm den Rücken zuwendend.

"War es hier?" fragte er, "oder hier?"

Ihre Haut bewegte sich unter seinen Lippen, als führe ein Schauer von Gänsehaut darüber. Sie nahm seine Liebkosung an.

"Etwas tiefer." Das war bestimmt nicht dieselbe Stelle. Er versuchte es trotzdem. Aber je weiter er kam, desto schwächer wurde ihr Empfinden, und als er sich etwas mehr Mühe gab, war sie wie erstarrt. Die sanfte Zuneigung, die er für sie empfand, sprang nicht auf sie über.

Es war, als hätte sich ihr Bewußtsein mit ihrem ganzen Empfindungsvermögen in einer Meditationsübung von ihrem Körper getrennt und blickte von hoch oben im Himmel unbeteiligt auf sie herab, unerreichbar für ihn. Er wußte nicht, was er falsch gemacht hatte, aber er begriff, daß er mit diesem Spiel aufhören mußte. Er streckte sich der Länge nach neben sie aus und sagte: "Heute wird nichts daraus. Danke dir."

Mitten in der Nacht wachte er davon auf, daß sie sich in seine Arme schmiegte. Er hatte im Schlaf geschwitzt und spürte einen schlechten Geschmack im Munde. Er fand sich in diesem Zustand als Partner nicht annehmbar. "Eine Sekunde," sagte er und ging ins Badezimmer, um sich frisch zu machen. Als er zurückkam, war sie fest eingeschlafen und wurde auch nicht wach, als er sie streichelte.

 

ZEHNTES KAPITEL

 

Beim Frühstück trafen sie die Simons wieder.

"Ich bin Anfang der Zwanziger Jahre mit meinen Eltern nach Südwestafrika gekommen," erzählte Simon. "Das war damals südafrikanisches Mandatsgebiet. Aber die Chancen dort waren nicht so groß, wie in der RSA. So kam ich hierher."

"Für Sie muß es ein Glück gewesen sein," sagte Arnold, "daß Sie im November 1938 nicht mehr in Deutschland lebten."

Simon nickte schweigend. Meilan führte mit seiner Frau ein Gespräch über Mode.

"Ich hatte in Frankfurt einen väterlichen Freund," fuhr Arnold fort, "er hieß Walter Maria Guggenheimer. Der hat im Zweiten Weltkrieg in einer Einheit De Gaulles gegen Hitler gekämpft. Das habe ich sehr bewundert."

"Ich habe mich bei Kriegsausbruch auch zur südafrikanischen Armee gemeldet. Aber sie haben mich nicht genommen, weil ich Deutscher gewesen bin. Den Millionär Harry Oppenheimer, dessen Familie aus Deutschland stammt, haben sie gleich zum Offizier gemacht, und Rommel hätte ihn um Haaresbreite geschnappt." 

Nach dem Frühstück hielten Arnold und Meilan nach den Delphinen Ausschau. Eine besonders lange Welle schwappte über ihre Füße, obwohl sie erschrocken in die Höhe sprangen. Sie stellten ihre Schuhe zum Trocknen in die Sonne und warteten unter einem Schirm aus Schilf auf den Eintritt der Wirkung.

"Wußtest du," fragte Arnold, "daß es bei euch im Yangtse auch Delphine gibt?"

"Man sagt, nur glückliche Menschen bekommen sie zu Gesicht."

"Ich bin glücklich. Ich habe sie gesehen."

"Wie soll das möglich sein? Der Yangtse ist so verschmutzt."

"Es ist über zwanzig Jahre her. Damals lebten Mao Tsetung und Zhou Enlai noch."

"Zu der Zeit," behauptete Meilan, "gab es keine glücklichen Menschen."

Als die Schuhe trocken waren, fuhren sie mit dem BMW ins Hinterland und besichtigten die Kleinstadt Toongat, deren Bewohner fast ausschließlich Inder waren. An einem Hindutempel studierten sie die knallbunt lackierten Reliefs heiliger Kühe und vollbusiger Frauen, ohne die Symbolik zu erfassen. Meilan hatte keinen Appetit auf die indische Küche. Sie zog es vor, im Westbrook Weinbergschnecken, Austernsuppe und Scampi zu genießen. An anderen Tischen wurden riesige Hummer serviert.

"Wieso steht der Lobster nicht auf der Speisekarte?" erkundigte sich Arnold.

"Das ist Crayfish," erklärte der Kellner, "viele Gäste kommen nur zum Crayfish-Essen zu uns."

"Morgen gehören wir dazu," versprach Arnold. Crayfish stand auf der Karte, aber der Name hatte keinem von ihnen etwas gesagt.

Zum Mittagsschlaf kam Meilan mit einem um die Hüften gewickelten Badehandtuch aufs Bett. Als seine Finger entdeckten, daß das ihr einziges Kleidungsstück war, drückte sie seine Hand weg und sagte: "Nicht mit den Fingern. Willst du oder willst du nicht?"

Er wußte nicht, was er erwidern sollte. Ohne Zärtlichkeit lief für ihn nichts, und während er noch nach Worten suchte, ihr das zu erklären, merkte er an ihren tiefen Atemzügen, daß sie eingeschlafen war. Er bewunderte die Fähigkeit der Chinesen, unter allen Umständen an ihrem Mittagsschlaf festzuhalten. Er hatte in China Großraumbüros in der Mittagsstunde besucht, deren ganze Belegschaft mit auf der Schreibtischplatte ruhendem Oberkörper in Schlaf versunken war. Nach einer Weile wurde Meilans Atmen durch das Prasseln eines heftigen Regengusses übertönt, der auf die Dachziegel über ihrem Balkon trommelte. Der schwere Regen hielt den ganzen Nachmittag an und machte jeden Ausgang unmöglich. Das drückte auf die Stimmung. Sie entdeckten einen unterirdischen Gang, der zum Wirtschaftsgebäude führte. In der Bar trafen sie mit den Simons zusammen und tranken mit ihnen Kaffee.

"Wissen Sie, wer Caprivi war?" fragte Simon.

"Deutscher Außenminister unter Kaiser Wilhelm," mutmaßte Arnold, "hat er nicht Sansibar gegen Helgoland weggetauscht?"

"Nicht Außenminister. Reichskanzler als Nachfolger Bismarcks. Im sogenannten Caprivi Abkommen von 1890 hat das Deutsche Reich nicht nur Helgoland gewonnen, sondern auch einen vierhundertfünfzig Kilometer langen Landkorridor zwischen Angola und Betschuanaland im Nordosten von Deutsch Südwest. Durch ihn erhielt die Kolonie Zugang zum Sambesi, dem drittgrößten Strom Afrikas. Diesen Landstreifen nennt man heute noch den Caprivizipfel."

"Der Sambesi mündet doch in den Indischen Ozean, nördlich von hier. Deutsch Südwest liegt am Atlantik."

"Richtig. Die Akquisition hat nie Sinn gemacht. Der Caprivizipfel ist so gut wie unbesiedelt. Der größte Ort, Katima Mulilo am Knie des Sambesi, hat vierzigtausend Einwohner. Politisch ist das Gebiet ein Teil von Namibia. Aber die Leute wollen weg von Windhoek. Dafür kämpft seit neuestem eine Unabhängigkeitsbewegung, die sich "Befreiungsfront Katima Mulilo" nennt."

"Für vierzigtausend Einwohnern," wiederholte Arnold, "das muß man sich vorstellen. Dabei ist ganz Namibia ein Vielvölkerstaat mit weniger als anderthalb Millionen Angehörigen."

"Nicht Völker, sondern Stämme sind die Grundeinheit des Kontinents, und die Stammesgrenzen sind immer fließend gewesen."

"Man sagt, die Kolonialmächte hätten ihre Länder zu früh in die Unabhängigkeit entlassen."

"Was ist richtig? Was ist falsch? In der Zeitung steht heute, daß die namibische Armee ein Camp der Befreiungsfront Katima Mulilo mit Kampfflugzeugen angegriffen und dabei zwei Migs verloren hat. Eine ist über dem Caprivizipfel abgestürzt, die andere bei der Landung zu Bruch gegangen."

"Sagt der Bericht, daß die Maschinen abgeschossen wurden?"

"Darüber habe ich nichts gelesen. Ich nehme an, es waren Pilotenfehler. Wie sollen die Buschmänner zu Flugabwehr-Kanonen gelangen?"

"Ich habe gehört," erinnerte sich Arnold, "daß ein südafrikanischer Minenkonzern den Rebellen in Angola heimlich Diamanten im Wert von Hunderten von Millionen Dollar abkauft. Ein amerikanischer Waffenhändler soll in dieses Geschäft verwickelt sein. Für eine Handvoll Diamanten müßte man schon eine Stinger-Rakete erhalten."

"Das wäre schrecklich. Soll unser Kontinent nie zur Ruhe finden?"

Vor dem Einschlafen saß Arnold noch lange auf dem Balkon und horchte auf das Rauschen des Indischen Ozeans, dessen Brandung nach dem Regen noch lauter klang als zuvor. In seiner Brust wechselten starke Stimmungen. Ein Flugzeug bewegte sich langsam über den Nachthimmel, immer wieder von Wolkenfetzen verschlungen. Jedes Verschwinden seiner Positionslichter erfüllte Arnold mit Sorge. Es gab amerikanische Stinger, russische Sams und chinesische Seidenraupen-Raketen.

In diesem Augenblick sah Arnold wieder, wie Wehrmeyers brennende Notiz im Aschenbecher Wellen schlug. War es möglich, daß er mit Capri nicht die italienische Mittelmeerinsel gemeint hatte, sondern den Caprivizipfel? Dann waren seine Seidenraupen keine Insekten, sondern Boden-Luft-Raketen. Aber wie waren sie nach Katima Mulilo gelangt?

In dieser Nacht träumte Arnold mehrere Male, daß Meilan hinter ihm lag, sich an ihn schmiegte und ihn mit ihren Armen umfaßte. Jedes Mal, wenn er erwartungsvoll wach wurde, ließ der Druck ihrer Arme nach, und er entdeckte, daß sie ein Stück von ihm entfernt lag.

"Wann willst du weiterfahren?" fragte Meilan, als sie nach dem Frühstück zum Strand hinuntergingen. Er hörte aus ihrer Stimme die gleiche Ungeduld heraus, die sie schon in Guilin gezeigt hatte.

"Für heute Mittag haben wir Crayfish bestellt."

"Ich weiß."

"Wir sind an einem der schönsten Plätze der Welt. Wenn wir hier als Mann und Frau richtig glücklich werden, haben wir eine wunderbare Erinnerung für unser ganzes Leben."

"Du kannst ja nicht," sagte Meilan, "ich war immer bereit."

"Das habe ich nicht gespürt."

"Benötigst du etwa eine handschriftliche Einladung?"

"Ich brauche das Gefühl, willkommen zu sein."

"Das bist du. Laß uns raufgehen, ich beweise es dir."

Bei Richard Wilhelm heißt das dritte Hexagramm im Buch der Wandlungen: "Dschun, die Anfangsschwierigkeit". Es besteht aus den Trigrammen Dschen, Bewegung, und Kän, Gefahr. Der Kommentar sagt: "Es handelt sich um Bewegung inmitten der Gefahr. Die Bewegungen des Donners und Regens erfüllen die Atmosphäre. Es ist Aussicht auf großen Erfolg vorhanden, wenn man Beharrlichkeit hat."

Es war das Ende der Schüchternheit. Erwartungen wurden wahr. Wie improvisierende Jazzmusiker arbeiteten sie an der Feinabstimmung ihres Zusammenspiels, ohne immer den richtigen Takt zu treffen.

Diese Unstimmigkeit im Zusammengehen erzeugte ein ganz eigenes Glücksgefühl. Es war wie ein fortwährendes gegen die Strömung Anschwimmen. Schließlich wurde aus Meilans Verlangen, schneller voranzukommen, ein atemraubendes, sich ständig steigerndes Creszendo.

"Shufu bu shufu?" fragte er in ihrer Muttersprache.

"Tai shufu," erwiderte sie, "äußerst angenehm." Sie wiederholte dieses Bekenntnis ein paar Mal. Dann sah er ihr Gesicht. Ganz gelöst, ohne jede Härte, wunderschön und glücklich.

Es war gut gegangen. Von nun an mußte es jeden Tag besser werden. Ein chinesisches Sprichwort sagt: "Einen Tag Mann und Frau - hundert Jahre Gunst."

Während sie im Restaurant auf das Mittagessen warteten, das trotz des bestellten Hummers wieder mit Weinbergschnecken in Kräuterbutter beginnen sollte, durchblätterten sie gemeinsam die lokale Tageszeitung. Als Bankmensch sah Arnold sofort die Schlagzeile "Asiatischer Geschäftsmann in Johannesburg vor Geldautomat erschossen aufgefunden". Er machte Meilan darauf aufmerksam. Sie zog das grobgerasterte Bild des Toten näher an ihre Augen, ließ die Zeitung fallen und sagte: "Ich muß mal telefonieren."

Den Kellner, der die Vorspeise brachte, bat Arnold, die Weinbergschnecken noch etwas warm zu stellen. Er studierte den Zeitungsbericht mehrmals, aber das einzige, das Meilan beunruhigt haben könnte, war die Information, daß es sich bei dem Toten um einen Geschäftsmann aus Taiwan handelte. Als Meilan an den Tisch zurückkam, bestellte sie als Aperitif zwei Gläser Weinbrand. Er hatte sie außer bei Maler Ma nie etwas Scharfes trinken sehen, und das Glas, das sie auf einen Zug leerte, verschlug ihr auch den Atem. Trotzdem trank sie gleich hinterher noch die Hälfte von Arnolds Glas.

"Es ist wahr, was ich gedacht habe" erklärte sie, "der Tote ist mein früherer Chef, bei dem ich letzten Monat aufgehört habe. Er war so ein lebenslustiger Mensch. Es paßt gar nicht zu ihm, daß er tot ist. Warum mußte er auf diese sinnlose Weise sterben?"

Später, beim traditionellen Nachmittagsschlaf preßte sie sich mit einer Intensität an ihn, die mehr als nur Ausdruck frischer Verliebtheit war.

Er hielt sie so fest in den Armen, als könnte er sie vor allem Unheil dieser Welt beschützen. Nach wenigen Minuten war sie tief eingeschlafen, und er spürte den regelmäßigen Luftzug ihres Ausatmens auf seinem Hals. Sie war bei ihm geborgen, und er wachte über ihren Schlaf.

Ihm ließ der Gedanke an ihren toten Chef keine Ruhe. Es war statistisch möglich, daß verzweifelte Kleinkriminelle einen Mann erschossen, der sich aus einem Geldautomaten Geld besorgte. Aber wenn dieser Mann der Boß eine Schmugglerfirma war, sah das schon weniger nach Zufall aus. Aber wer sollte einen Textilschmuggler töten? Konkurrenten? In diesem Niedrig-Preis-Geschäft unwahrscheinlich. Die Polizei? Die brauchte ihn lebend, um seine Organisation auszuhebeln. Also doch bloß Zufall?

Ein Wort sprang ihn an. "Blutdiamanten." In jedem zweiten Südafrika-Krimi spielten der weiße Kohlenstoff-Kristall die Rolle des gefragtesten Schmuggelgutes. Aber waren chinesische Konsumgüter es wert, mit Diamanten aufgewogen zu werden? Wohl kaum. Er hatte auch nicht bemerkt, daß Meilan sich für Edelsteine interessierte. Schon am Tag der Ankunft war ihm aufgefallen, daß sie ihn so schnell auf diese Rundreise hinausgedrängt hatte. Aber die Landschaft hier war es wert.

Beim Abendspaziergang auf der Uferstraße, der North Coast Road, nahmen sie Abschied von diesem Fleck Erde. Hohe Bougainvillea-Büsche, deren Blütenkaskaden wie Vorhänge in Lila, Rot, Rosa und Orange auf die Straße fielen, dienten als Tarnung für die Drahtzäune, die das Immobilieneigentum rechts und links von der Straße schützten. Etwas weiter nördlich überragten Apartmenthäuser die Steilküste. Jede Wohnung hatte eine große Terrasse mit Meerblick. An einigen Fensterwänden klebten Verkaufshinweise von Maklern. Eine Terrassenwohnung mit hundert Quadratmetern war schon ab umgerechnet fünfzigtausend Mark zu bekommen. Dafür gab es in Köln nicht einmal mehr ein Apartment mit Kochnische. Ganz abgesehen davon, daß die Luft in der Kölner Bucht nicht so frisch war, wie an der Küste des Indischen Ozeans, wo die Brandung Salz und Sauerstoff mischte.

