Der verbotene Schriftsteller Walther Kabel (1878-1935)

Einer der meistgelesenen Volks-Schriftsteller der Zwanziger Jahre, Walther Kabel, der fünfzehn Jahre lang in Berlin jede Woche eine neues Werk auf den Markt brachte, ist aus dem Gedächtnis der Nachwelt verschwunden. Es gibt bisher keine Internet-Webseite über ihn, keine Lebensgeschichte, kein Werksverzeichnis, keine Neuauflage, kein Reprint, nichts. Selbst die unerschöpfliche Webseite "Antiquario", auf der man Tausende von vergessenen Autoren wiederfindet, weiß nichts von ihm.

Dabei ist Kabel mit seinen Spätwerken ein exemplarischer Repräsentant des Expressionismus in der deutschen Literatur, allerdings ohne sich dem Welterlösungs-Pathos eines Georg Kaiser anzuschließen.

Wie manche seiner bekannteren Kollegen wurde Walther Kabel ein Opfer des Nationalsozialismus, ist aber nie rehabilitiert worden. Als persönlicher Widersacher des Reichspropagandaministers Joseph Goebbels wurde er zu Unrecht als Schmutz-und-Schund Autor verurteilt, seine Werke verboten, er selber mit Schreibverbot belegt. Verbittert und im Elend starb er im Mai 1935 in Klein Machnow bei Berlin durch eine Kugel - höchstwahrscheinlich von eigener Hand.

Es gibt fast keine lebenden Zeitgenossen mehr, die sich erinnern können, den Autor damals gelesen zu haben. Aber wem er in die Hände fiel, für den bleibt er unvergeßlich. Der deutsche Science-Fiction-Autor Herbert W. Franke, Jahrgang 1927, erinnert sich daran, daß er als Kind Kabels verbotene Bücher nachts mit der Taschenlampe unter der Bettdecke las. Ihr Titel ist ihm bis heute gegenwärtig: "Olaf Karl Abelsen - Abenteuer abseits vom Alltagsweg, eine Serie, die mich sehr beeindruckt hat und mir auch heute noch bemerkenswert erscheint." (nach www.phantastik-news.de).

Ganz ähnlich erging es mir, dem Herausgeber dieser Webseite. Wie es dazu kam, mitten im Krieg, als Kabel schon sechs Jahre tot und seine Bücher verfemt waren, das erzähle ich weiter unten, denn er ist hier die Hauptperson.

Walther August Gottfried Kabel (der Vorname wird oft auch ohne h geschrieben), wurde 1878 in Danzig geboren. Sein Vater war Berufssoldat und ließ den Sohn aufs Gymnasium gehen. Nach dem Abitur studierte er Jura und wurde Referendar am Gericht.

Schon während seiner Rekrutenzeit, die 1906 begann, oder kurz danach, gewann Kabel Kontakt zu einer der schillerndsten Persönlichkeiten des ersten Drittels des letzten Jahrhunderts: Dem Unternehmer Max Lehmann, der die "Berliner Druck- und Verlagsgesellschaft" leitete und sie ab 1909 unter dem neu entworfenen Namen "Verlag moderner Lektüre" zu einem der erfolgreichsten Häuser auf dem Gebiet der Trivialliteratur entwickelte. Was immer Publikums-Erfolg versprach - Zeitschriften, Romanhefte, Taschenbücher - Max Lehmann brachte es auf den Markt, und Walther Kabel sollte eine Stütze des Unternehmens werden.

Sollte es jemals dazu kommen, daß die Geschichte der Beziehung Walther Kabels zu Max Lehmann aus Quellen dokumentiert wird, so dürfte sich erweisen, daß Lehmann Kabels Dämon wurde. Anfangs mag der unbekannte junge Autor in Lehmanns Verlag eine Spielwiese für seine ersten Schreibversuche gefunden haben, später muß die Bindung des überaus produktiven Autors an der Verlag für Walther Kabel eine Fron geworden sein, wie für Karl May das Schreiben für den betrügerischen Verleger Münchmeyer, wenn vielleicht auch nicht ungern.

Im August 1907 startete der Verlag eine wöchentliche Heftreihe im "Max und Moritz"-Stil, der er den Titel "Jungens-Streiche" gab. Die 32 Seiten starken Ausgaben versprachen "Rüpeleien, Geheimnisse und Abenteuer unserer Jugend."  In dieser Publikation dürften die ersten Texte Walther Kabels erschienen sein. Nachgewiesen ist, daß er für die Fortsetzung dieses Projekts, die kleinformatige Heftreihe "Männe und Max" unter dem Pseudonym Walther Neuschub über fünfzig Titel verfaßt hat, die der Verlag wiederholt nachgedruckt hat, auch als der Autor selbst schon mit Publikationsverbot belegt war.