In Johanneburg hatte sie ihm vorgeschlagen ein Büro mit Auto für sie zu mieten. In den letzten Tagen war nicht mehr die Rede davon gewesen.

"Hast du immer noch vor, dich selbständig zu machen?"

"Warum fragst du?"

"Ich überlege mir, wo ich in Zukunft leben soll. In zweieinhalb Jahren kann ich bei meiner Bank aufhören zu arbeiten. Wenn du dann eine Firma in Durban hast, könnten wir eine von diesen Wohnungen kaufen. Du würdest tagsüber in dein Büro fahren und nach der Arbeit hierher zurückkommen. Ich könnte mir über einen Satelliten die aktuellsten Wertpapierkurse aus aller Welt holen, Aktiencharts plotten und etwas Geld an der Börse einsetzen."

"Ich glaube nicht mehr, daß ich mich selbständig machen will. Das war nur so eine Idee. Wenn jetzt die diplomatischen Beziehungen zwischen Peking und Pretoria aufgenommen werden, habe ich gute Chancen, Leiterin der Südafrika-Niederlassung meiner alten Firma zu werden."

Also brauchte sie seine Hilfe nicht mehr. Sollte er das bedauern oder froh sein, daß sie von ihm nicht erwartete, ihre Art von Geschäftstätigkeit zu finanzieren? Sein Angebot, hier gemeinsam zu wohnen, schien sie völlig überhört zu haben.

Wie beiläufig fragte er: "Hast du hier in Südafrika schon mal echte Diamanten gesehen?"

"Ich weiß nicht, was da Besonderes dran sein soll. Mir gefällt Gold." Ihre Finger streichelten die Glieder der Goldkette, die er ihr geschenkt hatte.

Nach dem Abendessen nahmen sie Abschied von den Simons, die ihnen gute Freunde geworden waren. Meilan ließ sich von ihnen ihre Telefonnummer aufschreiben.

In der Nacht schliefen sie bei offenem Fenster. Der Monsun bauschte die Vorhänge.

 

 ELFTES KAPITEL

 

Am anderen Morgen brachen sie gleich nach dem Frühstück auf. Sie hatten sich vorgenommen, an der Küste des Indischen Ozeans bis zum Kap der Guten Hoffnung hinunterzufahren. Für die Strecke von nahezu zweitausend Kilometern würden sie einige Tage brauchen. Das erste Stück dieser Route führte sie auf der Autobahn N 2 nach Süden, vorbei am Hafen von Durban mit seinen Öltanks, Kranbäumen und Containerportalen. Hinter Durban fuhren sie wieder am Meer entlang. Ein kleiner Badeort lag neben dem anderen. Die Sonne schien durch die Windschutzscheibe auf seine Oberschenkel. Die Klimaanlage des Wagens kühlte seinen Kopf. Die Erinnerung an den gestrigen Vormittag teilte sich seinem ganzen Körper mit.

Meilan drückte ein Band mit Opernmusik in den Kassettenspieler, und die Stimme Pavarottis ließ den Palmenstrand wie ein Bühnenbild aussehen. Die Strandabschnitte südlich von Durban hatten poetische Namen. Erst fuhren sie die Strelizien-Küste entlang, dann kam die Hibiskus-Küste und weiter im Süden erwartete sie die Wilde Küste. Das Automatik-Getriebe brauchte wenig Aufmerksamkeit.

Nach etwa zwei Stunden Fahrt knickte die Autobahn nach rechts ab, um ins Gebirge mit seinen Wolkenbänken hinaufzusteigen. Der BMW folgte der Uferstraße. Als sie die Wilde Küste erreichten, zerfranste sich die Asphaltstraße in ungeteerte Zufahrten zu einzelnen Bananenplantagen. Arnold erkundigte sich an der Tankstelle nach dem richtigen Weg.

"Wo wollen Sie hin?"

"Nach Kapstadt."

"Sie müssen fünfzig Kilometer zurück zur N 2."

"Mir ist die Uferstraße lieber."

"Es gibt keine. Sie können auf das Fährschiff warten, wenn sie über Wasser weiter wollen."

Auf der Regionalkarte, die an der Wand der Tankstelle hing, war eine Abkürzungsroute zur N 2 eingezeichnet, die R 61.

"Das bringt Ihnen keine Zeitersparnis," sagte der Tankwart. Er überprüfte Luftdruck und Ölstand und tankte voll.

Die R 61 war eigentlich eine ganz normale Landstraße, bis sie nach wenigen Kilometern die Grenze zum ehemaligen Homeland Transkei erreichte. Homelands, das hatte ihnen Simon erklärt, waren ursprünglich Reservate für Schwarze. Auf insgesamt dreizehn Prozent der Bodenfläche Südafrikas sollten 76 Prozent der Bevölkerung ein isoliertes Leben führen, ohne Zugang zu industriellen Arbeitsplätzen und den Fortschritten der Zivilisation.

Beim Übergang in die Transkei verwandelte sich die R 61 in eine Schlaglochpiste aus festgefahrener Erde und Kies. Es hatte nicht geregnet, und der Himmel war blau. Arnold nahm den Fuß vom Gas, packte das Lenkrad mit beiden Händen und schaukelte den BMW durch die nächsten Krater.

Meilan fragte: "Willst du das wirklich riskieren?"

"Soll ich umkehren? Wäre dir das lieber?"

"Ich weiß nicht. Es kann ein Abenteuer werden. Vielleicht treffen wir wilde Tiere."

Arnold schaffte es, im zwanzig-Kilometer-Tempo zu fahren. Nach der Küstenebene mit ihren Bananenplantagen, Tabak- und Zuckerrohrfeldern, die tief unter ihnen lag, wirkte das Gebiet der Transkei unwirtlich und unfruchtbar. Ab und zu stand etwas Mais am Wegrand. Dann gab es nur noch eine dünne Graskrume auf ansteigendem Weideland. Das Außenthermometer des BMW zeigte acht Grad über Null an. Die Region der ewigen Wolken begann. Pastellfarbene Häuser, die wie Schuhkartons aussahen, lösten sich aus dem Nebel, hellgrün, rosa und hellblau gestrichen. Dazwischen weiße Rundhäuser mit Strohdächern. Junge Männer standen fröstelnd zwischen den Hütten herum, die Hände in den Taschen der Anoraks vergraben, dicke Strickmützen auf dem Kopf. Den BMW ließen sie teilnahmslos vorbeiziehen.

"Ich möchte wissen, wovon die Leute hier leben," fragte Arnold.

"Den Menschen hier geht es nicht richtig schlecht," widerprach Meilan. "Hast du nicht gesehen, was für schöne Wollmützen sie aufhaben?"

"Weil es hier niemals Sommer wird."

"Du müßtest Armut in China sehen. Es gibt Bergdörfer, dreihundert Kilometer von Tschungking. Aber dort darf ich dich nicht hinbringen. Wir kämen beide auf die Polizeiwache. Hier können wir machen, was wir wollen."

Sie fanden die N 2, die sehr gut ausgebaut und fast völlig autofrei war. Immer wieder liefen Ziegen und Rinder über die Fahrbahn. Sie zwangen Arnold, auf der Autobahn Schritt zu fahren.

Die Straße führte durch uneingezäuntes Weideland. Einzelne Häuser oder Dörfer blieben am Horizont stehen. Eine große Zahl toter Hunde lag auf der Straße. Waren es Hirtenhunde, die ihre Herden von der Straße zu treiben versucht hatten, oder waren es herrenlose Hunde, die sich auf den Weg gemacht hatten, ein besseres Leben zu finden? Einmal erhob sich ein großer Vogel, der an einem toten Hund hackte, ganz langsam vor dem herannahenden Auto. Sein riesiger Flügel berührte fast die Kühlerhaube. Ein blutiger Fetzen Fleisch fiel auf die Windschutzscheibe.

Am späten Nachmittag kamen sie nach Umtata, der Hauptstadt der Transkei. Die Autobahn wurde zur Stadtdurchfahrt. Stellenweise hatten sie Mühe, zwischen überladenen Marktständen eine Fahrrinne zu finden. Umtata war eine ausschließlich von Schwarzen bewohnte Großstadt mit modernen Gebäuden im Zentrum, einer Universität, einem Flughafen und Vier-Sterne-Hotels. Am Wegweiser zum Holiday Inn bog Arnold ab. Meilan legte die Hand auf seinen Arm.

"Wo willst du hin?"

"Fragen, ob sie ein Zimmer frei haben."

"Ich kann hier nicht übernachten."

"Wir sind sechshundert Kilometer gefahren."

"Laß uns weiter fahren."

"Wir sollten uns Umtata ansehen. Eine typisch afrikanische Stadt. Vielleicht können wir heute Abend eine Pop-Gruppe mit Original Xhosa-Musik hören. Wär das nichts für dich?"

"Ich ekle mich vor den Schwarzen. Sie sind aufdringlich. Ich kann ihren Geruch nicht ertragen."

"Dieses Hotel ist ein internationales Haus. Wir werden stundenweit kein besseres finden."

Sie lächelte ihn betörend an: "Ich könnte mich in meiner Haut nicht wohlfühlen, wenn ich hier übernachten müßte. Du hättest nichts von mir."

"Wenn wir noch länger fahren, bin ich zu nichts zu gebrauchen."

"Nur ein kurzes Stück," bat sie.

Es wurden dann doch zweihundertfünzig Kilometer. Beim Verlassen des früheren Homelands Transkei kamen sie an einen befestigten Grenzübergang, der an den Checkpoint Charlie erinnerte, aber jetzt, genau wie die Berliner Mauer, nur noch ein verwaistes Denkmal war, das eine Politik der Verirrtheit anklagte.

Mit Einbruch der Dunkelheit erreichten sie die Industrie- und Hafenstadt East London. Am Stadtrand entdeckten sie die Leuchtschrift "Airport Hotel". Es war ein Betonklotz auf freiem Felde. Kein Meerblick, kein Seewind, nur eine Wohnmaschine. Konnte ein Liebespaar in so einer Maschine zärtlich zusammenliegen? Arnolds Wunsch nach Romantik war stärker als seine Erschöpfung. Er steuerte den Wagen in die unübersichtliche, schlecht beleuchtete Stadt. Nach der fünfzehnten roten Ampel bekam er einen Krampf im rechten Bein. Er stellte mitten auf der Straße den Motor ab und machte das Warnblinklicht an.

"Ich kann nicht mehr," stöhnte er. Auf Meilans Miene nahm er einen zweifelnden Ausdruck wahr, als hätte er in ihren Augen sein Gesicht verloren, weil er Schwäche zeigte. Es mußte sich um eine Sinnestäuschung im flackernden Gelblicht handeln. Sie war sein Reisekamerad.

Er öffnete die Wagentür und trat ins Freie. Um den Krampf wegzutreten, humpelte er die Straßenfront entlang. Er sah den Notausgang eines Kinos. Ein Geschäftshaus aus den Gründerjahren. Dann eine winzige Leuchtschrift: "Hintereingang Hotel Esplanade."

Mit seiner Front lag das Hotel an der Uferpromenade. Sie bekamen ein großes Zimmer unter dem Dach, das ein breites Doppelbett und Meerblick hatte. An der Seite war ein Wintergarten abgetrennt, in dem eine Art Kinderbett stand. Meilan hüpfte begeistert in den Wintergarten und rief: "Hier schlafe ich. Alles andere kannst du haben."

Arnold hatte hauptsächlich Lust auf ein Bier. Im Hotel gab es kein Restaurant, aber gleich nebenan lag ein gutbesuchter Pub. Castle-Bier vom Faß wurde ihnen unaufgefordert hingestellt. Die Tischplatte war so klein, daß man nur Tellergerichte essen konnte.

"Wir müssen uns angewöhnen," sagte Arnold, "schon nachmittags um drei oder vier ein Hotel zu suchen. Das war heute sehr ungünstig."

"Ich mag mich nicht mit dir unterhalten, wenn jemand uns zuhören kann." Tatsächlich standen die Tische sehr eng.

"Rang women jiang zhongwen - sprechen wir Chinesisch."

"Ich kann deinen Akzent im Chinesischen nicht ertragen. Es macht mich krank, ihn zu hören."

Meilan war heute wirklich kein guter Reisekamerad. Aber Arnold war zu müde, um aufzustehen und wegzugehen. Er trank sein Bier und sagte den ganzen Abend kein einziges Wort mehr. Schweigend ging jeder in sein Bett.

Er war viel zu erschöpft, um Schlaf zu finden. Vor seinen Augen spulte sich immer wieder das hellgraue Band der Autobahn nach Umtata ab, mit den toten Hunden, irrenden Ziegenherden und langsam trottenden Rindern, zwischen denen er seinen Wagen hindurchsteuern mußte, wie bei einem Videospiel, bei dem früher oder später das eigene Gefährt sich in einem Explosionsstern auflöste. Die Fahrt nach Umtata war das erste Videospiel, aus dem er als Sieger hervorgegangen war.

Im Wintergarten ging ein gelbes Licht an. Er hört tappende Schritte, seine Decke wurde zurückgezogen und die Matratze schwankte unter Meilans Gewicht. "Es tut mir leid," sagte sie, nahe an seinem Ohr, "ich war heute Abend nicht freundlich zu dir." Der Ärger schmolz ab von ihm, aus Mißverständnis wurde Einverständnis.

Als sie ins Badezimmer ging und er dem Knacken und Schnappen des Schlüssels in der Tür nachlauschte, kehrte die Erschöpfung von der langen Autofahrt in seinen Körper zurück. Er war ihr auch durch die verschlossene Tür so nahe, wie es nur vorstellbar war. Der Schlaf überfiel ihn mit dem schwarzen Flügelschlag eines von einem zerrissenen Hund aufflatternden Geiers.

 

ZWÖLFTES KAPITEL

 

Von East London führte der Weg sie durch ein weiteres Homeland, die Ciskei, nach Port Elizabeth in der Östlichen Kap-Provinz. Die Ciskei machte keinen so ärmlichen Eindruck, wie die Transkei. Das war wohltuend. Aber Port Elizabeth erwies sich als eine Stadt, die vom Meerwind durchweht war, einem unangenehm kalten Wind, viel kühler als der starke Passat in Durban. Sie fanden Unterkunft im Marine Protea, vor dessen protziger Fassade eine lange Reihe von Fahnen im Ostwind flatterte.

Bei der Rückkehr von einem Stadtbummel bemerkten Arnold und Meilan an der Hotelauffahrt einen nervösen Sicherheitsbeamten in einem frisch gebügelten Konfektionsanzug mit einem Hörsprechgerät in der Hand.

Als sie in der Hotelhalle in den Lift stiegen, gesellte sich ihnen ein schwarzes Hausmädchen zu, das einen Stapel gelber Badetücher trug.

"Bitte warten Sie einen Augenblick," sagte ein weiterer Sicherheitsbeamter und stellte sich vor die Lichtschranke der Lifttür. Ein dicker fröhlicher Mann trat ein und schaute ihnen allen in die Augen. Auf Meilan verweilte sein Blick am längsten. Arnold suchte nach Worten, um ein Gespräch mit ihm anzufangen, aber der Mann stieg schon im zweiten Stock aus.

"Wer war das?" fragte Arnold das Zimmermädchen.

"Das ist unser Vizepräsident de Klerk. Er hält hier einen Vortrag."

"Hast du ihn nicht erkannt?" wandte sich Arnold an Meilan. "Du lebst schon ein paar Monate in diesem Land. Das ist der frühere Präsident von Südafrika, der Mandela befreit und nach oben gebracht hat. Er macht auf mich einen sehr guten Eindruck."

"Wenn wir mal Zeit zum Fernsehen haben, schauen wir uns Kassetten mit Serien aus China an."

Ihr Zimmer lag im sechsten Stock. Es bot nur eine einzige Schlafgelegenheit. Zum Abendessen blieben sie wegen des kalten Windes im Hotel. Meilan zog ihr schönstes Kleid an und brauchte lange für ihr Makeup. Die Gäste im Speisesaal waren beeindruckt.

Zum ersten Mal in seinem Leben aß Arnold Straußenfilet. Die Textur des Fleisches erinnerte an Rinderfilet, aber der Wildgeschmack war sehr intensiv. Meilan kostete davon und erklärte ihm, daß das Aroma von  Herde zu Herde unterschiedlich ausfiele. Als es ans Bezahlen ging, schickte er sie voraus nach oben, damit sie nicht mitbekam, was für ein Arrangement er für das morgige Frühstück traf.

Sie hofften im Fernsehen etwas über den Besuch von de Klerk zu erfahren, aber dann schlug sie ein abendfüllender Dokumentarfilm über die Massai in seinen Bann. Meilan kuschelte sich an ihn, und sie schmusten beim Fernsehen wie zwei Teenager, die zum ersten Mal das Petting entdeckten. In der Nacht lag sein Arm auf ihrer Hüfte, und das war gut.

Als sie zum Frühstück nach unten gingen, wurden sie an einen Tisch geführt, auf dem rote Rosen standen und Geburtstagskerzen in zwei üppigen Tortenstücken steckten. Arnold zündete die Kerzen an und sang: "Happy birthday to you, dear Meilan."

Sie umarmte ihn und küßte ihn in aller Öffentlichkeit auf die Wange.

"Du mußt dir etwas wünschen, wenn du die Kerzen auspustest", sagte er ihr.

"Ich will die Kerzen noch lange brennen sehen." Sie nahm die Rosen in die Hand, ohne sich zu stechen. Tränen standen in ihren Augen.

Die dünnen Kerzen brannten schnell herunter.

"Jetzt," sagte Arnold, "blas sie aus, bevor eine von selber ausgeht."

Sie löschte die Lichter mit einem langen Atemhauch und klatschte wie ein Kind in die Hände.

"Willst du mir sagen, was du dir gewünscht hast?" fragte er.

"Ich habe mir gewünscht, meine Eltern wiederzusehen. Ist das in Ordnung?"

"Es ist richtig, gerade heute an sie zu denken."

"Leben deine Eltern noch?"

"Mein Vater wird nächsten Monat neunzig. Wir haben uns vorgenommen, genau neunzig Geburtstagskerzen für ihn anzuzünden."

"Du wirst bestimmt genauso alt." Sie runzelte die Stirn, als zählte sie die Jahre, die noch vor ihnen lagen. "Dann werde ich Siebenundsiebzig sein. Kannst du dir das vorstellen?"

"Ja," sagte er."

Meilan zog die kalten Kerzenstummel aus dem Kuchen und packte sie in ein Papiertaschentuch ein. "Glaubst du, wir schaffen es, die Torte aufzuessen?"

Es gelang ihnen ohne Mühe.

Die sogenannte Garden Route, die hinter Port Elizabeth begann, erwies sich als eine Route der Nationalparks. Ein Naturschutzgebiet folgte dem anderen. Mal lag eine schillernde Seenplatte zu ihrer Rechten, dann ragten bizarre Felswände in den Himmel. Eine Verkehrstafel warnte vor kreuzenden Elefanten, aber sie sahen nicht einmal die Losung dieser Tierriesen auf der Straße liegen.

Gegen Mittag las Meilan auf einem Ortseingangsschild: "Knysna, die Stadt der Austern." Arnold hatte nichts für diese Delikatesse übrig. Er hatte in seinem ganzen Leben erst zwei oder drei Mal rohe Austern gegessen.

"Hier soll es in der Lagune die größte Austernbank Südafrikas geben," informierte ihn Meilan. Arnold genoß immer die Ausstrahlung guter Laune, die Meilan beim Essen um sich verbreite, und da die Restaurantpreise in Südafrika gerade halb so hoch wie in Deutschland waren, erfüllte er ihr gerne ihre kulinarischen Wünsche.

In einem kubistischen Einkaufszentrum aus Sichtbeton fanden sie ein Spezial-Austernrestaurant. Es gab Riesenportionen, und die Muscheln waren so frisch, daß sie nach nichts schmeckten und kräftig mit Zitrone und Worcestersauce beträufelt werden mußten. Meilan war so begeistert, daß sie noch eine Portion bestellten. Nach dem Essen entdeckten sie im gleichen Gebäude einen Modesalon, der Kleider führte, die Meilan gefielen. Arnold wollte ihr eins zum Geburtstag schenken, und sie probierte über ein Dutzend aus, ohne die Ladenbesitzerin zu verärgern, weil sie die Sachen mit Grazie vorführte und in jedem Kleid eine andere, anmutige Frau war. Sie entschied sich für ein dunkelblaues Modell, das mit winzigen Gänseblümchen gemustert war.

Auf der Weiterfahrt kamen sie an einem verlassenen Campinggelände vorbei, auf dem Arnold seine Mitfahrerin über eine Stunde mit dem BMW üben ließ. Vorwärts, rückwärts, um die Ecke. Auf dem grasigen Untergrund konnte man nur langsam fahren, und Meilan wurde schnell mit der Handhabung des Wagens vertraut. Arnold hatte keine Bedenken mehr, die Anfängerin auf einer verkehrsarmen öffentlichen Straße ans Steuer zu lassen. Vielleicht schon morgen.

Am Nachmittag kamen sie zum Badeort Mossels Bay. Es gab ein Protea Hotel direkt am Strand, und sie bekamen ein Zimmer mit Meerblick, aber ohne Balkon. Meilan legte gleich ihren Badeanzug an. Der Strand lag direkt vor der Hoteltür. Es war das erste Mal, daß sie auf diesem Kontinent im Meer schwammen, übermütig vor Vergnügen. Das Wasser war warm und anheimelnd, der Wind sanft. In den flachen Wellen tummelten sich Kinder mit Gummitieren. Ein Riff weiter draußen hielt riesige Brecher und Haifische ab. Schon vor hundertsechsundsechzig tausend Jahren, behauptete eine Informationstafel im Hotel, hatten hier Menschen gebadet, und sich von Crayfish und den Muscheln der Bay ernährt, Zehntausende von Jahren vor dem Erscheinen der paläontologischen Peking-Menschen, Meilans Vorgängern, die das Herdfeuer zähmten.

"Ich muß duschen," erklärte sie oben, "ich habe überall Salz auf der Haut kleben."

"In Deutschland," behauptete Arnold, "gehen Liebespaare meistens zusammen unter die Dusche."

"Dann komm," sagte sie überraschend.

Sie war in verspielter Stimmung, und sie hatten es plötzlich eilig, sich trockenzureiben und die Fenstervorhänge zuzuziehen. Obwohl Liebespaare das immer glauben, waren sie nicht das erste und einzige Paar auf der Welt. Schon vor hundertsechsundsechzigtausend Jahren hatten hier Männer und Frauen zu einander gefunden. Und es schien immer noch zu funktionieren. Arnold hatte ununterbrochen ein starkes Glücksgefühl. Daher dauerte es eine Weile, bis er bemerkte, daß Meilans Atem gepreßt ging, ihr Hals verspannt war.

"Shufu bu shufu?" fragte er.

"Bu shufu - nicht angenehm."

Er respektierte das sofort und wich zur Seite aus. Es war immer noch ihr Geburtstag.

In der Nacht gab ihm wieder die Festigkeit ihrer Hüfte unter seiner Hand bis in den Schlaf hinein Selbstvertrauen.

 

DREIZEHNTES KAPITEL

 

Das Ziel ihrer Reise, das Kap der Guten Hoffnung, war ihnen so nahe gerückt, daß sie es in einer Tagesfahrt erreichen konnten. Der Kassierer, bei dem Arnold seine Hotelrechnung beglich, warnte ihn, daß am Wochenende in Kapstadt Hotelzimmer schwer zu finden seien und bot sich an, für ihn bei einem Schwesterhotel etwas zu reservieren. Es dauerte eine Weile, bis er mit einer Skizze von Kapstadt zurückkam, in der die Lage des Ritz Protea direkt am Antlantik eingezeichnet war.

Hinter Mossels Bay endete die Uferstraße. Es gab keine Möglichkeit, an der Küste bis zum südlichsten Punkt Afrikas zu fahren, dem Kap Anguilas. Sie mußten auf jeden Fall der N 2 folgen, die eine Abkürzung in Richtung Kapstadt einschlug.

Nach einer Stunde Fahrt erblickten sie das Ortsschild Heidelberg, das sie beide neugierig machte. Doch hinter diesem romantischen Namen verbarg sich nicht viel mehr als ein Straßendorf mit einer Feldsteinkirche.

Dafür entdeckten sie eine Straße, die versprach, nach Norden das Küstengebirge zu überklettern und ihnen eine wüstenähnliche Hochebene, das Kleine Karoo, zu erschließen. Kaum hatten sie die letzte Scheune von Heidelberg hinter sich gelassen, da verwandelte sich der Weg in eine Schotterpiste. Arnold hielt an, um Meilan das Steuer zu überlassen. Auf dieser Strecke konnte man nicht viel falsch machen. Aber nach ein paar Kilometern kamen sie wieder auf Asphaltbelag, und die Straße begann sich in vielen Kurven einen hohen Bergpaß hinaufzuschlängeln.

"Halt an," sagte Arnold, "wir haben das Kurvenfahren noch nicht geübt. Ich übernehme."

"Wir üben es jetzt," sagte Meilan.

Arnold überlegte, den Zündschlüssel aus dem Schloß zu ziehen. Aber bei einem Wagen mit Rechtssteuerung sitzt der Beifahrer links, das Steuer befindet sich vor dem rechten Sitz, und man muß von links aus ganz um die Lenksäule herumfassen, vor dem Leib des Fahrers, ohne überhaupt die Position des Zündschlosses sehen zu können. Während jeder Sekunde handgreiflicher Meinungsverschiedenheiten legt ein fahrender Wagen fünfzehn Meter zurück. Und das auf kurviger Bergstrecke mit einem Abgrund links und einer Felswand rechts. Zu gefährlich.

Das Hauptproblem an Meilans Anfängerstil war, daß sie beim Fahren zu große Lenkradausschläge machte, die den Wagen um etwa einen halben Meter von seiner Ideallinie nach links oder rechts abweichen ließen. Diese Abweichungen konnte Arnold vermindern, indem er das Lenkrad mit der linken Hand stabilisierte. Die rechte brauchte er, um mit der Handbremse die Geschwindigkeit zu reduzieren.

"Es geht doch sehr gut," sagte Meilan. Da sie rechts saß, konnte sie nicht sehen, wie nahe die linke Wagenseite manchmal den steinernen Begrenzungspfeilern am Straßenrand kam. Wegen eines Kratzers im roten Lack machte Arnold sich keine Sorgen. Aber was, wenn das Karosserieblech in einen Reifen gepreßt würde? Was mußte und was konnte er aus Verantwortung für die Partnerin tun?

"Du machst das immer besser," lobte er, und sie begann etwas entspannter zu steuern. Er sagte ihr metergenau, wo sie stärker bremsen mußte, und wo sie wieder ein wenig Gas geben durfte. Je länger es gut ging, desto deutlicher näherte sich Arnolds Herzschlag wieder seinem Normalwert an. Hinter der Paßhöhe führte eine lange Gerade in das Kleine Karoo hinunter, und dann ging es durch ein Wüstenhochtal in Richtung Kapstadt. Sie schienen das einzige Fahrzeug zu sein, das diese Straße benutzte. Das karge Land besaß eine Eintönigkeit, in der alles Wiederkehr des ewig Gleichen war. Ein auffälliges Gebäude, das sie schon von weitem sahen, erwies sich als die Brennerei, in der der von Arnold so geschätzte KWV-Weinbrand hergestellt wurde. Es stand wie ein Maurenschloß in der Wüste. Meilan war nicht dafür, daß er ein paar Flaschen zum Fabrikpreis erstand. Sie weigerte sich, an der Destillerie anzuhalten.

Ein Wegweiser gab ihnen die Wahl, nach rechts zur Autobahn Johannesburg-Kapstadt, der Hauptverkehrsader Südafrikas, oder nach links zur N 2 weiterzufahren. Sie gaben ihrer alten Weggefährtin den Vorzug. Hinter der Gabelung wurde die Landschaft grüner, die Straße breiter, und im Rückspiegel leuchteten die Blinksignale überholender Lastautos. Meilan, die Fahrerin ohne Erfahrung, steuerte jetzt den Wagen drei Stunden ohne eine Minute Pause.

"Ich habe Hunger," sagte Arnold.

Meilan hielt am ersten Wirtshaus, das sie sah. Es war die Alte Mühle in Swellendam, die von außen und innen wirkte, als sei sie aus dem Gemälde eines barockzeitlichen holländischen Meisters hierher versetzt worden. Nach dem Essen übernahm Arnold wieder das Steuer. Es waren auf der N 2 noch zweihundertvierzig Kilometer bis Kapstadt. Als sie zwei Stunden später an einem Rastplatz hielten, um den Blick auf den wieder in der Ferne schimmernden Ozean auszukosten, flackerten die vier Blinklichter des BMW so heftig, wie zuletzt vor dem Hintereingang des Hotels Esplanade in East London. Arnold drückte auf den Knopf des Warnblinklichts am Armaturenbrett. Nichts änderte sich. Er ließ den Motor an und betätigte den Schaltknopf erneut. Die gelben Warnleuchten blinkten unverändert schnell und machten dabei ein klickendes Geräusch. Auch wenn er den Richtungsanzeiger nach rechts oder links stellte, flackerten alle vier Lichter gleichzeitig.

"Laß uns fahren," sagte Arnold, "wer weiß, was noch passiert."

Schon beim Losfahren entdeckte er den nächsten Defekt. Die elektrischen Fensterheber funktionierten nicht. Arnold konnte das offene Fenster in der Fahrertür nicht schließen. Eine mechanische Kurbel gab es nicht. Hirnrissig nannte man so etwas in Bayern. Arnold würde auf die nächste Hauptversammlung gehen und dem Vorstand der Firma die Entlastung verweigern. Als Berufsanfänger hatte er hundert BMW-Aktien gekauft, die sich auf wundersame Weise vermehrt hatten. Er war jetzt beinahe Großaktionär.

Die Abfahrt nach Kapstadt war lang und schwungvoll, wie die Abfahrt der A 3 aus dem Spessart nach Offenbach. Der Fahrtwind toste durch das offene Fenster. Meilan wickelte sich auf Arnolds Vorschlag einen dünnen Schal um den Kopf, der sie wie eine in Seidenpapier verpackte Orange aussehen ließ. Kapstadt hatte eine unübersichtliche City mit chaotischem Verkehr, in dem niemand auf ihre Blinklichter achtete. Nach der Kartenskizze fanden sie den Weg zum Hotel. Arnold schleppte das Gepäck in die Halle und ließ sich den Weg in die Hotelgarage erklären.

Als er den Motor abgestellt hatte, blinkten die Warnleuchten immer noch weiter. In Kürze würden sie die ganze Batterie leergesogen haben.

"Bitte warte einen Augenblick," sagte er zu Meilan, die neben dem Gepäck in der Lobby saß, "wir müssen erst die Batterie abklemmen." Er bat einen Hoteldiener, ihn mit einer Zange in die Garage zu begleiten, um die Batteriekabel von den Polen zu ziehen. Er öffnete die Motorhaube. Er wußte genau wo die Batterie saß. In den sechzehn Lebensjahren seines Achtzehnhunderters hatte er oft genug Starthilfe gegeben oder in Anspruch genommen. Aber dieser Wagen besaß keine Batterie. Erst nach dem Studium des Wagendiagramms fand Arnold heraus, daß es im Bereich des zu klein geratenen Kofferraums einen Aufenthaltsraum für die Batterie gab. Der Hausdiener hatte kräftige schwarzbraune Handgelenke, und es gelang ihm die Manschetten von den Polen zu ziehen. Die Blinker verstummten.