Am ersten Weltkrieg nahm Walther Kabel als Frontoffizier teil. Sein Verleger gründete aus patriotischer Begeisterung eine Romanheftserie "Das Eiserne Kreuz", für die ihm der Leutnant Kabel gewissermaßen aus der Etappe heraus die ersten elf Titel schrieb. Unter dem Pseudonym W. Belka. Dann verstummte der Kriegsberichterstatter. Aus seinem Spätwerk wissen wir, daß er den Wahnsinn des Krieges schnell begriff und darunter litt.

Als der Frieden ausbrach, entdeckte Verleger Lehmann die Wonnen der erotischen Literatur und brachte "Intime Geschichten" als "Skizzen aus dem Leben" heraus. Angesichts der verklemmten Erotik in Kabels späten Romanen ist es kaum vorstellbar, daß der unermüdliche Schreiber Kabel auf diesem Gebiet den Nerv des Marktes traf. Er glaubte wohl selber nicht daran, denn die Titel, die er für diese Reihe schrieb, veröffentlichte er unter dem Decknamen M.E.Schugge.

Ein Achtungserfolg wurde sein erster langer Kriminalroman, "Das Haus am Mühlengraben". Das Buch wurde so gut aufgenommen, daß Lehmann ihm anbot, Herausgeber und Hauptverfasser einer wöchentlichen Romanheft-Reihe zu werden, die unter dem Titel "Der Detektiv" gestartet wurde.

Im Gegensatz zu heutigen Serien wurden Romanhefte in der Weimarer Zeit im Klein Oktav-Format veröffentlicht (11,5x15,5 cm), waren also so klein, daß man sie ungeknickt in die Tasche stecken konnte. Bei einem Umfang von 64 Seiten waren sie ganzseitig in winziger Frakturschrift bedruckt, ohne die heute bei Romanheften übliche Seitenaufteilung in zwei Spalten.

Bereits 1921 wurde der Serientitel "Der Detektiv" umgeändert  in "Harald Harst - Aus meinem Leben." Als Verfasser-Pseudonym wählte Kabel den Namen Max Schraut, eine Figur die zugleich der Ich-Erzähler dieser Hefte ist. In den Jahren bis 1933 verfaßte Kabel nach und nach 396 Romanhefte für diese Reihe.

In ihrer Zeit kamen sie gut an. Ein Mitarbeiter der "Basler Zeitung Online" erinnert sich: "Ich habe Glück gehabt und viel von einem deutschen Autor gelesen. Er hieß Walter Kabel und produzierte jede Woche einen Krimi - eine bemerkenswerte Leistung. Sie handelten von zwei Privatdetektiven: Harald Harst und Max Schraut. Sie waren in sehr gutem Deutsch geschrieben - was man von anderen Heften nicht behaupten konnte. Der Kiosk an der Schiffslände, an dem ich die Kabelschen Krimis in Basel kaufte, existiert längst nicht mehr."

Heute findet man einzelne dieser Detektiv-Hefte in Internetantiquariaten (wie abebooks.de) für 29 Euro das Stück. Ein Angebot, das Sammler interessieren dürfte. Von der Qualität her heben sie sich noch nicht von der Masse der Trivialliteratur ab.

Mit der Produktion von 64 Druckseiten pro Woche war Kabels Produktivität noch lange nicht ausgereizt. Im Stil von Karl Mays Kolportage  "Das Waldröschen" verfaßte er einen Roman in sechzig Lieferungen: "Der Goldschatz der Azoren". An Abenteuerlichkeit der Handlung und Tempo des Szenenwechsels - Kabel nimmt hier die Technik schneller Filmschnitte vorweg - übertrifft er Karl May, erreicht aber nicht dessen Humor und Besinnlichkeit.

Vielleicht ist es diese Unzulänglichkeit des "Goldschatzes der Azoren", die Otto Kreiner noch 1978 urteilen ließ: "Harst war jene Serie, mit der sich Kabel am meisten identifizierte. In die er all das Persönliche hineinlegte, das ihm ein Gott in 'richtigen' Büchern zu sagen verwehrte."

Diesem Urteil kann ich mich absolut nicht anschließen. Auch nicht der  profunde Kenner der populären Unterhaltungsliteratur in Deutschland, Heinz J.Galle, der in seinem Werk "Volksbücher und Heftromane" die spätere Abelsen-Buchreihe mit den Worten rühmt:  "Jeder Band ist noch heute mit Genuß zu lesen."

Ich selber sehe in allem was Kabel bis 1929 schrieb nur Fingerübungen zu seinem Spätwerk "Olaf K. Abelsens Abenteuer abseits vom Alltagsweg", das Lehmanns "Verlag moderner Lektüre" in fünfzig Taschenbüchern zu je 160 bis 190 Druckseiten herausbrachte. Das sind die Arbeiten, die ich für Kabels 'richtige Werke' halte.