Meilan war die ganze Zeit in ihrem Sessel in der Hotelhalle sitzen geblieben, ohne sich um die Anmeldung zu kümmern. Der Rezeptionist, dem Arnold seinen Namen nannte, blätterte in seinen Unterlagen und machte ein verlegenes Gesicht: "Es tut mir leid, ich habe leider nur einen Twin-Room frei, ein Zimmer mit getrennten Betten."

"Das ist meiner Frau bestimmt recht."

Der Mann, der Meilan die ganze Zeit vor Augen gehabt hatte, schien das nicht recht zu glauben, aber er war erleichtert, daß seine Gäste keine Schwierigkeiten machten. Das Hotel hatte zweiundzwanzig Stockwerke, ganz oben befand sich ein Drehrestaurant von dem aus man einen Panoramablick auf Kapstadt und den Atlantik hatte. Ihr Zimmer war im elften Stock.

Auf dem Schreibtisch lag das Telefonbuch von Kapstadt. Arnold schlug die Nummer der BMW Generalvertretung auf. Ein Anrufbeantworter teilte mit, daß man ab nächsten Montag wieder zu sprechen sei. Auf einen Notdienst kein Hinweis. Bei allen Vertragswerkstätten liefen vergleichbare Bänder. Als nächstes probierte es Arnold mit der Firma, bei der er den Wagen gemietet hatte. Deren Anrufbeantworter informierte, daß ein Vertreter am Flughafen zu erreichen wäre. Und dort fand Arnold einen Menschen, der ihm helfen wollte.

"Ist es Ihnen recht," fragte er, "wenn ich Ihnen morgen früh um neun einen Austauschwagen ins Hotel bringe?"

"Ich brauche keinen anderen Wagen, es muß nur ein Relais ausgewechselt werden."

"Es ist uns lieber, Ihnen einen frisch durchgecheckten Wagen zu geben. Wir ändern einfach die Wagennummer in Ihrem Vertrag. Das machen wir immer so."

Jetzt erst hatte er Zeit sich seiner Begleiterin zuzuwenden. Sie wollte sofort den Atlantik sehen. Die Küste war nur zweihundert Meter entfernt. Der mehrspurige Verkehr machte das Überqueren der Uferstraße schwierig. Doch dann übertönte das Brausen der Brandung den Motorenlärm. Die Sonne war bereits untergegangen, und über dem hellen Farbband des Abendrots türmten sich schwarze Wolken auf. Ein Westwind, der sie frösteln machte, trieb die breiten Schaumbahnen der Wellen an den Strand, eine Reihe hinter der anderen, eine Herde von Schimmelhengsten mit fliegenden Mähnen. Sie sahen keinen die Schwingen breitenden Albatros, keine Möwen, keine Robbenköpfe, nicht einmal den Umriß der Robbeninsel, auf der Mandela, der neue Präsident des Landes, so viele Jahre als politischer Gefangener verbracht hatte.

Auf dem Rückweg zum Hotel stießen sie auf das Restaurant "Swiss Chalet". Meilan wollte keinen Käsefondue probieren, aber sie aß sie zum ersten Mal in ihrem Leben Berner Rösti, die ihr so gut schmeckten, daß Arnold ihr noch die Hälfte seiner Portion überließ.

Er hatte es eilig, ins Hotelzimmer zurückzukehren. Er wollte sie in seine Arme nehmen, aber sie wehrte ihn entschieden zurück: "Heute nicht."

"Ich bin innerlich noch so unruhig," sagte er, "ich brauche das Gefühl deiner Nähe."

"Wenn ich nein sage, habe ich nein gesagt."

"Warum machst du daraus eine Grundsatzgeschichte? Ich möchte, daß wir uns einigen."

"Es gibt nichts zu einigen. Ein Nein ist ein Nein."

Er sah die Kampfeslust in ihren Augen. Er hatte im Beruf genug mit aggressiven Kollegen und Chefs zu tun. Ihn störte nicht ihre Verweigerung, die verständlich war angesichts ihres Fahr-Abenteuers, das sie bestimmt erschöpft hatte. Ihn erstaunte die Härte in ihrer Ablehnung. Gingen Liebende so miteinander um? Auf einmal war er überzeugt, daß sie wirklich ein enttäuschtes Gesicht gemacht hatte, als er in East London den Krampf im Bein bekam. Es war keine Sinnestäuschung gewesen. Sie war kein guter Reisekamerad.

Vom Augenblick an, als er auf der Treppe zum Zollamt seine Verabredung mit Wehrmeier vergaß, hatte er das Gefühl gehabt, für sie etwas Besonderes zu sein, jemand, auf den sie ihr ganzes Leben gewartet hatte. Aber vielleicht war das nichts Persönliches gewesen, nur ihr chinesischer Instinkt, ein gutes Geschäftsklima zu schaffen, ein Verhalten, das die Voraussetzung dafür war, daß zwölfhundert Millionen Menschen auf engem Raum friedlich zusammenleben konnten. Wo das ganz Private begann, war sie weniger anpassungsfähig.

Ihr Nein von heute war ein Vorbote für endlose Uneinigkeiten in einem künftigen Zusammenleben. Das Sprichwort mußte richtig heißen: "Ein Tag Mann und Frau, hundert Jahre Streit." Wollte er sich dem ausliefern?

"Ich mache dir einen Vorschlag," sagte er wütend. "Wir haben diese Reise nach Kapstadt zusammen gemacht, und es war eine schöne Reise. Jetzt sind wir am Ziel. Du hast Probleme mit mir, ich habe Probleme mit dir. Vielleicht ist es das Beste, ich bringe dich morgen zum Flughafen und bezahle dir einen Rückflug nach Johannesburg. Ich fahre alleine nach Namibia weiter und fliege von Windhoek nach Deutschland zurück."

"Das ist ein guter Vorschlag," erwiderte sie, ohne einen Augenblick zu überlegen.

"Ich muß noch mal an die Luft," seufzte er. "Ich kann jetzt nicht ruhig sitzen."

"Nimm den Zimmerschlüssel. Ich schlafe bestimmt schon, wenn du zurückkommst."

Er fuhr hinunter, um sein vom Ärger erhitztes Gesicht in den kalten Wind zu halten, der über die Wasserwüsten des Südatlantiks herangestürmt kam. Plötzlich stand er vor dem Swiss Chalet, in dem noch Hochbetrieb herrschte. Er fand einen Platz an der Theke. Der Pächter erkannte ihn wieder und schien über die Begegnung erfreut zu sein. Er ließ sich in ein langes Gespräch über Südafrika verwickeln. Arnold bestellte eine Flasche Chardonnay, die sie gemeinsam leerten. Der Pächter riet ihm zu einer Fahrt in die Namib-Wüste. Kurz vor der Grenze, in einem Ort namens Springbok, gäbe es ein von einem Deutschen geführtes Hotel, wo man abends unter freiem Himmel sitzen und die trockene Wüstenluft genießen konnte. Nichts auf der Welt ließe sich damit vergleichen.

Als er ins Hotel zurückkehrte, lag ein weißer Briefumschlag in seinem Schlüsselfach.

"Ihre Telefonrechung," erklärte der Nachtportier.

"Soll ich gleich bezahlen?"

"Es ist nur zu ihrer Information."

"Darf ich mal sehen?"

Es war ein Computer Printout. Die Zimmernummer stimmte. Sein Name war automatisch als der des gemeldeten Gastes aufgeführt. Die Zeit entsprach der seines Aufenthaltes im Swiss Chalet. Die Vorwahl für Johannesburg kannte er. Die große Zahl der Anrufe sprach dafür, daß es für Meilan in Johannesburg Probleme gab.

Als er das Zimmer aufschloß, wußte er nicht, welches Bett sie gewählt hatte. Er machte kurz das Licht an, auch um die Lage der Badezimmertür zu erkennen. Ihre Hand zuckte vor ihre Augen. Mit schlafschwerer Stimme sagte sie: "Gute Nacht. Schlaf gut."

 

ZWÖLFTES KAPIEL

 

"Ich habe über alles nachgedacht," sagte Meilan beim Frühstück. Arnold hatte mit Absicht nicht den ersten Schritt getan, um ihr keine Angriffsfläche zu bieten. Aber sie war versöhnlich gestimmt.

"Ich finde, wir haben uns diese Reise vorgenommen, weil wir ganz Südafrika sehen wollten, und nicht bloß bis Kapstadt fahren. Was man sich vorgenommen hat, das soll man auch ausführen. Wir haben gerade die Hälfte der Reise hinter uns. Laß uns auch die zweite Hälfte gemeinsam unternehmen. Was wir dann in Johannesburg tun, ob jeder seinen eigenen Weg geht, oder ob - das können wir dann entscheiden."

"Einverstanden," sagte Arnold."

Sie griff nach seiner Hand und drückte sie.

Der Austauschwagen, der ihnen gebracht wurde, glich dem bisher benutzten wie ein roter Gartenzwerg dem anderen. Nur die Kilometerzahl auf dem Tacho war niedriger. Arnold hatte den Wagen lieb gewonnen, der ihn durch so haarsträubende Situationen getragen hatte, und es irritierte sein Treuegefühl, daß man den Partner all dieser Abenteuer einfach austauschen konnte, ohne überhaupt den Wechsel zu merken. Nach Probefahrt und Vertragsänderung legte Arnold unter dem Vorwand, alle Fächer des alten Wagens zu durchsuchen, eine Erinnerungsminute ein, um sich die besonderen Augenblicke der Verläßlichkeit des Gefährten zu vergegenwärtigen: Der Bocksprung auf der Autobahn nach Durban, als der Verrückte sie rammen wollte, das Videospiel mit den Ziegenherden vor Umtata, und die selbstmörderische Fahrstunde auf der Kurvenstrecke ins Kleine Karoo.

"Thank you, Bud," sagte Arnold und klopfte abschiednehmend auf das Lenkrad.

Mit dem Austauschwagen unternahmen sie in Kapstadt das übliche Touristenprogramm. An der Talstation der Tafelberg-Seilbahn fanden sie ohne Mühe einen Parkplatz. Nur wenige Leute standen unentschlossen vor der Kasse, an der ein Schild hing: "Betrieb wegen Wind eingestellt". Der Tafelberg ragte majestätisch in den Himmel, so hoch, daß man den Kopf in den Nacken legen mußte. Ein Wegweiser lockte zu einem Wanderweg. Aber bei 1066 Metern Gipfelhöhe wäre eine Besteigung kein Vormittagsausflug, sondern eine Tagestour. Sie fuhren zurück an den Atlantik und erreichten ganz in der Nähe ihres Hotelhochhauses die Küstenstraße. Bis zum Kap der Guten Hoffnung waren es noch achtzig Kilometer entlang einer dramatischen Steilküste. Die südliche Hälfte der Kaphalbinsel war Naturschutzgebiet. Sie zahlten am Tor die Eintrittsgebühr, und Arnold überließ Meilan den Fahrersitz. Auf dem 77 Quadratkilometer großen Gelände durfte man nur Schritt fahren, um die wild lebenden Tiere nicht zu erschrecken, darunter mehrere Gazellenarten, wie Springbock und Hartebeest. Die Tiere waren scheu und wollten nicht von den Besuchern gefüttert werden. Meilan fand einen Parkplatz am Fuß der Felspyramide, die als Cape Point bekannt ist. Sie kletterten zum alten Leuchtturm hinauf und sahen im Süden, Osten und Westen die Unendlichkeit des Ozeans. Der Ort wirkte wie das Ende der Welt. Hinter den hohen Brandungswellen lagen die Wracks gestrandeter Schiffe im klaren Wasser. Der Wind war so stark, daß er ihnen die Haare schmerzhaft um den Kopf schlug. Der Atlantik im Westen war tiefblau mit weißen Schaumkronen, das Meer im Osten, das in den Indischen Ozean überging, smaragdgrün. Auf dem Rückweg sahen sie große Proteabüsche, deren Blüten an vergoldete Artischocken erinnerten, eine fröhliche Erscheinung in der grün-braunen Heidelandschaft des Naturschutzgebietes.

Der Wind machte sie hungrig. In einem Touristenrestaurant an der Büffel-Bucht wurden wie am Fließband Riesenportionen von panierten Schweineschnitzeln mit Pommes frittes herangetragen. Nach dem Essen fuhr wieder er. Sie wählten den Weg an der Ostküste und mußten dann ganz Kapstadt durchfahren. Arnold fand es schwer, in der von Bergen umstellten und um Klippen herumwuchernden City die Orientierung zu behalten. Der Dreiklang von Bergen, Meer und Geschäftshäusern erinnerte Arnold an Hongkong, wie es vor einem Vierteljahrhundert war.

"Stell dir vor," sagte Meilan, "ich bin nie in Hongkong gewesen, dabei habe ich nur achtzig Kilometer entfernt gewohnt."

Bei der Ankunft im Hotel ließ Arnold für das Abendessen einen Tisch im Drehrestaurant reservieren. Sie fuhren hoch, als die Dämmerung fiel. Es war der richtige Augenblick. Wolken und Berge wurden dunkler, die Lichter der Stadt erstrahlten immer heller. Der Teil des Restaurants, der sich drehte, war ein Außenring, auf dem Tische und Stühle standen. Die Fensterfassade stand fest und ebenso der Raumkern mit den Liften, Wirtschaftsräumen und den Tischen, auf denen das Selbstbedienungsbuffet aufgebaut war. Durch diese Konstruktion änderte sich nicht nur der Ausblick auf Stadt und Ozean ständig, sondern auch der Abstand zu den Selbstbedienungstischen mit ihren Delikatessen. Man konnte auch a la Carte bestellen, aber sie fanden beide, daß das Büffet den besten Gegenwert darstellte. Meilan holte sich eine Auster nach der anderen.

"Sie kommen hier nicht frisch aus dem Meer," warnte Arnold, "wir sind in einer Großstadt."

"Wir haben den ganzen Tag nichts anderes als das Meer gesehen," widersprach sie.

Er bestellte eine Flasche Chardonnay der Winzergenossenschaft Swellendam, und sie trank soviel mit, daß er noch eine zweite kommen ließ. Als sie auf ihr Zimmer hinunterfuhren, waren sie beide beschwingt und guter Dinge.

 

VIERZEHNTES KAPITEL

 

Beim Aufstehen war ihr schlecht. Möglicherweise Austernvergiftung. Sie trank nur schwarzen Kaffee und Mineralwasser. Einen Arzt wollte sie nicht konsultieren. Auch keinen Ruhetag einlegen. Sie wollte so schnell wie möglich weiterreisen. Wäre im Kofferraum Platz für zwei Koffer gewesen, hätte sie sich auf die Rückbank legen können, aber so kauerte sie sich auf den Beifahrersitz, die Fäuste auf den Oberschenkeln geballt. Arnold fand gut aus der unübersichtlichen Stadt heraus. Die Straße, die nach Springbok führt, hielt etwa fünzig Kilometer Abstand zum Atlantik. Wer das Meer sehen wollte, mußte eine Stichstraße hinunterfahren und auch wieder zurückkommen. Arnold wollte die Wüste. Gegen Mittag hielt er an einem Minimarkt neben der Autobahn, um Sandwiches und Getränke einzukaufen.

"Kannietverstaan," sagte die blonde Verkäuferin. Arnold wiederholte seinen Wunsch auf Deutsch, und jetzt verstand sie ihn. Anscheinend war dies ein rein burisches Siedlungsgebiet, in das Englisch als Umgangssprache noch nicht vorgedrungen war.

Auf der Weiterfahrt ließ Meilan immer wieder eine Kassette mit hymnisch übersteigerter Marschmusik aus der Kulturrevolution laufen, wie sie in den späten Sechziger Jahren in China allgegenwärtig gewesen war. Als sie zum dritten Mal "Bei der Seefahrt kommt es auf den Steuermann an" abspielte, fragte er: "Du hast so einen entwickelten Musikgeschmack. Wie kommt es, daß dieses Zeug dir nicht auf die Nerven geht?"

Sie sah ihn erstaunt an, und bevor sie etwas sagen konnte, füllten sich ihre Augen mit Tränen.

"Diese Musik war die einzige, die ich in meiner Kindheit gehört habe. Es gab keine andere Musik, die ich lieben konnte. Ich habe sie von ganzem Herzen geliebt, und ich liebe sie immer noch. Sie ist ein Teil von mir, ein Teil meines Lebens, auf den ich nie verzichten könnte."

"Das verstehe ich. Es geht mir bei Musikstücken aus meiner Kindheit genauso. In meinem Fall war das Beethoven."

Er stellte sich vor, daß sie mit Hilfe dieser Musik versuchte, sich emotional in einen Winkel ihres früheren Lebens zurückzuziehen, in dem es für sie noch nicht das Problem gab, in verbotene Schmuggel-Geschäfte verwickelt zu sein. Vielleicht war eine verdorbene Auster nicht die einzige Ursache dafür, daß sie sich schlecht fühlte.

Unternahmen sie diese Fahrt als Reise zu sich selbst? Oder half er Meilan bloß, sich vor Verfolgern in Sicherheit zu bringen, die ihren Schmuggel-Touren auf die Schliche gekommen waren?

Als die Kassette zu Ende war, kramte sie in ihrer großen Plastiktüte mit Musikvorräten und legte eine Symphonie von Haydn auf. Die Harmonien des Wiener Meisters verblaßten bald vor der Dissonanz der Wüstenlandschaft, in die sie hineinfuhren. Nackt abgeschliffene Granitwülste mit über hundert Meter hohen Steilwänden wechselten mit Talmulden voll vertrockneter Sträucher. Das Gebiet war ein Hochland, höher als der Gipfel des Tafelberges.

Springbok, das sie nach sechs Stunden Fahrt erreichten, erwies sich als ein langweiliges Städtchen mit breiten Straßen und niedrigen Häusern. Das Hotel, das ihnen der Schweizer empfohlen hatte, entdeckten sie nicht. In ihren Augen fehlte es dem Ort an Romantik. Auf der Landkarte gab es 50 Kilometer nördlich von Springbok einen Ort mit deutschem Namen, Steinkopf. Dort müßten sie ein deutsches Gasthaus finden.

Meilan wollte immer noch nicht ans Steuer. So waren sie in zwanzig Minuten in Steinkopf, das sich als reine Schwarzen-Siedlung entpuppte. Winzige Gärten mit kleinen Einfamilienhäuschen. Kein Slum. Einen Gasthof gab es zu Meilans Freude nicht. Im Zentrum von Steinkopf zweigte eine asphaltierte Straße nach Port Nolloth am Atlantik ab, dem größten Hafen nördlich von Kapstadt. Arnold war schon sechshundert Kilometer gefahren. Und jetzt noch hundert? Die Straße war gut ausgebaut. Außer ihnen war niemand unterwegs. Arnold drückte dem BMW aufmunternd aufs Gaspedal, und nach wenigen Minuten stand der Tacho auf zweihundert. Das war natürlich hochgestapelt, Djia, nicht Dschen, aber wenn man fünfzehn Prozent von der Anzeige abzog, war es immer noch beachtlich. Ohne zu flattern und ohne zu trampeln hielt der Wagen seine Spur, als sei das die einfachste Sache der Welt. Zum erstenmal in Südafrika hatte Arnold richtig Freude am Fahren. Um Links- oder Rechtsverkehr mußte er sich nicht kümmern, da er der einzige Straßenbenutzer war. Deshalb fuhr er genau in der Mitte und schnitt alle Kurven in der Ideallinie. Viel schneller als ihm lieb, waren sie in Porth Nolloth.

Direkt vor der Küste gab es schöne, wachsgelbe Sanddünen, die mit Stacheldraht eingezäunt waren und das Warnschild trugen: "Diamantensperrgebiet. Betreten verboten." Dann baute der Atlantik eine Nebelwand vor ihnen auf, und als sie wieder in die Sonne kamen, war es kalt und windig, wie an der belgischen Nordseeküste im Frühjahr.

Von einem großen Hafen keine Spur. Ein paar Fischkutter, verrostete Bagger, ein Patrouillenboot der Küstenwache. Direkt an der Uferstraße lag ein in die Jahre gekommenes, stattliches Hotel. Die Nebelbank, die sie durchfahren hatten, war eine Zeitmaschine gewesen, die sie in die erste Hälfte des Jahrhunderts zurückversetzt hatte. Sie sahen die Welt in den Jahren vor ihrer Geburt. Das Hotel hatte noch Zimmer frei. Es war ein altmodisches Haus, in dem Bad und Toiletten separat am Ende des Flures lagen. Meilan wollte ein Zimmer für sich, weil ihr nicht gut war. Hinter der ersten Tür, die sie aufschlossen, befand sich ein großer Raum zur Meerseite mit zwei breiten Liegen. Eine verglaste Veranda war über die ganze Breite des Zimmer vorgebaut.

"Hier schlafe ich," sagte Arnold spontan. "Wenn du willst, kannst du das zweite Bett benutzen, sobald es dir besser geht."

Sie schüttelte den Kopf. Das andere Zimmer war viel kleiner, hatte nur ein Fenster, keine Veranda und ging zu Seite hinaus.

"Das reicht für mich," sagte Meilan. Er trug ihr den grünen Koffer hinein und ließ sie allein.

Nachdem er ausgepackt hatte, suchte er die Toilette und stieß im Flur auf Meilan, die mit ihrer Zimmertür heftig wedelte. Gleichzeitig war das Fenster weit geöffnet.

"Was ist los?" fragte er.

"Hier hat ein Schwarzer übernachtet. Der Geruch muß raus."

"Bei mir ist ein Bett frei."

"Nein danke."

In seinem Zimmer entdeckte Arnold am Ende der langen Veranda einen mit blauer Ölfarbe angestrichenen Schreibtisch, der etwas romantisch Verführerisches hatte. Wer sich hier niederließ, konnte erst wieder aufstehen, wenn er ein literarisches Werk vollendet hatte. Er holte sein Time-System Tagebuch und legte es auf die mit Sandkörnern bedeckte Tischplatte. An einem solchen Schreibtisch mußte Marcel Proust in Deauville gesessen haben, den Blick auf den Atlantik gerichtet, in der Erwartung, daß unten jeden Augenblick Albertine auf ihrem Fahrrad vorbeikäme.

Die leichten Schritte, die er auf den Holzdielen der Veranda hörte, waren Meilans.

"Was machst du?" fragte sie.

"Ich schreibe einen Roman. Die Geschichte unserer Liebe."

"Ist das ein Thema?"

"Für mich das wichtigste meines Lebens."

"Du liebst Autos mehr als Frauen."

"Das behauptet man von allen Deutschen. Aber es stimmt nicht. Ich lasse dich morgen den ganzen Tag fahren, wenn du willst."

"Weißt du schon, wie dein Roman heißen soll?"

"Ich habe noch keinen Titel. Fällt dir etwas ein?"

"Nenn ihn "Brennende Erwartung". Sie trat hinter ihn und legte das Kinn auf seinen Scheitel.

Die Fensterscheiben waren von außen so mit Meersalz beschlagen, daß man den Sonnenuntergang nur als undeutliches Glühen wahrnahm. Meilan schob eine Scheibe einen Spalt zur Seite und versuchte das Salz mit einem Papiertaschentuch fortzureiben. Der Erfolg war, daß tausend rote Kreise auf dem Glas erschienen. Als sie das Fenster ganz öffnete, raubte ihnen der Seewind den Atem.

Das Abendessen nahmen sie in einer Scheune ein, die wie eine Seeräuberhöhle wirkte, vollgestopft mit dem Messingzierat gestrandeter oder abgewrackter Schiffe. An den Nachbartischen saßen bärtige Gesellen in Seemannspullovern und alterslose Frauen mit braungegerbten Armen voller Goldschmuck. Meilan hatte schon wieder Lust auf Hummer, der hier Lobster genannt wurde und seine letzten Lebensstunden in einem Seewasseraquarium verbrachte. Arnold bestellte für sich auch einen, aber nach kreolischem Vorbild als Ragout.

Beim Rückweg in der Dunkelheit verfehlten sie den Plattenweg zum Hotel und wateten durch feinen Sand, der weich wie Pulverschnee war. Im Flur zwischen den Zimmertüren gab Meilan ihm einen Kuß auf die Wange. Er wollte noch einen zweiten, aber sie macht sich los, knallte ihre Zimmertür zu und schob den Riegel von innen vor.

Als er im Bett lag und nicht einschlafen konnte, weil er Meilan vermißte, holte er sich die Kissen aus dem Nachbarbett und plazierte sie so, daß sein Arm auf ihnen ähnlich erhöht ruhte, wie auf Meilans Hüfte. Er fühlte sich wie ein kleiner Junge, der seinen Teddybär in den Arm nimmt. Als Kind hatte er keine Ahnung gehabt, daß sein Teddy nur ein Vorläufer war, der später durch eine lebende Person abgelöst werden sollte. Jetzt war er erwachsen und hatte mal eine richtige Frau, mal einen Kopfkissen-Teddy im Arm.

 

FÜNFZEHNTES KAPITEL

 

Beim Auschecken im Strandhotel bestand Meilan darauf, ihre Telefonrechung selbst zu bezahlen. Sie faltete die Liste mit den angerufenen Nummern gleich zusammen und streckte sie in ihre Handtasche.

Nachdem sie das Auto beladen hatten, überließ Arnold ihr gleich den Fahrersitz. Sie fuhr vorschriftsmäßig auf der linken Seite und nie über achtzig. Ein einziges Fahrzeug begegnete ihnen auf den ersten hundert Kilometern, ein Geländewagen mit drei Mann Besatzung. Der paramilitärischen Bekleidung nach zu urteilen, gehörten sie zum Werkschutz des Diamantensyndikats.

Als sie nach Steinkopf kamen, bog Meilan auf die Vorfahrtsstraße ab, ohne das Tempo zu verringern. Der Wagen kam gefährlich ins Schleudern, hielt sich aber auf den Rädern.

"Was war das?" fragte sie erschrocken.

"Fahr zurück und probier es noch einmal."

Als sie wieder mit vollem Tempo auf das Kreuzungsschild zuraste, rief er: "Stop!"

Sie brachte den Wagen mitten auf der Kreuzung zum Stehen.

Sie übte noch zweimal, dann hatte sie es begriffen.

"Jetzt mußt du den Wagen nur noch wenden."

"Wieso?"

"Wir wollen nicht nach Springbok zurück, oder?"

Er breitete die Straßenkarte auf dem Lenkrad aus. "Unser Tagesziel in Richtung Johannesburg ist der Verkehrknotenpunkt Upington am Oranje-Fluß. Es gibt zwei Verbindungen. Die Südroute über Springbok und Puffotter. Und die Nordroute über Grünau und Karasburg in Namibia. Diese Strecke führt mitten durch die Kalahari. Das ist viel eindrucksvoller."

"Ich fahre nicht nach Namibia.

"Was hast du dagegen?"

"Wir haben kein Visum."

"Ich als Deutscher brauche kein Visum für das ehemalige Deutsch Südwestafrika, und du mit deiner südafrikanischen Daueraufenthaltsgenehmigung auch nicht. Notfalls stempeln sie dir ein Transitvisum in den Paß."

"Namibia ist ein unberechenbarer Polizeistaat."

"Wer sagt das?"

"Ich lebe lange genug in Afrika. Ich fahre nicht nach Namibia. Wenn du willst, steige ich aus und warte auf einen Bus."

"Du bist die Fahrerin heute. Das war abgemacht. Der Fahrer entscheidet, welche Route wir nehmen."

"Danke. Wenn ich entscheiden darf, ist es die Südroute." Sie fuhr los in Richtung Springbok, ohne den Blinker zu betätigen.

Da sie am Steuer saß, konnte er die Landschaft stärker auf sich einwirken lassen als am Tag zuvor. Am Anfang war es eine Felsenwüste mit Granitbuckelbergen und Steinhaufenbergen. Sie sahen kein Kraftfahrzeug, kein wildes Tier. Wo Sandboden auftrat, konnte er keine Wanderddünen bilden, weil er vollständig überwachsen war mit Gras und Euphorbienbüschen. Doch die Pflanzen waren so vertrocknet, daß sie wie ausgebleichte Skelette wirkten. Meilan saß über sechs Stunden am Steuer.

An einer Tankstelle kurz vor Upington übernahm er. Er ließ den Wagen auftanken, aber nicht bis zum letzten möglichen Liter, wie das die Tankwarte hier gerne versuchten. Upington war eine Geschäftsstadt ohne Charme. Die Luft war angefüllt mit dem Sandstaub der nahen Wüste und dem beißenden Rauch abgeflammter Felder, die vom Wasser des Oranjeflusses lebten.

In Upington gab es ein Protea-Hotel direkt am Oranje. Es war ein unansehnlicher Fluß mit schlammigem Wasser. Arnold fand einen Parkplatz im Innenhof des Hotels. Der Wagen stand mit den Hinterrädern etwas tiefer als vorne, deshalb zog er die Handbremse fest an. Meilan wollte wieder getrennte Zimmer. Arnold machte ein ablehnendes Gesicht. "Wir haben vereinbart, schon vor meinem Abflug in Frankfurt, daß wir gemeinsame Hotelzimmer nehmen. Daran halten wir uns, bis wir in Johannesburg sind."

"Es hat mir gestern so gut getan. Laß uns heute noch mal eine Ausnahme machen. Ich besuche dich vor dem Essen auf deinem Zimmer. Sagen wir um sechs. Dann hast du keinen Nachteil." Ihr Lächeln löschte seinen Widerstand aus.

Vor dem Spiegel seines Badezimmers föhnte er sein frischgewaschenes Haar. Es hatte eine seidenweiche Struktur, und unter der Sonne Afrikas hatte es einen noch helleren Goldton angenommen. Meilan ließ es manchmal spielerisch durch ihre Finger gleiten. Gestern Abend zuletzt, am blauen Schreibtisch. Als Fahrschülerin und Fahrlehrer waren sie ein gutes Team gewesen, aber auf dem Bougainvillea-Weg in Westbrook hatte sie sich nicht auf seine Hilfe stützen wollen. Vielleicht weil sie ahnte, daß er ihre Geschäftsideen nicht teilte?

Als Meilan eintrat, machte sie ein entschlossenes Gesicht. Sie trug ein rotes Tuch in der Hand. Er bot ihr Obstsaft an. "In wenigen Tagen sind wir in Johannesburg. Hast du schon Pläne, was du dann tust?"

"Ich habe telefoniert. Die Lage scheint sich zu entspannen."

"Will man dich nicht als Nachfolger für deinen Chef?"

"Die beiden Container, die beschlagnahmt wurden, einer in Durban - als wir dort waren, deshalb bin ich auch nicht zum Hafen gefahren, der andere in Gaborone, sind wieder frei gegeben. Man hatte mir geraten, bis dahin den Kopf ganz tief zu halten. So gesehen, war es ein Glück für mich, daß mein Chef mich rausgeschmissen hat."

"Er dich?"

"Ja sicher, weil ich nicht alles mitgemacht habe."

"Geschäftlich oder privat?"

"Er hatte völlig den Verstand verloren. Er glaubte, ich müßte ihm dankbar sein, weil er mein Chef war. Dabei war er nur der Mittelsmann für unsere Organisation. Ich mußte ihm immer öfter auf die Finger klopfen. Das konnte nicht lange gut gehen."

Sie faltete den roten Stoff auseinander. Es war ein feiner langer Seidenschal. "Ich will dir dieses Tuch um die Augen binden. OK?"

"Wozu?"

"Ich schäme mich, wenn du mich ansiehst. Ich fühle mich so viel sicherer."

Als sie, viel später, das Tuch von seinen Augen löste, ging die Sonne gerade unter. Der Himmel über der Wüste war rot wie die Seide.