Innerhalb von fünf Lebensjahren schuf Walther Kabel ein Roman-Werk von mehr als achttausend Druckseiten über die Abenteuer eines rund um den Erdball unschuldig Verfolgten, eines Vorläufers des unsterblichen "Doktor Kimbel auf der Flucht".

Fünfzig Bücher in fünf Jahren - das war eine gewaltige und eine Gewalt-Leistung. Faktisch erstellte er fast jeden Monat ein abgeschlossenes Manuskript von 150 Schreibmaschinenseiten, zusätzlich zu seinen sonstigen Unternehmungen.

Es wäre aufschlußreich, Unterlagen über den Arbeitsstil Walther Kabels aufzufinden. Von Karl May weiß man, daß er Nacht für Nacht zwanzig Blätter mit seiner klaren Handschrift füllte. Wie bewältigte Kabel sein ungeheures Pensum? Diktierte er? Einem oder einer anderen? Sprach er sich seine Sätze selber vor? Tippte er sie in eine bullige Büro-Schreibmaschine? Rauchte er dabei, obwohl er sich im Ersten Weltkrieg ein Lungenleiden zugezogen hatte?

Daß diese Buchreihe für den Autor etwas ganz Besonderes - von seinen Heftromanen Abgehobenes  - werden sollte, erkennt man schon daran, daß er sie nicht unter seinem eigenen Namen publizierte, der mit der Pop-Literatur-Szene verwoben war, sondern die Fiktion schuf, es handle sich um Übersetzungen aus dem Schwedischen. Diese Täuschung gelang so wirkungsvoll, daß die Preußische Staatsbibliothek heute noch ein Mikrofiche über Abelsen in der Abteilung für Schwedische Literatur führt.

Für mich waren Walther Kabels Abelsen-Abenteuer der stärkste Lese-Eindruck meiner Kindheit. Lesen und Schreiben hatte ich mir schon mit vier Jahren beigebracht, nicht weil ich frühreif gewesen wäre - ich bin eher ein Spätentwickler - sondern aus Spieltrieb, so wie andere Kinder mit Bauklötzen Straßenzüge zusammenstellen. Das Instrument, das mir dieses Spiel ermöglichte, war die unverwüstliche Büro-Schreibmaschine meines Vaters, eine Underwood, auf der er als Notar in einer abgelegenen Kleinstadt in Lettgallen nur selten etwas zu tippen hatte. Ich umso mehr. Und die Underwood überstand es.

Das Kriegsjahr 1941 erlebte ich als Gast in der polnischen Stadt Posen, die damals von den Deutschen okkupiert war. Die meisten meiner Mitschüler in der zweiten Volksschulklasse - deutsche Kinder - hatten martialische Berufsvorstellungen, wollten Flugzeugführer oder Panzerfahrer werden. Ich dagegen war fest entschlossen Schriftsteller zu werden. Über das Lesen von Kinderbüchern war ich damals bereits hinausgewachsen, aber für Bildungsliteratur (von Fontane bis Goethe) war ich noch zu jung, denn mir fehlten die Hormone, die das Weltbild eines Erwachsenen formen. Mein Lesehunger fand kein angemessenes Futter.

Ein Onkel von mir, der Straßenbahnfahrer war und mich manchmal auf den Führerstand mitnahm, wo ich seine Geschicklichkeit im Umgang mit Bremse und Beschleunigungspedal bewunderte, wußte um meine Berufsabsichten und Lesenöte. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit steckte er mir drei "richtige" Bücher zu, die mein Vater als Jurist keinesfalls zu Gesicht bekommen durfte, denn es war strafbar, sie zu besitzen.

Noch heute erinnere ich mich zum Teil wortgetreu an den Inhalt der drei Romane. Im ersten hangelt sich ein zu Unrecht verurteilter Häftling - der Titelheld Olaf Karl Abelsen - an einer Hochspannungsleitung aus einem schwedischen Hochsicherheitsgefängnis. Im zweiten entdeckte der Erzähler eine unterseeische Höhle voll blinder Krabben - wie man sie heute auf Lanzarote besichtigen kann, und im dritten lenkt er ein Boot in Begleitung einer spärlich bekleideten Dame durch den Ausbruch eines Vulkans im Pazifischen Ozean. (Das ist der auf dieser Webseite neue herausgebrachte Roman "Malmotta, das Unbekannte", den ich heute noch für ein wundervolles Kinderbuch halte, stimmungsvoller als "Sigismund Rüstig" oder "Die Schatzinsel").