Beim Hinuntergehen zum Abendessen bemerkten sie, daß sich am rechten Hinterrad des BMW eine Pfütze gebildet hatte. Arnold nahm sich vor, das im Auge zu behalten. Das Protea selbst hatte kein Restaurant, aber zum Gebäudekomplex gehörte die Gaststätte "Totem Creek". Sie war Teil einer landesweiten Restaurant-Kette, bot aber keine Fast Food an, sondern Qualitätsgerichte. Sie bekamen eine Tellerkombination von Rinderfilet und Tintenfisch, die beide sehr zart waren. Als sie wieder in den Hotelhof traten, hatte sich die Pfütze unter ihrem Auto stark ausgeweitet. Arnold rieb mit dem Finger über die Flüssigkeit. Es war Benzin. Nicht auszudenken, was eine weggeworfene Zigarette anrichten könnte. Er sagte Meilan Gutenacht und schickte sie auf ihr Zimmer, um sie in Sicherheit zu wissen. Dann setzte er sich in den Wagen, löste die Handbremse und ließ den BMW ganz behutsam zurückrollen. Hinter dem Hotel gab es einen völlig ebenen Parkplatz am Ufer des Oranjeflusses. Sein Wasser floß trübgelb dahin. Notfalls konnte die Feuerwehr sich hier mit Löschwasser eindecken.

Die starke Zufriedenheit, die ihn während des Abendessens erfüllt hatte, ließ nach, als er in sein Zimmer zurückkehrte, das sie beim Weggehen nicht aufgeräumt hatten. Wieder ein langer Abend ohne sie. Das war nicht die Art von Beziehung, in der er mit einer Frau leben wollte.

Als Arnold am nächsten Morgen nach dem Wagen schaute, blieb sein Herz fast stehen. Der BMW stand in einer riesigen Pfütze. Dann sah er, daß jemand auf der Wiese neben dem Parkplatz einen Sprinkler in Gang gesetzt hatte. Aus seinem Tank war nichts mehr ausgelaufen. Das hatte gestern Abend nur an der Neigung des Parkplatzes gelegen. Dabei war der Tank nicht einmal ganz voll gewesen. In Berchtesgaden hatte er seinen Achtzehnhunderter oft auf weit abschüssigeren Flächen abgestellt, ohne jemals einen Tropfen zu verlieren.

Hinter dem Ortsausgang ließ er Meilan wieder ans Steuer. Sie kamen durch die östlichen Ausläufer der Kalahari. Geschwungene Sanddünen, deren Farbe ein einheitliches Orange war, tauchten die Erde in ein unnatürliches Licht, wie zu Beginn einer Sonnenfinsternis. Meilan hielt unter einem Kameldornbaum, um zu hören, ob es hier Singvögel gab, aber das einzige Geräusch, das in der Stille zischte, war das schrille Zirpen unsichtbarer Insekten. Am Nachmittag fuhren sie durch die grünen Weiden von Stellaland. Schwarze Cowboys ritten elegant auf sattellosen Pferden.

"Wo bleiben wir heute Nacht?" Arnold hatte eine Werbebroschüre der Protea-Hotelgruppe bei sich, auf der alle südafrikanischen Häuser verzeichnet waren. "Kennst du Mafikeng? Es liegt an der Straße nach Gaborone."

"Mafikeng ist die alte Hauptstadt von Betschuanaland, bevor es selbständig wurde. Jetzt ist das Gaborone. Mafikeng bildet eine Doppelstadt mit Mmabatho, dem Regierungssitz des Homelands Bophuthatswana. Dort war ich schon ein paar Mal. Sie haben ein sehr gutes Hotel, mit einem Spielkasino, Swimmingpool, Kino und riesigen Zimmern. Da sollten wir hin."

"In einem Homeland leben hauptsächlich Schwarze."

"Das merkst du nicht so. Sie haben das Spielkasino speziell für internationale Gäste gebaut."

Hinter dem Ortsschild Mmabatho übernahm er das Steuer. Die Stadt hatte ein Janusgesicht. Ein Drahtgitterzaun isolierte die ärmlichen Häuser der ortsansässigen Schwarzen. An einem Prunkboulevard erhoben sich die unbenutzt wirkenden Regierungspaläste.

"In diesem Haus," Meilan wies auf ein modernes Verwaltungsgebäude, "habe ich meinen Trauschein bekommen. Und die Aufenthaltsgenehmigung."

"Was suchen wir hier?" fragte Arnold. "Deinen Mann?"

"Das Kasino-Hotel."

Über einem Einkaufszentrum flackerte die auch bei Tage lesbare Leuchtschrift "Mega-City". Nur die Hälfte der Geschäfte war vermietet. Vor dem Eingang hatten fliegende Händler ihre Waren auf Tüchern ausgelegt.

"Jetzt weiß ich es," sagte sie. "Du mußt hier abbiegen."

Es war die Straße nach Mafikeng. Das Kasino lag nicht daran.

In der Altstadt von Mafikeng sah er das Hinweis-Schild "Protea-Hotel". Es war direkt am Bahnhof. Ein einfaches Haus, das nicht zur Protea-Kette gehörte. Arnold fand einen Parkplatz schräg vor dem Eingang.

"Wollen wir nicht noch weiter suchen?" fragte Meilan.

"Für heute reicht es." Arnold haßte Spielkasinos. Er wünschte sich ein Bier, eine Dusche und ein bescheidenes Essen.

Die Schwarze, die hinter der Rezeption saß, mochte in Meilans Alter sein und trug ein geschickt aufgetragenes Makeup. Ihr Gesicht nahm einen ablehnenden Ausdruck an, als sie Arnolds Begleiterin sah. Sie schob ihm den Anmeldezettel hin.

"Wir haben ein Doppelzimmer mit Bad. Sie können gleich bezahlen."

Das Zimmer war klein und renovierungsbedürftig. Dafür war das Bad gut ausgestattet. Es enthielt sogar ein Bidet.

Meilan war unzufrieden. "Das andere Hotel ist viel besser. Du hast es nur nicht gefunden. Es hat eine eigene Sitzgruppe und zwei Doppelbetten im Zimmer. Mein Chef hat immer dort übernachtet, wenn wir in Gaborone zu tun hatten."

"Hast du mit ihm ein Zimmer geteilt?"

"Mein Gott, es war dienstlich."

"Hast du ein Foto von ihm?"

"Ich denke schon." Sie ging zu ihrem Koffer und holte einen dicken Packen Erinnerungsfotos hervor, aus dem sie ein paar Bilder herauszog und aufs Bett legte. Der "Chef" war ein junger Mann, sehr gut aussehend, mit einem selbstgefälligen Zug um Augen und Mund. Das auffälligste an ihm war seine gleichmäßig fette Haut. Er wirkte wie jemand, der niemals Not gelitten hatte. Sein Aussehen erinnerte Arnold an das gewinnend lächelnde Gesicht eines Auslandschinesen in Indonesien, der zu den größten Wirtschaftskriminellen der Gegenwart gehörte. "Xiao you dao," hatte ein chinesischer Lyriker vor zwölfhundert Jahren gedichtet: "In seinem Lächeln steckt ein Messer."

"Ein sympathischer Mann," sagte Arnold vorsichtig. "Er liebte das gute Essen."

"Das ist wahr. Ich habe oft für ihn Chinesisch kochen müssen. Er war ganz begeistert. Sonst konnte er nicht viel. Er wußte nicht, was man in ein Fax schreibt, er wußte nicht, wie man eine e-Mail aufgibt. Alles mußte ich für ihn erledigen."

Arnold griff ein weiteres Foto auf, das den Chef und Meilan mit zwei jungen Männern in einem afrikanisch dekorierten Restaurant beim Essen zeigte. Das unten eingeblendete Datum war der 31.August.

"Ist das in Gaborone?" fragte er.

"Sieht so aus."

"Wer sind die beiden anderen?"

"Geschäftsfreunde," erwiderte Meilan und steckte das Foto weg. Arnold hatte sich das Bild genau angeschaut. Die zwei jungen Kerle waren niemals Kaufleute. Sie konnten Gangster, Geheimdienstler oder Kommandos sein. Sie blickten zufrieden in die Kamera.

"Machst du den Fernseher an?" bat Meilan. "Vielleicht zeigen sie einen Spielfilm."

Das Gerät befand sich auf einem Brett an der Wand. Es war schwarz-weiß und Arnold konnte nur ein einziges Programm hereinschalten. Sie brachten gerade Regional-Nachrichten. Ein Sprecher des Verteidigungsministeriums von Namibia gab bekannt, die Ursache für den Absturz der zwei Mig-Maschinen über dem Caprivi-Zipfel sei aufgeklärt. Die Kampfflugzeuge seinen durch Boden-Luft-Raketen der Rebellen von Katima Mulilo abgeschossen worden. Über Bauart und mögliche Herkunft der Raketen äußerte ein Experte...

Das Bild rollte weg, und der Ton zerflatterte.

"Stell das wieder ein," sagte Meilan, "das will ich hören." Aber die Zeilen rollten weiter und weiter, ohne die Kontur eines Bildes anzunehmen.

"Sag an der Rezeption, sie sollen uns ein Ersatzgerät geben."

Arnold ging hinunter, aber die mürrische Wirtin erklärte, heute Abend könne sie nichts mehr unternehmen. Als er zurückkam, hatte Meilan das Fenster geöffnet.

"Ich halte es hier nicht aus. Das Zimmer ist zu klein. Können wir nicht ein zweites mieten? Vielleicht funktioniert dort das Fernsehen."

Arnold stieg wieder die Treppe nach unten. Ein kleines Zimmer war noch frei, aber das Anmeldeformular mußte von seiner Mitreisenden ausgefüllt werden.

"Sie behält das jetzige Zimmer. Ich nehme das neue. Dann kann ich auch die zweite Anmeldung unterschreiben."

"Das ist gegen die Vorschriften."

Meilan war nicht bereit, einen Meldezettel auszufüllen. "Ich laß mich nicht schikanieren," sagte sie. "Dieses Zimmer ist groß genug für uns beide. Wir brauchen kein zweites. Laß uns Essen gehen."

Das Hotel hatte eine Speisebar, in der ein Koch agierte, der eine witzige Mimik besaß. Arnold fand ihn sofort sympathisch, und sie winkten sich ein paar Mal zu. Als Arnold bezahlte, rief der Koch ihn noch näher heran. "Hey man," flüsterte er, Meilan nachblickend, die schon in der Tür stand, "some guys have all the luck."

"Don't bet on it," erwiderte Arnold.

In der Halle saßen mehrere junge Negerinnen in Korbstühlen, jede ein Stück von der anderen entfernt, wie im Wartezimmer eines Zahnarztes. Der Behandlung, die ihnen bevorstand, schienen sie mit Gleichmut entgegenzusehen.

Meilan prüfte alle Möglichkeiten, ihre Zimmertür von innen zu verschließen und zu verriegeln.

"Ich gehe als erste ins Bad," rief sie, "Ich bin todmüde. Wieviel Kilometer bin ich heute gefahren?"

"Über fünfhundert. Ich gratuliere."

"Morgen werden es weniger. Wir fahren nach Sun City. Dort gibt es auch Kasinos."

"Hast du Geld zum Spielen?" fragte er.

"Vielleicht leihst du mir etwas."

"Hast du keine bessere Geschäftsidee?"

Trotz ihrer Müdigkeit schlief Meilan nicht gleich ein. Sie zog das Laken unters Kinn und grübelte, ohne sich auf ein Gespräch einzulassen.

"Hast du genug Platz?" fragte er.

"Ja."

"Weißt du noch, daß du mich heiraten wolltest?"

"Das war ein Irrtum."

Arnold ging ins Badezimmer, wo er noch einen Rest KWV-Brandy stehen hatte und goß ihn in sein Zahnputzglas. Seine Reise mit Meilan war kein Irrtum gewesen. Er hatte sie unendlich genossen. Aber die Reise war zu Ende. Als er den Becher mit der rechten Hand an den Mund führte, sah er im fleckigen Spiegel einen Mann, der das gleiche Glas in der Linken hielt. Der Mann sah ziemlich gut aus. Es gab keinen Grund, ihn abzulehnen. Sie tranken beide einen Schluck und schütteten den Rest ins Waschbecken. Eine Reise von tausend Meilen beginnt mit einem Schritt. Von Johannesburg bis Mafikeng hatten sie achttausend chinesische Meilen hinter sich gebracht, fast viertausendfünfhundert Kilometer. Sehr weit waren sie nicht gekommen. Nicht weit genug. Nicht nah genug.

 

SECHZEHNTES KAPITEL

 

Beim gemeinsamen Frühstück hatte Meilan immer noch so schlechte Laune, daß sie selbst die Worte Ja und Nein nur mit Mühe herausbrachte. Die Spiegeleier waren die frischesten der ganzen Reise, und der Filterkaffee glättete Arterien.

"Ich verstehe, daß du nach Sun City fahren möchtest, dem Las Vegas Südafrikas," sagte Arnold. "Das liegt an der Straße von Durban nach Gaborone. Hast du dort mit deinen Container-Transporten Halt gemacht?"

Sie hob den Blick, ließ aber kein Wort durch ihre Lippen.

"Es ist möglich, sein Glück im Spielkasino zu finden. Ich habe mein Glück auf der Straße nach Mafikeng gesucht. Aber man findet es nur als doppeltes Glück, als Glück für zwei. Das ist uns nicht gelungen."

"Du willst also nicht nach Sun City," folgerte Meilan.

"Es sind dreihundertachtzig Kilometer bis Johannesburg. Ich dachte, wir fahren das heute, wenn es dir recht ist."

"Wir machen, was du willst. Ich könnte zurück in meine Wohnung im Stadtteil Lyndhurst. Das ist geklärt."

"Hast du Lust, heute Abend in Johannesburg für mich Chinesisch zu kochen? Wie für deinen Chef? Zum Abschied?"

"Das wäre zuviel Aufwand. Ich werde mich um andere Dinge kümmern müssen."

Als sie aus dem Hotel hinaustraten, stand der BMW noch auf seinen vier Rädern und nicht, wie Arnold halb befürchtet hatte, auf Ziegelsteinen aufgebockt.

Meilan fuhr die ersten hundertzwanzig Kilometer. Dann wurde der Verkehr sehr dicht, und Arnold übernahm. Als sie in eine Senke kamen, erblickten sie ganz unten eine Art Konzentrationslager mit Wachtürmen, massiven Außenmauern und einem Krematoriumsturm in der Mitte. Männer mit Gewehren im Anschlag traten vor ein Stahltor, um einen gepanzerten Transporter ausfahren zu lassen. Jetzt sah Arnold, daß die Krematoriums-Esse in Wahrheit ein Förderturm war. Es handelte sich um ein Goldbergwerk, nicht ein Vernichtungslager, aber die düstere Ähnlichkeit ließ ihn lange frösteln. Auch Meilan wirkte beklommen.

Nach Arnolds Stadtplan mußten sie in Johannesburg als erstes den Flughafen erreichen, und er folgte der Beschilderung, aber die Strecke zog sich endlos hin. Als sie am Flughafen ankamen, fuhr Arnold direkt zur Abflugebene, hielt im Parkverbot und bat Meilan, bis zu seiner Rückkehr im Wagen sitzen zu bleiben, damit er keinen Strafzettel bekam.

Am Schalter von Air Namibia buchte er einen Flug nach Windhoek für morgen Nachmittag, 16 Uhr 45. Ein Sticker mit den neuen Zeiten wurde in seinen Flugschein geklebt. Als er aus der Halle hinaustrat, stand ein Polizist vor dem BMW und schrieb die Nummer auf einen Block.

"Entschuldigung," sagte Arnold, "ich parke nicht. Meine Frau wollte im Wagen sitzen bleiben.

"Ich sehe nichts," sagte der Polizist. "Der Wagen ist abgeschlossen."

"Lassen Sie mich den Strafschein gleich bezahlen. In bar."

"Der Computer kann das nicht verrechnen. Wir schicken Ihnen die Zahlungsaufforderung zu."

"Der BMW gehört mir nicht. Es ist ein Mietwagen. Ich gebe ihn morgen an die Verleihfirma zurück und verlasse das Land."

"So einen Fall hatten wir noch nie. Ich werde mich erkundigen."

Als der Polizist ging, trat Meilan hinter einer Säule hervor. "Ich habe dir gesagt, du sollst im Wagen sitzen bleiben, bis ich wiederkomme," sagte Arnold böse. "Jetzt haben wir einen Strafzettel."

"Ich mußte mal. Das läßt sich nicht verhindern." Sie schloß die Beifahrertür auf und öffnete für Arnold von innen.

"Was machst du nun?" fragte sie.

"Ich fliege morgen Nachmittag um diese Zeit zurück."

"Dann hast du noch vierundzwanzig Stunden hier. Am besten fahren wir als erstes zu deinem Hotel und nehmen ein Zimmer für dich. Dann besuchen wir das Shoppingcenter Rosebank Mall, wo wir unsere Filme entwickeln und vergrößern lassen. Anschließend bringst du mich mit meinem Gepäck in meine Wohnung und bist dann ein freier Mann. OK?"

Das klang nach schneller Abwicklung, aber ganz so rasch ging es dann doch nicht, weil Meilan überhaupt kein räumliches Orientierungsvermögen besaß, wie sich schon in Mafikeng gezeigt hatte. Als Arnold auf der Suche nach seinem alten Hotel "Protea Inn" zum zweiten Mal durch dieselbe Allee fuhr, wurde er am Stadtplan von Johannesburg irre, den er bei Gleumes am Ring gekauft hatte. Er verglich Straßennamen und Himmelsrichtungen, bis er dahinter kam, daß auf diesem Plan der Süden oben auf der Karte stand, und der Norden unten. Eine geographische Spielerei, die ihn viel unnütze Fahrerei gekostet hatte. Sobald er den Stadtplan verkehrt herum aufs Armaturenbrett legte, konnte er sich wunderbar orientieren. Im "Protea-Inn" bekam er wieder ein Zimmer mit einem Zwei-Meter-Bett. Meilan wartete im Auto, während er sich anmeldete. Das nahegelegene Rosebank Mall war ein gewaltiges Shopping Center in aufgelockerter Bauweise mit sonnendurchfluteten Innenhöfen, etwa doppelt so groß wie das Einkaufszentrum in Chorweiler. Sie erfuhren, daß sie ihre Abzüge morgen Mittag abholen konnten. Meilan wollte noch Kaffee und Cremetorte auf der Dachterrasse. Es war ihr erstes Essen seit dem Frühstück. Dann brachte Arnold sie auf ihren Mini-Landsitz.

Als Meilan vor ihrem kleinen Satteldach-Bungalow ausstieg, kam wieder ein riesiger Schäferhund schwanzwedelnd auf sie zugerast, sprang an ihr hoch und leckte ihr mit seiner breiten Zunge über das Gesicht. Sie schien die Begrüßung gewohnt, denn sie klopfte ihm leicht auf den Hals, und er ließ von ihr ab. Dafür stürzte er sich auf Arnold, der inzwischen ausgestiegen war, und schnupperte an seiner Hose. Ihm wurde dabei etwas bange.

"Hör auf, hör auf," rief er dem Hund zu, "das brauche ich alles noch, das mußt du doch verstehen. Du bist selber ein Mann."

Der Hund jaulte und ließ sich auf die Hinterläufe nieder.

"Wie ist das möglich," fragte Meilan, die stehen geblieben war und ihnen zugeschaut hatte, ohne Arnold zu Hilfe zu kommen, "du sprichst Deutsch mit ihm, und er versteht dich."

"Das ist ein deutscher Schäferhund," erklärte Arnold ernsthaft, "selbstverständlich versteht er Deutsch."

"Er ist in Südafrika aufgewachsen," sagte sie zweifelnd.

"Er hat es in den Genen," behauptete Arnold fest. Es amüsierte ihn, daß diese musikbegabte Frau nicht mitbekommen hatte, daß er mit dem Hund über die Klangfarbe seiner Stimme kommuniziert hatte. Tierliebe war in China nicht sehr verbreitet. Er trug den grünen Koffer ins Haus und stellte fest, daß ihr breites Bett verschwunden war. Er bot ihr an, bei ihm im Hotel zu schlafen.

"Ich schlafe gerne auf dem Fußboden, wenn es nötig ist. Mir macht das nichts aus." Ihre Augen blitzten vor Ärger. Es war das erste Mal, daß sie sich anmerken ließ, wie wenig ihr dieses Ende der Reise gefiel. Arnold brachte ihr noch die Tüte mit den Kassetten und was sonst noch in zwei Reisewochen im Auto abgelegt worden war.

Auf dem Rückweg fuhr er auf den Parkplatz der Rosebank Mall, um in einer Buchhandlung Material über Goldbergwerke zu finden. Es war Südafrikas wichtigster Industriezweig, und er wollte etwas über die Mine herausbekommen, auf die er am Vormittag gestoßen war. In der Mall gab es einen Buchladen, der zu einer Kette gehörte, die auf aktuelle Bestseller und Geschenkwaren spezialisiert war. Über die Goldproduktion hatten sie nicht einen einzigen Titel. Man riet ihm, es in der Finanzcity zu versuchen. Doch die Erinnerung, daß Meilans Chef beim Besuch eines Geldautomaten in der Innenstadt ums Leben gekommen war, ließ sein Interesse schwinden. Wahrscheinlich bekam er das Buch auch am Flughafen.

In der Lobby seines Hotels lagen Tageszeitungen aus, von denen er sich eine mit auf sein Zimmer nahm. Auf Seite 3 sah er die Schlagzeile "Seidenraupen am Sambesi", dazu Fotos eines zerstörten Flugzeuges. Die Untersuchung durch Experten, las er, hätte zweifelsfrei ergeben, daß die über dem Caprivizipfel abgeschossenen MIGs der namibischen Luftwaffe von in China produzierten Boden-Luft-Raketen getroffen worden waren. Die Herkunft dieser im Volksmund als "Seidenraupen" bezeichneten Flugabwehr-Raketen gab den Experten Rätsel auf, da sie  bisher in diesem Teil Afrikas noch nicht aufgetaucht waren.

Arnold ließ die Zeitung sinken. Das Telefon auf seinem Nachttisch hatte eine automatische Durchwahl. Er tippte die Nummer seines Büros ein. Sidney arbeitete noch.

"Hallo Chef. Wo stecken Sie? Auf meinem Display lese ich null null siebenundzwanzig. Welches Land ist das?"

"Ich bin in Südafrika. Ich habe mir gerade eine Goldmine angeschaut. Was macht die Datenbank?"

"Ich komme gut voran."

"Ist Ihnen beim Eingeben schon der Name Poly-Technologies begegnet?"

"Die kennen Sie doch, Chef, die gehören zum militärisch industriellen Komplex".

"Das wird alles ziemlich geheim gehalten."

"Ich mach mal eine Suchwort-Recherche für Sie. Ich habe den Computer noch an. Gleich haben wir es. Also, halten Sie sich fest. Die chinesische Volksbefreiungsarmee besitzt und betreibt fünfzigtausend Produktions- und Dienstleistungsunternehmen mit zwei Millionen Angestellten weltweit. Und nicht nur zum Stiefelputzen. Sie produzieren Autos, Pharmazeutika, betreiben Hotels und Karaoke-Nachtklubs. Die beiden größten Holdings sind Xinxing und China Poly Group. In der Poly Group sind die Auslandsinteressen der Armee zusammengefaßt. Sie hat zwei börsennotierte Tochtergesellschaften in Hongkong, "Continental Mariner" und "Poly Investments". "Continental Mariner" könnte eine Reederei oder Schiffahrtslinie sein. Werden die jetzt auch in Südafrika aktiv, oder weshalb fragen Sie?"

"Ich glaube, sie drängen ins Waffengeschäft."

"Das würde passen. Soll unser Haus das etwa finanzieren? Da muß ich protestieren."

"Keine Sorge. Und vielen Dank."

Er sprang auf. Sein erster Impuls war, das Auto zu nehmen und zu Meilan hinauszufahren, um sie zur Rede zu stellen. Sein Herz klopfte heftig. Sie schmuggelte nicht nur Textilien. Sie war auch in Waffenschiebereien verwickelt. Sein zweiter Impuls war, den SPAR-Laden aufzusuchen, um einer Flasche KWV-Brandy und sich selbst auf den Grund zu kommen. Aber was er dort finden würde, war ihm unheimlich. Dritte Möglichkeit: Alles abschalten. Einfach eintauchen in den Lebensrhythmus dieses Erdteils, dieser sich neu formierenden Nation. Davon hatte ihn ja seine Partnerin mit ihrer Rassenphobie abgehalten. Eine Nacht blieb ihm noch, den besten Jazz, den traurigsten Blues und den originellsten lokalen Pop von Johannesburg kennenzulernen. Er ging zum Portier, ließ sich Empfehlungen geben und nahm sicherheitshalber ein Taxi.

Beim Erwachen hatte er Schädelbrummen, aber unter der Dusche sang er, weil sein Kopf mit Rhythmen vollgestopft war. Mit dem Autoverleiher machte er aus, daß er den Wagen am Flughafen zurückgeben durfte.

Meilan traf er im Fotogeschäft der Rosebank Mall. Sie hatte die Abschnitte, wartete aber darauf, daß er bezahlte. Dann gingen sie in das Restaurant unter der Lichtkuppel, um die Bilder anzuschauen und eine Kleinigkeit zu essen.

"Bestell schon etwas," sagte er zu Meilan. "Ich muß noch schnell auf die Bank." Er wollte ihr Überbrückungsgeld dalassen. So enttäuscht er sich auch fühlte, sie war die Frau, der er den ersten Platz in seinem Leben angeboten hatte. Im zweiten Stock des Shopping Centers gab es eine Bankfiliale, die ihn das Formular für eine Bargeldauszahlung auf Kreditkarte ausfüllen ließ, ihm dann aber nichts geben wollte.

"Bitte holen Sie Ihren Vorgesetzten. Das ist wichtig. Ich bin selber Bankangestellter." Er überreichte seine Visitenkarte.

Es dauerte mehrere Minuten, bis der Filialleiter kam, ein älterer Mann mit einem gebräunten, faltenreichen Gesicht. Er reichte Arnold die Hand.

"Herr Feldmann, ich habe Ihre Unterlagen durchgesehen. Sie wollen eine Cash Advance über Eurocard/Mastercard. Alle Anfragen werden in der Mastercard Zentrale in den USA bearbeitet. Von dort erfahre ich, daß sie heute schon eine Mietwagenrechnung von über tausend Dollar per Kreditkarte bezahlt haben. Damit ist ihr heutiges Limit erschöpft."

"Ich habe eine Mastercard Gold, für die ich eine höhere Mitgliedsgebühr bezahle, damit es keine Cashprobleme gibt."

"Ich weiß, daß die Dinge in Europa anders gehandhabt werden, aber wir arbeiten mit der amerikanischen Zentrale zusammen, die allen ihren Kunden ein Limit von fünfhundert Dollar am Tag setzt."

"Was für einen Weg schlagen Sie vor, direkt von meiner Bank in Köln Bargeld abzurufen?"

"Erlauben Sie mir eine persönliche Bemerkung," sagte der Bankier. "In den letzten zwanzig, dreißig Jahren haben deutsche Firmen einen sogenannten Wirtschaftsboykott gegen unser Land verfolgt, der uns Unannehmlichkeiten bereitet hat, der schwarzen Bevölkerung mehr als der weißen. Und auf der Liste der deutschen Unternehmen, die diesen sogenannten Boykott unterstützt haben, stand der Name Ihrer Bank immer ganz oben."

"Ich bin Ostasien-Spezialist. Ich habe mich nie mit Südafrika beschäftigt. Ich mache hier Urlaub."

"Ich erzähle Ihnen das, damit Sie verstehen, weshalb es zur Zeit keine normal entwickelten Beziehungen zwischen Ihren Bankhäusern und unseren gibt. Haben Sie keine anderen Kreditkarten?"

"Diners Club."

"Damit arbeiten wir nicht. Wir sind nur eine Shopping Mall hier. Geschäfte mit Kleinkunden."

"Danke," sagte Arnold.

Die Umstände waren gegen sie.

Meilan hatte inzwischen die Fotos sortiert. Sie schob sie zusammen mit den Negativen in ihre Handtasche, als sie ihn an ihren Tisch treten sah.

"Es tut mir leid," sagte er, "man gibt mir kein Geld für dich."

"Ich habe nicht damit gerechnet," sagte sie gleichmütig.

Er legte das Bargeld, das er in seiner Brieftasche hatte, auf den Tisch. Es waren ein paar hundert Rand. Er zog einen Hunderter heraus.

"Das brauche ich für die Flughafengebühr. Das andere ist für dich."

"Danke. Ich werde es brauchen." Sie faltete die Scheine zusammen.

"Ich kann dir Geld aus Deutschland schicken."

"Nicht nötig. Fliegst du wirklich über Windhoek zurück?"

"Ja natürlich."

"Du mußt wissen, was du tust. Ich habe inzwischen die Fotos sortiert." Sie schob ihm zwei Abzüge hin.

"Hier, das sind die einzigen Aufnahmen, auf denen du drauf bist."

"Ich will auch Bilder von dir."

"Die brauche ich selber. Für meine Zukunft."

"Dann gib mir die Negative."

"Die brauch ich für weitere Abzüge. Ich schicke sie dir später zu."

Er hatte den Impuls, ihr die Handtasche zu entreißen und die Negative an sich zu nehmen. Jedes Foto hatte er einzeln komponiert, als Erinnerungsstück für später, mit ihr nur als Dekor in einer grandiosen Landschaft. Diese Bilder waren sein geistiges Eigentum. Er atmete tief durch. Sie richtete ihren strahlendsten Blick auf ihn, und seine Wut löste sich auf, wie Schaum auf den Wellen. Sie hatte immer noch diese Macht über ihn.

"Verrat mir eins," bat er sie, "als wir uns das erste Mal sahen, auf der Treppe vor dem Zollamt - weshalb hast du mich angesprochen?"

"Weil du ein Fremder warst, ein Gast in China, weil du wie ein Mensch aussahst, der Hilfe braucht."

"War Wehrmeyer nicht auch ein Gast in China?"

"Wovon sprichst du?"

"Der deutsche Beamte, mit dem ich im Zollamt verabredet war. Er wollte mich darüber informieren, daß ihr Raketen an die Widerstandsbewegung in Deutsch Südwestafrika liefert ."

"Ich kenne diesen Mann nicht."

"Warum starb Wehrmeyer in dem Augenblick, als du mich ansprachst?"

"Du bist verrückt. So arbeiten wir nicht. Das ist nicht unser Stil."

"Seit wann weißt du von der Raketenlieferung?"

"Ich importiere Textilien."

"Die beiden jungen Männern auf dem Foto  vom 31. August in Gaborone waren Mitarbeiter von China Poly. Sie haben deinen Container zum Waffentransport benutzt."

"Damit hatte ich nichts zu tun. Sie haben ihn aufgemacht, als ich mit meinem Chef zum Essen war. Ich habe nie wieder etwas von ihnen gesehen. Die Textilien, die im Container waren, habe ich in Gaborone weiterverarbeitet wie immer."

"Und deine Geschäftsfreunde haben ihre Lieferung auf dem Straßenwege durch Betschuanaland zum Caprivizipfel im Nordosten Namibias gebracht."

"Das war ihr Geschäft, nicht meins."

"Ohne dich hätten sie nicht liefern können. Deshalb mußtest du meinen Besuch im August so plötzlich absagen. Wußte dein Chef aus Taiwan Bescheid?"

"Ohne den lief nichts."

"Glaubst du wirklich, daß er rein zufällig das Opfer eines Überfalls am Geldautomaten geworden ist?"

"Johannesburg steckt voller Verbrecher. Wegen ein paar Rand schrecken sie vor nichts zurück."

"Dieses Land ist berühmt für seine Verbrecher in Uniform. Ich meine jetzt Südafrika zur Zeit der Apartheid. Und Deutsch-Südwestafrika, das heutige Namibia, ist gleich nach dem Ersten Weltkrieg unter südafrikanische Verwaltung gestellt worden. Seitdem arbeiten die Geheimdienste beider Länder eng zusammen. Bis auf den heutigen Tag."

"Unter Mandela ändert sich das."

"Das einzige, was sich ändert, ist, daß die Zusammenarbeit der schwarzen Führungskräfte in beiden Diensten enger wird. Die Rebellen im Caprivizipfel bekämpfen die schwarze Regierung in Namibia. Ihr seid mit euren Raketenlieferungen in ein Schlangennest gesprungen."