Mein kindliches Gemüt kam hier zum ersten Mal mit etwas Geschriebenem in Kontakt, das ich ungeheuer spannend fand. So konnte man, so mußte man erzählen, lernte ich hier. Leider haben wir die Stadt mit der aufregend klingelnden Straßenbahn bald wieder verlassen, und ich traute mich nicht, die verbotenen Bücher ins Handgepäck zu stecken.

Wohin es mich später auch verschlug, ich versuchte immer wieder, weitere Abelsen-Romane aufzuspüren, fünfundsechzig Jahre lang ohne Erfolg. Der Autor schien verschollen zu sein.

In jüngster Zeit werden einzelne seiner Bücher, die Krieg und Verfolgung überstanden haben, durch Nachlaß-Auflösungen in Online-Antiquariate geschwemmt. Dadurch gelang es mir, Werke von ihm aus allen seinen Schaffenszeiten zu erwerben. Vom "Goldschatz der Azoren" über die "Harald-Harst" Detektiv-Hefte, bis hin zu den Abelsen-Taschenbüchern, die mich als Kind begeistert hatten.

Ein Urteil über die literarische Bedeutung Kabels maße ich mir nicht an. Das kann sich jeder Leser persönlich bilden, der sich die auf dieser Webseite wieder aufgelegten Bücher auf seinen Computer herunterlädt.

Wenn ich seine Thriller heute lese, so sind sie nicht mehr die Quelle der Inspiration, die sie für den Siebenjährigen waren. Dafür überrascht mich die Entwicklung und Reifung seiner schriftstellerischen Gestaltungskraft auf dem Wege vom "Goldschatz" bis zu den "Abenteuern". Während Kabels Detektiv-Hefte noch mit den Spelzen schnell gedroschener Trivialliteratur behaftet sind - wie etwa dem augenzwinkernden Anbandeln mit dem Einverständnis des Lesers - erarbeitet Kabel sich in den Abelsen-Abenteuern eine neue, reportagehafte Schreibweise, bis hin zu Ausbrüchen in einen repetetiven Telegramm-Stil. Gerade Band 40 der Abelsen-Reihe "Im Niemandsland der Galapagos" dokumentiert diese Technik besonders gut.

Vom Ausdruck her steht die Schilderung des Taifuns im Abelsen-Roman "Malmotta - das Unbekannte " dem Gedicht des Expressionisten Ernst Stadler "Fahrt über die Kölner Rheinbrücke bei Nacht" näher als Kabels älteren Detektiv-Heften.

Bei einer Produktion von fünfzig Titeln in fünf Jahren sind Qualitätsunterschiede von Band zu Band unvermeidlich. Doch auch die schwächeren lesen sich nicht blasser als Karl Mays "Old Surehand"-Romane.  Welches die stärksten sind, vermag ich noch gar nicht zu erkennen, da ich erst ein Drittel der fünfzig Abelsen-Abenteuer aufgestöbert habe. Zwei davon stelle ich hier vor. An der Digitalisierung von zwei weiteren arbeite ich noch.

Eine Voraussetzung für Kabels Erfolg in den Jahren der Weltwirtschaftskrise von 1929 lag darin, daß er seine Leser in exotische Abenteuer-Welten entführten, abseits des tristen Arbeitslosen-Alltags. (Die auf dieser Webseite vorgestellten Romane spielen beide im Pazifischen Ozean.) Heute wird dieses Unterhaltungs-Bedürfnis durch das Fernsehen abgedeckt, sowohl durch Reisereportagen aus allen fünf Kontinenten, als auch durch Fernsehfilme der Sorte "Verschollen im Goldenen Dreieck", deren Dramaturgie den Romanen Kabels durchaus kongenial ist. So ersetzt und verdrängt ein neueres Medium ein älteres.

Wenn man bedenkt, wie oft die Abenteuerromane des "Quatermain"-Schöpfers Rider Haggard ("König Salomos Minen") verfilmt wurden, mutet es wie ein historisches Unrecht an, daß nicht ein einziges Abelsen-Abenteuer den Stoff zu einem Schwarzweiß-Film der Dreißiger Jahre hergab. Er selber scheint mit dieser Möglichkeit gerechnet zu haben, denn der Plot seines Nordafrika-Romans "Oase der Toten" ist auf dieses Ziel hin konstruiert. Es wäre wohl auch erreichbar gewesen, hätte der ehemalige Front-Offizier Kabel nicht 1933 sein NSDAP-Parteibuch aus Protest gegen die Parteilinie an Joseph Goebbels zurückgegeben.

Auch wenn Walther Kabels Werk nicht zum Vorrat ewiger deutscher Dichtung gehört, so hat dieser einst populäre Volksschriftsteller doch die Aufmerksamkeit nicht nur von Germanisten und Soziologen verdient, sondern aller Leser, die sich für das literarische Schaffen in der Weimarer Republik interessieren.