"Gegen mich haben sie keinen Verdacht. Das weiß ich hundertprozentig. Die beschlagnahmten Container sind wieder freigegeben. Es war nichts drin, außer Textilien. Du bist der einzige, der sich zuviel Gedanken macht."

"Weil ich mir Sorgen mache, daß du dich mit den falschen Leuten einläßt."

"Du willst ein China-Kenner sein, aber in Wirklichkeit weißt du gar nichts. Du siehst alles in veralteten Schwarz-Weiß-Gegensätzen. Du glaubst, die Guten, das sind die Zollbeamten, die Bösen die Schmuggler aus der Armee. Du weißt nicht, wie bürokratisch der chinesische Zoll arbeitet. Alles bleibt Monate liegen, selbst wenn man Beziehungen hat. Es sind die unbürokratischen Strukturen der Armee und der Marine, die das schnelle Wachstum der chinesischen Wirtschaft erst ermöglichen, weil sie alles durch ihre eigenen Kanäle befördern. Ohne die wirtschaftliche Initiative der Armee würde unser Wachstum nicht bei bis zehn Prozent im Jahr liegen, sondern bei zwei oder anderthalb. Das wird immer übersehen. Vergiß nicht, daß ich als Kind fast verhungert bin. Wir brauchen Wachstum, Wachstum, Wachstum. Und das bekommen wir durch die Allianz von Kapital und Armee. Die Jungens von China Poly sind in Ordnung."

"Es ist ein Unterschied, ob du mit Seidentüchern Umsatz machst oder mit Raketen. Waffenschmuggel ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit."

"Du hast recht. Das ist nicht gut gelaufen." Sie sagte es glatt dahin, ohne einen Ton des Bedauerns in der Stimme.

"Was war mit Wehrmeyer, dem deutschen Zollbeamten?"

"Er war dein Freund, nicht wahr? Ich habe von ihm gehört. Er hat sich über die Bürokratie, über den Schlendrian im chinesischen Zoll halb totgeärgert. Kann sein, daß er deshalb einen Herzinfarkt bekommen hat. Eine andere Ursache sehe ich nicht. Wir behandeln unsere Gäste mit Respekt."

Sie hatte ihre Rede beendet. Ihm fehlten die Worte, auf diesen Ausbruch zu reagieren. Sie hatte sich so hineingesteigert, sich im Recht zu fühlen, daß er verstummte. Er war nicht ihr Ankläger. Er war der Mann, der sich gelobt hatte, sie ein Leben lang zu lieben. Für ein paar Tage hatten sie das intensivste Glück gefunden, das Menschen teilen können, aber dann hatte es - ihm war nicht klar, wieso - angefangen zu bröckeln, bis zu diesem Showdown. Wenn alle Chinesen so dachten wie sie, würde ein in der Welt erfolgreiches China ein schwieriger Partner werden.

Sie richtete sich auf, und die Bewegung ließ ihre Brüste herausfordernd schwingen. "Ich habe für uns zwei Filetsteaks bestellt. Sie müssen gleich fertig sein."

"Dafür reicht die Zeit nicht. Ich muß zum Flughafen."

"Ich habe einen Riesenhunger. Ich habe heute noch nichts gegessen." Ihre Zungenspitze kam spielerisch zum Vorschein.

"Du mußt allein essen, wenn dir das wichtiger ist."

"Ich esse beide Portionen, wenn du wirklich weg mußt."

Fassungslos - aber auch etwas erleichtert - registrierte er, daß ihr das wichtiger war als die in China so gepflegte Formalität des Abschiedsgeleites. Eine Trennung wie ein Messerschnitt.

Er beugte sich dennoch vor, um ihr einen Abschiedskuß zu geben. Sie hob ihm den Mund entgegen. Mit der Handfläche klopfte sie leicht auf seinen linken Oberarm.

"Mach dir um mich keine Sorgen," flüsterte sie.

Sie blieb sitzen und blickte ihm nicht nach, als er zum Parkplatz ging. Er wollte ihr noch etwas zurufen, aber er wußte nicht, was.

Der Verkehr auf der Flughafenautobahn war chaotisch. Er wurde rechts und links überholt, fühlte sich von einer Wolfsmeute gejagt und verfluchte die Trägheit des Sechzehnhunderter Motors, der keinen Biß hatte. Das lag auch an der Automatik. Bald würde er zuhause wieder seinen Achtzehnhunderter mit der rechten Hand in den zweiten Gang schalten und die Kraft spüren, die er so lange vermißt hatte.

Als er am Check-in-Schalter das braune Namensschild der Air Namibia leuchten sah, verspürte er plötzlich eine lähmende Angst. Er war zwei Wochen mit einer Frau zusammengewesen, die Waffen für die Rebellen transportiert hatte. Er sah, daß es in zwei Stunden einen Nonstopflug der South African Airways von Johannesburg nach Amsterdam gab. Von dort kam er im Handumdrehen nach Köln. Andererseits hatte er in Windhoek, wenn er nicht in die Namib-Wüste wollte, nur fünfundsiebzig Minuten Aufenthalt bis zum Weiterflug nach Frankfurt, und seine Papiere wurden nicht überprüft. Wie sollte er sich entscheiden? Die Reise hatte genug Geld gekostet. Er überreichte der Bodenhosteß sein Ticket und sagte: "Ich checke durch bis Frankfurt."

Sie gab seinen Code in den Computer ein. "Sie haben keine Reservierung für den Weiterflug nach Frankfurt. Aber Sie haben Glück. Es sind noch Plätze frei. Ich buche Sie ein." Sie lächelte ihn an, als wäre er ein Mann, dem sie gerne einen Gefallen erwiese.

In der Abflughalle, vor dem Durchgang zur Paßkontrolle, sah er einen Geldautomaten der Diner's Club Karten annahm. Er hätte jetzt für Meilan zweitausend Rand ziehen können, wenn sie nicht die Filetsteaks dem Abschiednehmen vorgezogen hätte.

Der harte Plastiksitz im Warteraum am Gate erinnerte ihn an den Flughafen in Guilin. Dort hatte er durch die Scheibe geschaut und Meilan in ihrem brokatroten Seidenrock die Metalltreppe zu ihrer Maschine nach Tschungking hinaufsteigen sehen. Sie hatte sich nicht umgedreht, um ihm zuzuwinken, sondern die wartende Stewardeß mit einem Scherzwort begrüßt.

Was immer diese risikofreudige, umtriebige Frau als nächstes unternehmen würde, es betraf ihn nicht, er hatte es nicht mit zu verantworten. Es kam ihm nicht in den Sinn, sie wegen ihrer Unbesorgtheit zu verurteilen. Sie hatte erst in China und jetzt in Südafrika ein Glühen in sein Leben gebracht, das auch nach dem Ende der Straße nach Mafikeng in ihm weiter leuchten würde.

 

 SIEBZEHNTES KAPITEL

 

"Wir hatten Sie nicht so früh zurück erwartet," sagte Paul überrascht, "aber es ist gut, daß Sie schon da sind. Wir haben Probleme mit den Technikern. Angeblich kann der Server dieses Jahr nicht mehr aufgestellt werden. Sagen Sie ihnen, sie sollen auf einem vorhandenen für uns Platz freischaufeln. Von mir nehmen sie das nicht an."

Am schwarzen Brett las er, daß die Stelle des Persönlichen Assistenten des Vorstands zum 1.Januar zur Neubesetzung ausgeschrieben war. Er rief Cornelia in ihrem Büro an, um sie darauf anzusprechen.

"Das erzähl ich dir unter vier Augen. Komm rauf."

Cornelia hatte schreckliche Angst, daß alle Telefongespräche in der Bank mitgeschnitten und selektiv abgehört wurden, allein schon um Beweismaterial in finanziellen Streitfällen zu haben. Aber Belege dafür hatte sie nie gefunden, obwohl jemand in einer Position wie der ihren eigentlich darüber informiert sein müßte.

Sie hatte schon eine Flasche Champagner auf dem Schreibtisch, auf der sich Kondensationstropfen bildeten. Es gelang ihm, den Korken so herauszudrehen, daß die Flasche leise seufzte.

"Es ist noch zu früh zum gratulieren, aber es ist fünfundneunzig Prozent sicher. Ich bekomme zum 1.Januar die neu geschaffene Stelle als Leiterin der Abteilung Strategische Planung."

"Das ist großartig. Du hast es geschafft. Ich glaube, für diese Position habe ich keine Ausschreibung am Schwarzen Brett gesehen."

"Die Stelle ist außertariflich."

"Dann bekommst du ein höheres Gehalt als ich."

"Hoffentlich."

"Wie lange läuft dein Vertrag?"

"Vier Jahre sind vorgesehen. Das ist das Optimum. Laß uns anstoßen."

Die gefüllten Gläser gaben nur einen matten Klang von sich.

"Weißt du noch," fragte sie, "was wir alles für Pläne besprochen haben? Das meiste wird laufen. Derivate. Wagniskapital. Marketmaker für ausländische Aktien. Wir werden auch Investmentsfonds auflegen. Das heißt, die Bank wird ein schwerer Brocken. Unverdaulich."

In ihrer Art, Freude zu äußern, lag so viel Vertrauen und Intimität, daß ihm sein Afrika-Urlaub wie eine endlose Irrfahrt erschien.

 

ACHTZEHNTES KAPITEL

 

In der Wirtschaftsabteilung der größten Buchhandlung am Neumarkt entdeckte Arnold ein sechshundert Seiten starkes Buch über südafrikanische Goldminenaktien. In Johannesburg hatte er vergeblich danach gesucht. Das ganze Wochenende notierte er auf fliegenden Zetteln die Lebenserwartung der verschiedenen Minen, den Goldgehalt des Erzes, die zukünftige Entwicklung des Goldpreises und die Korrelation all dieser Daten. Schließlich war es der Klang des Namens, der ihn bewog, die im Münchner Freiverkehr gehandelten Aktien der Minengesellschaft Hartebeestfountain zu ordern. Der "Brunnen der scheuen Gazelle", so übersetzte er diesen Namen für sich, ein passendes Andenken an seine Reise.

Sidney arbeitete jetzt einen dreiviertel Tag. Ihr Doktorvater und sein Koreferent hatten ihre Dissertation noch nicht zu Ende durchgelesen. Abends nach der Arbeit kam sie oft noch in Arnolds Büro, um sich mit ihm über China zu unterhalten. Sie war so schlank und grazil, daß Arnold die Vorstellungen hatte, ihr Rückgrat müsse mehr Wirbel enthalten als das anderer Frauen. Sie schlug ihm vor, für ihn chinesisch zu kochen - was Meilan abgelehnt hatte. Er fühlte sich in die Enge gedrängt, und obwohl es ihn gereizt hätte, ihre Wirbel zu zählen, sagte ihm eine innere Stimme, daß sie in ihm nur einen Fürsprecher für ihre Festanstellung suchte. Um sich abzugrenzen, brachte er Sidney seine Fotos aus Guilin mit. Sie erkannte die Landschaft im Hintergrund, denn sie hatte als Reiseleiterin in China gejobbt, aber sie sah auch, daß er ihr die Bilder nicht wegen der Landschaft zeigte.

"Ich könnte mich nie in einen Chinesen verlieben," kommentierte sie. "Chinesen sind unfähig, eine echte Partnerschaft einzugehen. Sie haben zu viele Loyalitäten außerhalb des Ichs und Dus einer Zweierbeziehung. Da kommt ihre Familie, ihre Schulfreunde, das große Geld. Das alles hat Priorität. Ich meine das nicht negativ. Ich liebe China und seine Menschen. Man muß nur wissen, wie sie sind. Man darf nichts Unmögliches von ihnen verlangen."

"Jede Kultur hat ihre Zwänge," erwiderte Arnold. Ihm war nicht klar, ob ihre Ausführungen als Lebensweisheit oder als Eigenwerbung zu verstehen waren.

Die Webseite ging publik, und Paul baute einen Zähler ein, der jeden Kontakt aufzeichnete. Das Ergebnis war beachtlich, und Dr. Nagel überlegte sich  - mit Pauls Unterstützung - sogenannte Links zu anderen Organisationen mit ähnlichen Interessen einzuarbeiten, etwa dem Asiatischen Verein in Hamburg oder der Bundesstelle für Außenhandelsinformation in Köln. Dazu brauchte es Vorbesprechungen in guten Restaurants.

Arnolds nächste Dienstreise sollte auf die Philippinen führen. Er mußte aus erster Hand herausfinden, wie gefährdet deutsche Investitionen dort waren. Vielleicht sollten sie ein generelles Stop-Zeichen für dieses Land auf ihre Web-Seite setzen.

Schon wenige Wochen nach seiner Rückkehr aus Südafrika zahlte ihm der "Brunnen der scheuen Gazelle" einen vierstelligen Dividendenbetrag aus. Gold trägt keine Zinsen, hatte er immer geglaubt.

Der Kurs seiner Goldminen-Aktie wurde weder im "Handelsblatt" noch in der "International Herald Tribune" aufgeführt. Er konnte ihn nur im Teletext des Bayerischen Fernsehens finden. Er erwischte sich dabei, daß er jeden Abend, wenn er nach Hause kam, als erstes die Fernbedienung in die Hand nahm. Diese Erfahrung vermittelte ihm mehr als alles andere die Wichtigkeit der Computerkommunikation. Paul hatte einen Internetanschluß auf Arnolds PC legen lassen, und mit Pauls Hilfe fand er die Webseite mit den Schlußkursen der Johannesburger Börse.

Was Arnold nervös machte, waren die Schwankungen des Goldpreises. Er sah immer öfters die Telebörse und entwickelte geradezu väterliche Gefühle für den Moderator Raimund Brichta und sein verhaltenes Lächeln.

Trotz des Optimismus der ntv-Crew gab Arnold dem Goldpreis keine gute Prognose. Einen Tag nach dem Ende der Spekulationsfrist verkaufte er seine Hartebeestfountain mit einem Gewinn von etwa zwölf Prozent. Zwischendurch hatte das Papier schon mal höher aber auch bereits in der Verlustzone notiert. Arnold entschloß sich, den gesamten Erlös in Aktien der Hongkonger Firma Peregrine Investments Holdings zu investieren. Dabei handelte es sich um ein dynamisches Brokerhaus, das sich darauf spezialisierte, neue Aktien von Unternehmen der Volksrepublik China an der Hongkonger Börse zu plazieren. China gehörte die Zukunft, nicht Südafrika. Peregrine Investments konnte man einfach liegen lassen, ohne täglich den Kurs zu verfolgen.

Im Asian Wall Street Journal las Arnold, daß eine weltumspannende Schmugglerorganisation, in die die Zweite Sektion des Militärischen Abschirmdienstes in Peking verwickelt war, aufgeflogen war. Der oberste Drahtzieher war nach Kanada entwichen, aber es gab viele Verhaftungen und sogar zwei schnell gefällte Todesurteile.

Ein paar Tage später, als er zu Hause den Briefkasten aufschloß, weil er eine Brokerabrechnung erwartete, sah er einen pastellrosa Briefumschlag. Die Anschrift war in großen, fröhlichen Buchstaben aneinandergereiht, die sein Herz heftig schlagen ließen. Auf dem kleinen schwarzen Poststempel las er unterhalb von zwei chinesischen Schriftzeichen den Ortsnamen Chongqing, die amtliche Schreibweise für Tschungking. Noch im Hausflur riß er den Umschlag auf. Er enthielt ein Dutzend Farbfotos, die er in Südafrika aufgenommen hatte, und einen Bogen rosa Briefpapier mit Rosenmuster.

"Lieber Arnold," schrieb sie, "das Geburtstagsfrühstück in Port Elizabeth war für mich einer der schönsten Augenblicke  meines Lebens. Ich habe mich so behütet gefühlt. Ich weiß, daß du in Südafrika nicht gefunden hast, was du gesucht hast. Das war Schicksal. Wenn du das nächste Mal nach China kommst, melde dich. Ich arbeite jetzt wieder ständig hier. Die Telefonnummer meiner Mutter hat sich nicht geändert."